
Ein Versuch mit Phytotherapie lohnt sich auch bei Tinnitus
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Für die Behandlung von Ohrgeräuschen und Hyperakusis steht eine Reihe pflanzlicher Arzneimittel zur Verfügung. Eingesetzt werden insbesondere durchblutungsfördernde, entzündungshemmende und antioxidativ wirkende Phytotherapeutika sowie pflanzliche Präparate zur Behandlung der häufigen psychischen Begleitprobleme. PD Dr. med. Andreas Schapowal, Präsident der Schweizerischen Tinnitus-Liga und niedergelassener HNO-Arzt in Landquart, erläuterte in einem Vortrag einige wesentliche Aspekte zu Erkrankung, Diagnose und Therapie.
Keypoints
Müssen ototoxische Medikamente (Antibiotika, Schleifendiuretika, Salicylate und Zytostatika) verschrieben werden, empfiehlt es sich, dem Patienten bereits zur Prophylaxe ein Ginkgo-biloba-Präparat zu geben.
Die häufigen psychischen Komorbiditäten, die Ohrgeräusche begleiten, müssen immer miterfasst und mittherapiert werden.
Die Leitlinien empfehlen, den akuten Tinnitus mit hoch dosiertem Kortison zu behandeln und den chronischen Tinnitus mit Verhaltenstherapie.
Für die phytotherapeutische Behandlung des akuten Tinnitus eignet sich in erster Linie einer der zugelassenen standardisierten Ginkgo-biloba-Extrakte.
Für die Behandlung psychischer Komorbiditäten eignen sich je nach Symptomatik, die im Vordergrund steht, Heilpflanzen mit beruhigenden, antidepressiven und/oder anxiolytischen Effekten.
In schweren Fällen kann eine stationäre Behandlung sinnvoll sein.
Die Tinnitusklinik in Chur ist die einzige Institution in der Schweiz, die unabhängig vom Versicherungsstatus eine stationäre Behandlung von Tinnituspatienten mit psychischer Komorbidität anbietet.
Tinnitus ist weit verbreitet: 15% der Schweizer Bevölkerung haben Ohrgeräusche. Unter den über 65-Jährigen ist sogar jeder Vierte betroffen, und jeder Zwölfte leidet an einer Geräuschüberempfindlichkeit. Tinnitus und Hyperakusis sind als Ohrerkrankung klassifiziert (Tinnitus H93.1, Hyperakusis H93.2).
Für die Ohrgeräusche gibt es viele Ursachen. «In der Regel ist der Grund eine Innenohrerkrankung, Cerumen oder eine Mittelohrentzündung», erläuterte Schapowal. Manchmal kann auch eine Dysfunktion des Kiefergelenkes oder der Halswirbelsäule die Ursache sein oder, sehr selten, ein Gehirntumor oder eine Multiple Sklerose. Im Einzelfall müssen diese Probleme ausgeschlossen werden.
Abzugrenzen sind auch psychiatrische Erkrankungen wie akustische Halluzinationen und die Phonophobie, eine spezifische Angststörung auf bestimmte Geräusche. «Manchmal treten Tinnitus, Hyperakusis und Phonophobie auch zusammen auf», so der Referent. Generell muss bei Ohrgeräuschen immer auch das Gleichgewichtsorgan untersucht werden. Ein Morbus Menière liegt vor, wenn der Tinnitus zusammen mit Schwindel und einer Innenohrschwerhörigkeit auftritt.
Ototoxische Medikamente
Eine wichtige Rolle bei der Abklärung von Ohrgeräuschen nimmt die Medikamentenanamnese ein, denn es gibt eine Reihe ototoxischer Therapien. Dazu gehören Antibiotika, Schleifendiuretika und Zytostatika. «Die ototoxischen Mechanismen dieser Medikamente sind mittlerweile gut erforscht», so der HNO-Arzt. Aminoglykoside beispielsweise bilden in den Haarzellen Komplexe mit Membranlipiden und Eisenionen, wodurch Sauerstoffradikale entstehen. Der daraus resultierende oxidative Stress induziert die Bildung von Enzymen (Caspasen), die den programmierten Zelltod, also die Apoptose der Haarzellen auslösen können.1, 2 «Einmal abgestorben, wachsen die Haarzellen nicht mehr nach, sie lassen sich auch nicht wie Kopfhaare implantieren», erklärte der Referent.
Auch die Acetylsalicylsäure (ASS) ist ototoxisch. «Es macht daher nicht nur keinen Sinn, bei Tinnitus ASS zu verschreiben, sondern sie ist bei Ohrgeräuschen sogar kontraproduktiv», betonte Schapowal. In höherer Dosierung kann ASS Tinnitus und Schwerhörigkeit verursachen. In der kardiovaskulären Dosierung von 100mg ist ASS jedoch kein Problem.
«Muss ein ototoxisches Medikament verschrieben werden, empfiehlt es sich, schon präventiv einzugreifen, um Hörschäden zu vermeiden», führte er weiter aus. Zur Prophylaxe eignet sich z.B. ein standardisierter, zugelassener Ginkgo-biloba-Extrakt in einer Tagesdosis von 240mg.
Tinnitus möglichst früh behandeln
«In aller Regel können wir bei einer Störung oder Schädigung der inneren Haarzellen auch ein Absinken der Hörschwelle feststellen», erklärte der HNO-Spezialist. Deren Bestimmung erfolgt am besten mit einer Messung im Bereich von 25 bis 16000Hz. Bei Schädigung der inneren wie auch der äusseren Haarzellen ist die Spontanregeneration aber glücklicherweise gross. «Denn die meisten Schäden behebt der Körper bereits innerhalb von 48 Stunden von alleine», so Schapowal.
Der Tinnitus sollte dennoch immer so schnell wie möglich behandelt werden, da die Heilungschancen umso besser sind, je früher mit einer Therapie begonnen wird. Ein Notfall ist der Tinnitus allerdings nicht. Tritt er zum Beispiel kurz nach Mitternacht auf, reicht es, den Patienten am anderen Tag zum HNO-Spezialisten zu schicken, falls der Tinnitus dann noch fortbesteht.
Psychische Komorbidität mittherapieren
«Tinnitus ist nicht nur ein Innenohrproblem. Die Funktionsveränderungen betreffen ein ganzes Netzwerk: die gesamte Hörbahn, den Hörkortex und seine Nachbarregionen», so der Referent. Es besteht zudem eine Korrelation mit negativem Stress. Je stärker die Veränderungen sind, desto grösser sind die Probleme.
Ein grosses Thema bei Tinnitus sind die Begleitprobleme. Diese sind mitunter so belastend, dass sie massive soziale Folgen nach sich ziehen und zu Suizidalität führen können. Sehr häufig leiden Patienten mit Ohrgeräuschen an vegetativen Symptomen (z.B. Schlafstörungen, Erschöpfung, Nervosität, innere Unruhe), an kognitiven Beeinträchtigungen (z.B. Grübelneigung, Perseverieren, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme) und an affektiven Problemen (z.B. Reizbarkeit, emotionale Labilität).3, 4 «Bei einem stark ausgeprägten Tinnitus leidet die Mehrheit der Patienten zusätzlich an einer Depression und/oder einer Angststörung», so Schapowal. Auch bei weniger stark betroffenen Patienten im ambulanten Bereich sei der Anteil an Depressionen mit 10–30% und an Angststörungen mit 19% schon sehr hoch (Abb. 1). Er empfiehlt deshalb, bei allen Tinnituspatienten gleich zu Beginn einen standardisierten, psychometrischen Test durchzuführen.
«Die psychischen Probleme gilt es bei jedem Tinnituspatienten immer mitzubehandeln», sagte der Experte. «Denn sie verschwinden nicht von alleine, und ohne Behandlung der psychischen Komorbidität wird sich auch die Symptomatik des dekompensierten Tinnitus nicht verbessern.» Weil Ohrgeräusche ein so vielschichtiges Problem sind, ist jeder Tinnituspatient anders, weshalb die Therapie auf jeden Patienten individuell zugeschnitten werden muss.

Abb. 1: Psychische Probleme sind häufige Begleiterkrankungen bei Tinnitus (adaptiert nach Zirke et al.)3
Ganzheitlicher Ansatz bringt grössten Erfolg
Grundlage für die Behandlung ist eine fundierte Ursachenabklärung mit einer gründlichen ohrenärztlichen Untersuchung (Tab. 1). Den besten Therapieerfolg verspricht ein ganzheitlicher Ansatz, bestehend aus Allgemeinmassnahmen (z.B. konsequenter Lärmschutz, Vermeiden von Reizüberflutung, Stressabbau, Ausschalten von kardiovaskulären Risikofaktoren) sowie Psycho- und Pharmakotherapie. Die medikamentöse Standardtherapie des akuten Tinnitus besteht wie beim Hörsturz aus hoch dosiertem Kortison. «Zudem wird in Leitlinien empfohlen, alle psychischen und somatischen Komorbiditäten mitzubehandeln sowie bei Hörverlusten die Patienten eventuell mit Hörgeräten oder einem Cochlea-Implantat zu versorgen», so der Spezialist.

Tab. 1: Übersicht über die Tinnitusdiagnostik (nach A. Schapowal)
Ginkgo biloba und andere Heilpflanzen
Ein spezifisches Tinnitusmedikament wird in den Leitlinien indes nicht empfohlen, auch kein pflanzliches Arzneimittel. Für Phytotherapie besteht gemäss Schapowal sogar zum Teil eine Negativempfehlung. «Aus meiner 37-jährigen praktischen Erfahrung weiss ich aber: Ein Behandlungsversuch mit Phytotherapie lohnt sich bei Tinnituspatienten immer. Es lohnt sich, die Durchblutung und die Mikrozirkulation zu verbessern und freie Sauerstoffradikale herunterzuregulieren», erklärte er.
Als pflanzliches Mittel gegen Tinnitus eignet sich primär einer der zugelassenen standardisierten Ginkgo-biloba-Extrakte in der Tagesdosis von 240mg.5 Alternativ kann bei ausbleibendem Therapieerfolg oder bei Kontraindikationen für Ginkgo biloba gemäss Schapowal ein 10-tägiger Versuch mit dem tibetischen Arzneimittel Padmed Circosan® durchgeführt werden. Im Unterschied zu den Ginkgo-biloba-Extrakten, die – neben anderen Indikationen – offiziell für die Behandlung von Tinnitus zugelassen sind, ist Tinnitus im SL-Eintrag des tibetischen Mittels nicht als Indikation aufgeführt, sondern verschiedene Arten von Durchblutungsstörungen.
Die Phytotherapie bietet neben den Behandlungsmöglichkeiten des Tinnitus per se auch einige effektive Optionen, um die psychischen Komorbiditäten zu therapieren. Je nach Symptom, das im Vordergrund steht, können unterschiedliche Heilpflanzen die Beschwerden lindern. Ist jemand beispielsweise sehr nervös und angespannt, hilft laut Schapowal oftmals eine Pflanzenkombination aus Pestwurz, Baldrian, Passionsblume und Melisse (Relaxane®).7–9 Bei Schlafstörungen haben sich eine gute Schlafhygiene und die Pflanzenkombination aus Baldrianwurzel, Hopfenzapfen (Redormin® 500–1000mg) bewährt.10–12 Bei Depression und Angststörungen eignet sich ein Johanniskrautpräparat und, wenn vor allem die Angst im Vordergrund steht oder Johanniskraut kontraindiziert ist, alternativ auch Lavendelöl (Lasea® 80mg).13–18
Bei chronischem Tinnitus empfehlen Leitlinien in erster Linie eine kognitive Verhaltenstherapie.6 «Der Grund ist, dass diese Methode in einer Studie speziell bei Tinnituspatienten untersucht wurde», erläuterte der Referent. Das bedeute aber nicht, dass andere Arten von Psychotherapie nicht auch wirksam wären. Die Wahl der Methode sei in erster Linie davon abhängig, welche Art der Psychotherapie der Behandler beherrsche.
«Bei stark ausgeprägtem Tinnitus, schwerer Hyperakusis, Phonophobie und psychiatrischer Komorbidität kann im Einzelfall auch eine stationäre Behandlung sinnvoll sein», führte Schapowal aus und verwies bei dieser Gelegenheit auf die Tinnitusklinik in Chur (www.tinnitusklinik.ch). Sie bietet als einzige Institution in der Schweiz eine vom Versicherungsstatus unabhängige stationäre Behandlung an.

Abb.: Ein Behandlungsversuch mit Phytotherapie, z.B. mit einem standardisierten Ginkgo-biloba-Extrakt, lohnt sich bei Tinnituspatienten immer
Bericht:
Claudia Benetti
Medizinjournalistin
Quelle
34. Jahrestagung der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie, 21. November 2019, Baden
Literatur
1 Huth ME et al.: Mechanisms of aminoglycoside ototoxicity and targets of hair cell protection. Int J Otolaryngol 2011; 2011: 937861 2 Kranzer K et al.: A systematic review and meta-analysis of the efficacy and safety of N-acetylcysteine in preventing aminoglycoside-induced ototoxicity: implications for the treatment of multidrug-resistant TB. Thorax 2015; 70: 1070-7 3 Zirke N et al.: Tinnitus and psychological comorbidities. HNO 2010; 58: 726-32 4 Salviati M et al.: Tinnitus: clinical experience of the psychosomatic connection. Neuropsychiatr Dis Treat 2014; 10: 267-75
5 von Boetticher A: Ginkgo biloba extract in the treatment of tinnitus: a systematic review. Neuropsychiatr Dis Treat 2011; 7: 441-7 6 Cima RFF et al.: A multidisciplinary European guideline for tinnitus: diagnostics, assessment, and treatment. HNO 2019; 67(Suppl 1): 10-42 7 Gerhard U et al.: Die sedative Akutwirkung eines pflanzlichen Entspannungsdragées im Vergleich zu Bromazepam. Schweiz Rundschau Med Prax 1991; 80: 1481-6 8 Schellenberg R et al.: Pflanzlicher Tagestranquilizer Ze 185 und Oxazepam im klinischen und neurophysilogischen Vergleich bei Patienten mit psychovegetativen Beschwerden. Z Phytother 2004; 25: 289-95 9 Melzer M et al.: Fixed herbal drug combination with and without Butterbur (Ze 185) for the treatment of patients with somatoform disorders: randomized, placebo-controlled, pharmaco-clinical trial. Phytother Res 2009; 23: 1303-8 10 Brattström A: Scientific evidence for a fixed extract combination (Ze91019) from valerian and hops traditionally used as a sleep-induced aid. Wien Med Wochenschr 2007; 157: 367-70 11 Morin CM et al.: Valerian-hops combinatiion and diphenhydramine for treating insomnia: a randomized placebo-controlled clinical trial. Sleep 2005; 28: 1307-13 12 Koetter U et al.: A randomized, double blind, placebo-controlled, prospective clinical study to demonstrate clinical efficacy of a fixed valerian hops extract combination (Ze 91019) in patients suffering from non-organic sleep disorder. Phytother Res 2007; 21: 847-51 13 Linde K et al.: St John’s wort for depression. Cochrane Database Syst Rev 2005; 2: CD000448
14 Schrader E et al.: Hypericum treatment of mild-moderate depression in a placebo-controlled study. A prospective, double-blind, randomized, placebo-controlled, multicentre study. Human Psychopharmacol 1998; 13: 163-9
15 Schrader E: Equivalence of St John’s wort extract (Ze 117) and fluoxetine: a randomized, controlled study in mild-moderate depression. Int Clin Psychopharmacol 2000; 15: 61-8 16 Woelk H: Comparison of St John’s wort and imipramine for treating depression: randomised controlled trial. BMJ 2000; 321: 536-9 17 Brattstroem A: Long-term effects of St. John’s wort (Hypericum perforatum) treatment: a 1-year safety study in mild to moderate depression. Phytomedicine 2009; 16: 277-83 18 Kasper S et al.: Efficacy and safety of silexan, a new, orally administered lavender oil preparation, in subthreshold anxiety disorder – evidence from clinical trials. Wien Med Wochenschr 2010; 160: 547-56