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Frühjahrskongress der SGAIM

«smarter medicine»: eine Erfolgsgeschichte?

Mit viel Enthusiasmus wurde die Kampagne «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» gestartet. Eine Studie, die die Bekanntheit und Umsetzung der Top-5-Empfehlungen für die ambulante medizinische Versorgung untersucht hat, zeigt nun, dass es noch viel zu tun gibt auf dem Weg zu einer besseren medizinischen Versorgung.

Die internationale Bewegung «Choosing Wisely», mit der sich Vertreter der Ärzteschaft gegen eine medizinische Überversorgung und für eine hochwertige medizinische Betreuung einsetzen, wurde in den USA vor rund 10 Jahren gestartet und hat sich in kurzer Zeit international verbreitet. Auch in der Schweiz haben sich medizinische Organisationen, Patienten- und Konsumentenorganisationen der Bewegung, die seit 2014 unter dem Namen «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» agiert, angeschlossen.1 Zeit also, um eine erste Bilanz zu ziehen.

Umsetzung der Empfehlungen ist schwierig zu quantifizieren

Im Mittelpunkt der Untersuchung des Instituts für Hausarztmedizin Zürich standen die Liste der Top-5-Behandlungen, respektive Untersuchungen, die in der ambulanten medizinischen Versorgung möglichst vermieden werden sollten, und die Frage, wie bekannt diese Empfehlungen bei den Ärzten sind.

Zu diesen gehören:

  • der Verzicht auf bildgebende Verfahren in den ersten sechs Wochen bei Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen;

  • die Durchführung eines PSA-Screenings auf ein Prostatakarzinom nur bei Patienten, mit denen zuvor der Nutzen und die Risiken diskutiert wurden;

  • keine Verschreibung von Antibiotika gegen unkomplizierte obere Atemwegsinfektionen;

  • kein präoperatives Thorax-Röntgen ohne klinischen Verdacht auf eine intrathorakale Pathologie;

  • keine Langzeittherapie mit Protonenpumpen-Inhibitoren (PPI) ohne regelmässige Überprüfung.

Wie eine Umfrage vier Jahre nach Publikation der Top-5-Liste zeigte, kannten ca. 80% der befragten 538 Allgemeinärzte die Empfehlungen. Rund 70% gaben an, vier der fünf Empfehlungen zu folgen.2 Davon ausgenommen war die Empfehlung zur Langzeittherapie mit PPI: Diese wurde nur von einem Drittel der Ärzte befolgt. Der Versuch, die Reduktion der medizinischen Interventionen zu messen, führte allerdings zu ernüchternden Ergebnissen. Während eine quantitative Beurteilung bildgebender Untersuchungen bei unspezifischen Rückenschmerzen und Thorax-Röntgen-Untersuchungen aufgrund von fehlenden Daten nicht möglich war, hatte die Häufigkeit der PSA-Screenings nach dem Beginn der Kampagne leicht zugenommen. Bei den ambulanten Antibiotikaverordnungen wurde gemäss der ANRESIS-Datenbank im Zeitraum zwischen 2015 und 2017 eine leichte Abnahme beobachtet. Deutlicher zeigte sich die Abnahme in einer Analyse der FIRE(«Family medicine ICPC Research using Electronic medical records»)-Datenbank. Allerdings wurde im gleichen Zeitraum wie die Bewegung «smarter medicine» die Strategie Antibiotikaresistenzen (StAR) des Bundesamtes für Gesundheit gestartet. «Ein potenzieller Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Antibiotikaverschreibungen und den Empfehlungen von ‹smarter medicine› ist möglich», sagte Prof. Dr. med. Stefan Neuner-Jehle vom Institut für Hausarztmedizin am Frühjahrskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM). Eindeutig beantworten liesse sich die Frage aber nicht. Keinen Effekt hatten die Empfehlungen auf die Häufigkeit der PPI-Verschreibungen: Diese nahmen auch nach dem Start von «smarter medicine» weiter zu.

Noch weit von den Zielen entfernt

Doch nicht nur in der Schweiz sind die bisherigen Ergebnisse der Bewegung enttäuschend. Auch in den USA, dem Ursprungsland von «Choosing Wisely», wurden drei Jahre nach dem Beginn bei fünf von sieben Empfehlungen keine signifikanten Veränderungen beobachtet.3 Es muss also noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden – und zwar bei den Ärzten wie auch bei den Patienten. Die Patienten besser zu informieren und eine kritische Grundhaltung zu fördern, ist ein wichtiges Ziel der Bewegung. Wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GfK Mitte 2018 bei 1000 Personen zeigte, hatten gerade einmal 6% von der Kampagne «smarter medicine» gehört.4

Warum die Kampagne vor allem vonseiten der Ärzte nicht wie gewünscht angenommen wird, ist zum Teil unklar. Als wichtige Barrieren nannte Neuner-Jehle u.a. die ungenügende Adhärenz zu Guidelines, die schwierige Kommunikation mit den Patienten, wenn es darum geht, eine Massnahme zu unterlassen, sowie psychologische Faktoren wie den Action Bias. Das sei wie im Fussball: «Der Torhüter hat die grösste Chance, einen Penalty zu halten, wenn er im Tor stehen bleibt», sagte Neuner-Jehle. Trotzdem springen Torhüter fast immer nach links oder rechts. Wenn sie stehen bleiben, fühlten sie sich schlecht. Ausserdem würde der Aktionismus von den Fans belohnt. «Haben Sie den Mut, manchmal weniger zu machen, anstatt in Aktionismus zu verfallen», forderte er die Zuhörer auf.

PPI-Verordnungen bei multimorbiden Patienten: zu häufig und zu lang

Um die ärztliche Verordnung von PPI ging es auch bei den freien Mitteilungen am SGAIM-Kongress. PPI gehören zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten weltweit.5 Oft wird die Behandlung im Rahmen eines Spitalaufenthalts begonnen. Je älter der Patient, desto häufiger wird ein PPI verschrieben. Eine klare Indikation ist allerdings nicht immer ersichtlich, wie u.a. eine Schweizer Untersuchung zeigte.6 Die Langzeittherapie mit PPI kann zu Komplikationen, wie Frakturen, Pneumonien oder bakteriellen gastrointestinalen Infektionen, führen und dadurch zusätzliche Gesundheitskosten verursachen.

Die von Dr. med. Carole Elodie Aubert vom Inselspital Bern und dem Berner Institut für Hausarztmedizin vorgestellte Studie untersuchte die Praxis der PPI-Verschreibungen bei älteren Patienten mit Multimorbidität und Polypharmazie. Dazu nutzten sie die Daten der randomisierten kontrollierten OPERAM-Studie, die in Irland, Belgien, den Niederlanden und der Schweiz durchgeführt wurde, um die Verschreibungspraxis zu verbessern.7 In die Studie wurden ≥70-jährige Patienten eingeschlossen, die ins Spital eingewiesen wurden, mindestens drei Begleiterkrankungen aufwiesen und mit mindestens fünf chronischen Medikamenten behandelt wurden.

Wie die Untersuchung zeigte, waren 58% der 1879 Patienten mit einem PPI behandelt. Bei über der Hälfte (54%) der behandelten Patienten bestand gemäss ICD-10 und Komedikation eine Indikation für die Einnahme eines PPI, bei den übrigen 46% fand sich keine Indikation. Bei 80% der Patienten mit einer Indikation für eine PPI-Therapie wurde die Behandlung bei Spitalaustritt fortgesetzt. Vergleichbar hoch (78%) war der Anteil der PPI-Verschreibungen bei Entlassung bei den Patienten ohne Indikation für eine PPI-Therapie. Von den 42% der Patienten, die bei der Spitaleinweisung keine PPI-Therapie hatten, bekamen 20% bei Entlassung neu einen PPI, davon 60% ohne ersichtliche Indikation. Dagegen bestand bei 48% der 80%, die ohne eine PPI-Therapie aus der Spitalpflege entlassen wurden, eine potenzielle Indikation für eine PPI-Therapie.

Wie das 1-Jahres-Follow-up zeigte, wurde die PPI-Therapie bei 30% der 59%, die bei Spitalaustritt mit einem PPI behandelt worden waren, später gestoppt. Von den 41% ohne PPI bei Spitalentlassung nahmen nach 12 Monaten 14% neu einen PPI ein. Die PPI-Langzeittherapie war mit einer signifikanten Zunahme der Rehospitalisationen um 30% innerhalb eines Jahres assoziiert. Ein erhöhtes Risiko für Rehospitalisationen aufgrund von gastrointestinalen Blutungen oder Ulzerationen nach dem Absetzen der PPI-Therapie konnte in der Studie nicht gezeigt werden.

Frühjahrskongress der SGAIM, 19. bis 21. Mai 2021

1 smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland. Einsehbar unter: www.smartermedicine.ch 2 Selby K et al.: How do Swiss general practitioners agree with and report adhering to a top-five list of unnecessary tests and treatments? Results of a cross-sectional survey. Eur J Gen Pract 2018; 24: 32-8 3 Rosenberg A et al.: Early trends among seven recommendations from the Choosing Wisely Campaign. JAMA Intern Med 2015; 175: 1913-20 4 Häflinger-Berger B et al.: Mehr ist nicht immer ein Plus. Gemeinsam entscheiden! Schweiz Ärzteztg 2018; 99: 1401-3 5 Masclee GM et al.: A benefit-risk assessment of the use of proton pump inhibitors in the elderly. Drugs Aging 2014; 31: 263-82 6 Muheim L et al.: Potentially inappropriate proton-pump inhibitor prescription in the general population: a claims-based retrospective time trend analysis. Therap Adv Gastroenterol 2021; 14:1756284821998928 7 Blum MR et al.: Optimizing Therapy to Prevent Avoidable Hospital Admissions in Multimorbid Older Adults (OPERAM): cluster randomised controlled trial. BMJ 2020; 374: n1585

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