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Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in der Praxis

<p class="article-intro">Die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von Patienten mit Gesundheitsproblemen stellt den behandelnden Arzt häufig vor Herausforderungen. Konflikte am Arbeitsplatz, Erwartungen der Patienten und zunehmende Kontrollen vonseiten der Kostenträger bringen ihn in Interessenkonflikte, Veränderungen der juristischen Rahmenbedingungen verunsichern. Wie findet er sich mit der Aufgabe zurecht?</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Basis f&uuml;r die Arbeitsf&auml;higkeitsbeurteilung bilden Kenntnisse &uuml;ber die Arbeitsanforderungen und eine realistische Einsch&auml;tzung der Leistungsf&auml;higkeit und Belastbarkeit.</li> <li>Arbeitsf&auml;higkeit ist das Produkt von zeitlicher Pr&auml;senz (bezogen auf das Anstellungspensum) und Leistungsf&auml;higkeit.</li> <li>Die neu zur Verf&uuml;gung stehenden Instrumente REP und SIM-Arbeitsf&auml;higkeitszeugnis beg&uuml;nstigen die berufliche (Wieder-)Eingliederung.</li> <li>Das Attestieren unterschiedlicher Arbeitsf&auml;higkeiten gegen&uuml;ber verschiedenen Akteuren ist ein No-Go.</li> </ul> </div> <p>Krankheitsbedingte Arbeitsausf&auml;lle, Arbeitsplatzkonflikte, Arbeitsplatzverlust und Invalidisierung bedeuten eine hohe Belastung f&uuml;r das Individuum und f&uuml;hren zu Kosten f&uuml;r Betriebe, Versicherer und die Volkswirtschaft. In der Regel kommt dem behandelnden Arzt die Aufgabe zu, den Zusammenhang zwischen einer Arbeitsabsenz (oder allenfalls einer reduzierten Leistung) und einer Gesundheitsst&ouml;rung (Krankheit oder Unfall) zu best&auml;tigen oder eben ein Arbeitsunf&auml;higkeitszeugnis auszustellen. Dieses ist in erster Linie ein Dokument, welches das Verh&auml;ltnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber kl&auml;rt, gleichzeitig dient es dem Arbeitgeber als Beleg zur R&uuml;ckforderung von Versicherungsleistungen (Krankentaggeld, Unfallversicherer). Der Arzt muss sich dabei grunds&auml;tzlich entscheiden, ob der Patient nun arbeitsunf&auml;hig ist oder nicht. W&auml;hrend eine solche Einsch&auml;tzung bei kurz dauernden und bei akuten gesundheitlichen Problemen in aller Regel keine Probleme bietet, ist die Beurteilung bei wiederholten oder lang dauernden Ausf&auml;llen, beim parallelen Auftreten von Gesundheitsst&ouml;rungen oder bei dominierenden Arbeitsplatzkonflikten oft schwierig. Hinzu kommt, dass sich die Prognose f&uuml;r eine R&uuml;ckkehr an den Arbeitsplatz mit zunehmender Dauer der Absenz, insbesondere bei voller Arbeitsunf&auml;higkeit respektive fehlender Pr&auml;senz, rasch verschlechtert. Selten k&ouml;nnen Mitarbeiterausf&auml;lle in Betrieben l&auml;ngerfristig kompensiert werden, ohne dass Stellenneubesetzungen notwendig werden, zudem sinkt die Unterst&uuml;tzungsbereitschaft bei fehlender Pr&auml;senz sowohl auf F&uuml;hrungsebene als auch bei den Arbeitskollegen rasch, und der K&uuml;ndigungsschutz bei Krankheit oder Unfall wirkt in der Schweiz nur kurz (Wartefrist 3 Monate nach OR). Das Fenster zum Ergreifen/Einleiten der richtigen Massnahmen ist demnach sehr schmal.<br /> An welchen Rastern soll sich der behandelnde Arzt orientieren? Wie wichtig ist eine Diagnose? Welche Hilfsmittel stehen zur Verf&uuml;gung? Wie geht er mit Arbeitsplatzkonflikten um? Wie unterst&uuml;tzt er die berufliche Eingliederung?</p> <h2>Arbeitsunf&auml;higkeit und Arbeitsf&auml;higkeit</h2> <p>Arbeitsunf&auml;higkeit (AUF) wird im Bundesgesetz &uuml;ber den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechtes folgendermassen definiert: &laquo;Die Arbeitsunf&auml;higkeit ist die durch eine Beeintr&auml;chtigung der k&ouml;rperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unf&auml;higkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare T&auml;tigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich ber&uuml;cksichtigt.&raquo;<sup>1</sup> Es ist demnach eine Kausalit&auml;t zwischen einer Beeintr&auml;chtigung und der Arbeitsabsenz zwingend. Dies muss dem attestierenden Arzt immer bewusst sein. Er ist derjenige, der diesen Sachverhalt kl&auml;ren muss, nicht der Patient oder der Arbeitgeber oder Dritte (z. B. Versicherungsmitarbeiter, Eingliederungsfachleute, Rechtsanw&auml;lte). Dagegen ist er nicht zust&auml;ndig f&uuml;r die Beurteilung der Erwerbsf&auml;higkeit, d. h. des &ouml;konomischen Schadens. Hier k&ouml;nnen insbesondere Probleme bei selbstst&auml;ndig erwerbenden Patienten auftreten. Die Teilarbeitsf&auml;higkeit wird als M&ouml;glichkeit klar benannt, wogegen die Bedeutung der Einsch&auml;tzung einer AUF f&uuml;r einen anderen Beruf oder Aufgabenbereich bei der beruflichen Eingliederung oder bei der Zumessung von Ausfallsentsch&auml;digungen im Falle einer Stellenk&uuml;ndigung liegt. Der Begriff der Arbeitsf&auml;higkeit ist dagegen nicht gesetzlich verankert, wird aber immer h&auml;ufiger im Zusammenhang mit der beruflichen Eingliederung im Sinne einer Orientierung an Ressourcen und nicht an Defiziten verwendet.</p> <h2>ICF-Framework als Modell f&uuml;r die Arbeitsf&auml;higkeitseinsch&auml;tzung</h2> <p>Die &laquo;Internationale Klassifikation der Funktionsf&auml;higkeit, Behinderung und Gesundheit&raquo;, ICF, liefert ein Framework, aus dem einerseits ein Codierungssystem, andererseits verschiedene Instrumente hervorgegangen sind, welche vor allem in der vergleichenden Forschung, in der Rehabilitationsmedizin, in der Beurteilung komplexer Auswirkungen medizinischer Gesundheitsprobleme (Stroke, Sch&auml;delhirntrauma u. &Auml;.) und in der F&ouml;rderplanung bei Jugendlichen mit Behinderungen Anwendung gefunden haben.<sup>2</sup> Das Framework wurde 2015 und in Folgeentscheidungen bundesgerichtlich explizit als Basis f&uuml;r die Beurteilung von Arbeitsf&auml;higkeiten bei somatoformen und vergleichbaren psychosomatische St&ouml;rungen erw&auml;hnt und im Verlauf auf die Folgen eines &laquo;Schleudertraumas&raquo; und zuletzt auf die Beurteilung s&auml;mtlicher psychischen St&ouml;rungsbilder ausgedehnt.<sup>3, 4</sup> Obwohl vom Bundesgericht nicht zwingend gefordert, gibt es keine Gr&uuml;nde, weshalb das Framework nicht auch bei (&uuml;berwiegend) somatischen St&ouml;rungen zur Anwendung kommen sollte.<sup>5</sup><br /> Das Framework beinhaltet in Bezug auf die Arbeitsf&auml;higkeitsbeurteilung drei wesentliche Elemente: die Ebene der Aktivit&auml;t (Wie ist die Leistungsf&auml;higkeit/Belastbarkeit?), die Ebene der Umweltfaktoren (Wie sind die Arbeitsanforderungen?) und die Ebene der Partizipation (Vergleich der Anforderungen mit der Belastbarkeit: Was passt, was passt nicht?). Diese werden durch die Beschwerden und die Funktionsf&auml;higkeit (Strukturen und Funktionen) sowie durch die personenbezogenen Faktoren beeinflusst (Abb. 1). Dies erscheint grunds&auml;tzlich einfach. Worin liegen dann die Schwierigkeiten?</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1906_Weblinks_lo_innere_1906_s7_abb1_klipstein.jpg" alt="" width="550" height="377" /></p> <p><strong>Stolpersteine bei der Arbeitsf&auml;higkeitseinsch&auml;tzung</strong><br /> In Rahmen einer Jahrestagung der Swiss Insurance Medicine (2011) und in den nachfolgenden Workshops wurden die Stolpersteine der beruflichen Eingliederung und der Arbeitsf&auml;higkeitsbescheinigung aufgearbeitet. H&auml;ufig vorkommende Umst&auml;nde sind:</p> <ul> <li>Zeugnis unter der T&uuml;re</li> <li>unklare Kommunikation, fehlende Abmachungen mit dem Patienten und mit ihm vereinbarte Ziele</li> <li>medizinischer Verlauf/verz&ouml;gerte Abkl&auml;rungen/ Fokus auf Diagnosen</li> <li>Verpassen der Zeitfenster f&uuml;r die Wiedereingliederung</li> <li>Rollenkonflikte</li> <li>fehlende Kenntnisse oder Bewertungen der Arbeitsanforderungen</li> <li>Unsicherheiten in der Einsch&auml;tzung der Belastbarkeit</li> <li>ungen&uuml;gende Kentnisse der gesetzlichen Voraussetzungen</li> </ul> <p>W&auml;hrend die ersten vier Stolpersteine das allgemeine &auml;rztliche Handeln, Kommunizieren, wohl auch die pers&ouml;nlichen Priorit&auml;tensetzungen und nicht zuletzt Organisations- und &ndash; leider verst&auml;rkt durch die neusten &Auml;nderungen der Tarifierung &ndash; Wertigkeitsstrukturen betreffen, betreffen die weiteren vier Stolpersteine typischerweise die AUF-Einsch&auml;tzung und werden nachfolgend diskutiert.</p> <p><strong>Rollenkonflikte</strong><br /> Auftraggeber bei einer kurativen Behandlung ist der Patient. Er kommt mit einem medizinischen Problem, das er gel&ouml;st haben m&ouml;chte, zum Arzt, dem er am meisten vertraut. Er vertraut ihm auch hinsichtlich der Beratung in Bezug auf die Arbeitsf&auml;higkeit. Wenn der behandelnde Arzt diese Beratung mit der gleichen Gewissenhaftigkeit erledigt wie die medizinische Beratung, macht er in der Regel selten etwas falsch. Kritisch wird es, wenn er mangels gen&uuml;gender oder nur einseitiger Informationen auf eine rein subjektive Einsch&auml;tzung abstellt. Nicht selten geschieht dies vermeintlich zum Wohl des Patienten und die Folgen treten sp&auml;ter hervor (z. B. Arbeitsplatzverlust, Chronifizierung, sekund&auml;re Gesundheitsst&ouml;rungen). Ein klares Bewusstsein &uuml;ber die eigene Rolle sowie klare Abmachungen mit dem Patienten (Mitwirkung, Unterst&uuml;tzung bei der Informationsbeschaffung, zeitlicher Rahmen) helfen gegen Rollenkonflikte; Instrumentalisierung ist dagegen weder konstruktiv noch angenehm. Kommen Anfragen vonseiten des Arbeitgebers, ist er der Auftraggeber, und entsprechende Angaben (z. B. zu den Arbeitsanforderungen) sollten bei ihm eingefordert werden. Dasselbe gilt bei Anfragen des Versicherers. Die Beantwortung geschieht unter Wahrung des Arztgeheimnisses, d. h. mit Entbindung durch den Patienten, und die Informationen werden auf die Kl&auml;rung des Sachverhaltes beschr&auml;nkt.</p> <p><strong>Fehlende Kenntnisse der Arbeitsanforderungen</strong><br /> Oft kennt die &auml;rztliche Beurteilung der Arbeitsf&auml;higkeit nur die Farben Schwarz und Weiss, alles oder nichts. So betr&auml;gt in 80 % der Arztzeugnisse die Arbeitsunf&auml;higkeit entweder 0 % oder 100 % . Hauptgrund daf&uuml;r sind mangelnde Kenntnisse der &Auml;rzte &uuml;ber die genauen Anforderungen und Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz ihres Patienten. Um eine schrittweise erfolgreiche Reintegration zu erm&ouml;glichen, sind Graut&ouml;ne wichtig. Das ressourcenorientierte Eingliederungsprofil (REP) erm&ouml;glicht eine &auml;rztliche Beurteilung der Ressourcen von Patienten, die l&auml;ngere Zeit nicht vollst&auml;ndig arbeitsf&auml;hig sind und &uuml;ber einen Arbeitsplatz verf&uuml;gen.<sup>6</sup> Die Anwendung des REP erfolgt nach einem klar definierten Ablauf: Der (an einer R&uuml;ckkehr des Mitarbeiters interessierte) Arbeitgeber erstellt mithilfe des Online-Tools REP (www.compasso.ch) ein berufliches Anforderungsprofil, welches der Patient zum behandelnden Arzt mitnimmt. Dieser f&uuml;llt f&uuml;r jede angef&uuml;hrte Anforderung aus, ob diese unter Ber&uuml;cksichtigung der vorliegenden Gesundheitsst&ouml;rung f&uuml;r den Patienten ausf&uuml;hrbar (&laquo;m&ouml;glich&raquo;), nur unter bestimmten Voraussetzungen (&laquo;teilweise m&ouml;glich&raquo;, Bedingungen k&ouml;nnen erg&auml;nzt werden) oder nicht ausf&uuml;hrbar (&laquo;nicht m&ouml;glich&raquo;) ist. Dieses Profil wird vom Arzt unterzeichnet und geht dann zur&uuml;ck an den Arbeitgeber, der pr&uuml;ft, wie und in welchem Umfang er den Patienten einsetzen kann. Das REP ersetzt nicht ein AUF-Zeugnis, weshalb &uuml;blicherweise basierend auf dem REP ein Zeugnis erstellt und abgegeben wird. Ziel des REP ist die F&ouml;rderung der Teilarbeitsf&auml;higkeit und der arbeitsplatzgerechten beruflichen Eingliederung sowie der Kommunikation zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arzt. Auftraggeber zum Vervollst&auml;ndigen eines REP durch den Arzt ist der Arbeitgeber. Bei vollst&auml;ndigem Ausf&uuml;llen wird der Arzt durch den Arbeitgeber mit CHF 100.&ndash; entsch&auml;digt (Abb. 2).<br /> Falls kein REP (oder kein bestehendes Anforderungsprofil des Arbeitsgebers) zur Verf&uuml;gung steht, sollten einerseits vom Patienten eine stichwortartige Beschreibung seiner Berufsbezeichnung und der wichtigsten vier Arbeitsaufgaben (einzufordernde Vorarbeiten des Patienten, der in Bezug auf die Erstellung eines Zeugnisses als Auftraggeber wirkt) sowie basierend darauf eine kurze Arbeitsanamnese erhoben werden, welche zumindest folgende Informationen enth&auml;lt:</p> <ul> <li>Vollzeit- oder Teilzeitanstellung (Anzahl Stunden pro Woche, Verteilung &uuml;ber die Woche)</li> <li>Festanstellung oder Stundenlohn</li> <li>Sicht des Patienten auf die in Bezug auf das Gesundheitsproblem schwierigsten Aufgaben/Umst&auml;nde</li> </ul> <p>In speziellen F&auml;llen kann auch auf das etwas aufwendigere Befragungstool WOCADO (WOrk CApacity estimation support for DOctors; www.wocado.ch) zur&uuml;ckgegriffen werden, bei dem nach einer Einstellung am PC der Patient direkt befragt wird.<sup>7</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1906_Weblinks_lo_innere_1906_s8_abb2_klipstein.jpg" alt="" width="800" height="249" /></p> <p><strong>Unsicherheiten bei Einsch&auml;tzung der Belastbarkeit</strong><br /> Die Einsch&auml;tzung sowohl der physischen als auch der psychischen Belastbarkeit stellt insbesondere bei wenig umschriebenen Krankheitsbildern, Multimorbidit&auml;t und chronischen Verl&auml;ufen eine Herausforderung dar. Nur bei umschriebenen Gesundheitsproblemen (z. B. starke Beweglichkeitseinschr&auml;nkung und Endschmerzen im Knie durch eine Kapselfibrose) besteht ein direkter Bezug zwischen Funktionsf&auml;higkeit (Flexion im betroffenen Knie aktiv nur bis 60&deg; m&ouml;glich) und Aktivit&auml;t (Arbeiten in kauernder oder kniender Position nicht m&ouml;glich, Treppensteigen und Gehen stark eingeschr&auml;nkt). In den meisten F&auml;llen muss die Belastbarkeit durch Vergleiche zu Alltagsaktivit&auml;ten (Schilderung des Tagesablaufs, arbeitsbezogenes Beschwerdebild, Beschreibung sozialer Interaktionen, Beobachtung im Wartezimmer etc.) und (m&ouml;glichst) objektive Befunde (&laquo;Schweregrad&raquo;) abgesch&auml;tzt werden. Bei zweifelhaften Beurteilungen k&ouml;nnen Zusatzabkl&auml;rungen wie eine EFL (Evaluation der arbeitsbezogenen funktionellen Leistungsf&auml;higkeit) oder neuropsychologische Tests weiterhelfen. W&auml;hrend die neuropsychologischen Abkl&auml;rungen im KVG vorgesehen sind, m&uuml;ssen EFL-Abkl&auml;rungen nach einem festen Tarif bei anderen Kostentr&auml;gern (KTG-Versicherer, IV oder Unfallversicherer) beantragt oder diesen empfohlen werden. Am Beispiel von chronischen R&uuml;ckenschmerzen wurden erhebliche Abweichungen zwischen der effektiv erhobenen Leistungsf&auml;higkeit beim Hantieren von Lasten, der empirischen &auml;rztlichen Einsch&auml;tzung und der Selbsteinsch&auml;tzung gefunden.<sup>8</sup> Die Abkl&auml;rung mittels EFL erm&ouml;glicht nebst der Beurteilung der Leistungsf&auml;higkeit eine Einsch&auml;tzung der Konsistenz und Leistungsbereitschaft.<sup>9</sup> Die neuropsychologischen Abkl&auml;rungen erlauben insbesondere die Einsch&auml;tzung der Abkl&auml;rungsqualit&auml;t.</p> <p><strong>Unsicherheiten bez&uuml;glich gesetzlicher Voraussetzungen</strong><br /> Die Involvierung verschiedener Gesetzeswerke, die wechselnden Interpretationen, die Unterschiede in der medizinischen und juristischen Ausdrucksweise sowie die unterschiedlichen Bestimmungen betreffend den Datenschutz im privat- und sozialrechtlichen Kontext verunsichern den niedergelassenen Arzt h&auml;ufig. Bei Fragen Dritter muss immer eine Vollmacht des Patienten vorliegen. Gegen&uuml;ber dem Patienten sollen Antworten transparent sein (der Patient kann diese einfordern). Im Grundsatz soll sich der Arzt auf die Beurteilung des medizinischen Sachverhaltes beschr&auml;nken. Wird auf fachfremde Probleme eingegangen, sollen diese entsprechend vermerkt werden. Oft l&auml;sst sich dabei kurzfristig nicht vermeiden, dass man &laquo;&uuml;ber den Zaun frisst&raquo;. Bei l&auml;ngeren Absenzen sollte es jedoch festgehalten werden, wenn ein anderes Fachgebiet ber&uuml;cksichtigt werden sollte (insbesondere bei Versicherungsanfragen). Soziale Kontextfaktoren sollen wohl erw&auml;hnt werden, jedoch klar abgegrenzt von den medizinischen Einschr&auml;nkungen und Ressourcen. Unsicherheiten gegen&uuml;ber der Beurteilung sollen ge&auml;ussert werden.<br /> Eine Arbeitsf&auml;higkeitseinsch&auml;tzung ist immer eine Ermessensfrage. Einzig ein gegen&uuml;ber verschiedenen Akteuren (Arbeitgeber, Taggeldversicherung, RAV, IV) abweichendes Arbeitsf&auml;higkeitszeugnis ist ein &laquo;No-Go&raquo;. Gerichtliche Verurteilungen von &Auml;rzten wegen Falschbeurkundung im Zusammenhang mit AUF-Zeugnissen waren ausschliesslich auf solche F&auml;lle beschr&auml;nkt. Vertiefende Informationen erhalten Sie &uuml;ber die in der Literatur am Ende des Artikels angegebenen Weblinks. F&uuml;r das Ausf&uuml;llen des SIM-Zeugnisses steht ausserdem ein Video-Tutorial zur Verf&uuml;gung.</p> <h2>Neues Arbeitsf&auml;higkeitszeugnis der SIM</h2> <p>Seit diesem Jahr ist ein speziell auf die berufliche Eingliederung und Beg&uuml;nstigung der Teilarbeitsf&auml;higkeit ausgerichtetes Arbeitsf&auml;higkeitszeugnis verf&uuml;gbar. Nebst einer mehr ressourcenorientierten Sichtweise (Arbeitsf&auml;higkeit vs. AUF), einer genaueren Bezeichnung der beruflichen Situation (insbes. Teilzeitt&auml;tigkeiten) und der Deklaration der Art der zur Verf&uuml;gung stehenden Arbeitsbeschreibung (REP, andere Quellen) wird eine klare Trennung von Pr&auml;senzzeit und Leistungsf&auml;higkeit (i. d. R. bezogen auf die angestammte T&auml;tigkeit) verlangt, und zwar in Form einer differenzierten Taggeldkarte. Auf der R&uuml;ckseite des SIM-Arztzeugnisses befinden sich ausserdem viele f&uuml;r das Ausf&uuml;llen n&uuml;tzliche Hinweise. Das Zeugnis ist auf der SIM-Homepage aufgeschaltet und wird in K&uuml;rze auch auf medforms.ch und compasso.ch verf&uuml;gbar sein.<sup>10</sup></p> <h2>Fallbeispiel</h2> <p>Vorstellig wurde ein 47-j&auml;hriger ungelernter Lagermitarbeiter und Staplerfahrer, der in einer Speditionsfirma, im gleichen Betrieb vollzeitig angestellt seit 12 Jahren, t&auml;tig war. Nach vereinzelten Kurzabsenzen infolge lumbaler R&uuml;ckenschmerzen litt er nun seit 5 Wochen unter starken lumbalen R&uuml;ckenschmerzen mit Ausstrahlungen beidseitig zum Ges&auml;ss. Er klagte &uuml;ber eine Zunahme der Schmerzen im Laufe des Tages, erwachte z. T. nachts beim Drehen mehrfach und f&uuml;hlte sich zunehmend m&uuml;de und unruhig. Die inzwischen eingeleitete Physiotherapie und die Behandlung mittels NSAR brachten eine vor&uuml;bergehende Linderung. Nach einer AUF von 1 Woche begann er mit seiner auf 50 % reduzierten Besch&auml;ftigung (am Arbeitsplatz umgesetzt halbtags, normale Aufgaben), was nach drei Tagen zu verst&auml;rkten Beschwerden f&uuml;hrte, weshalb er seither nicht mehr arbeitete.<br /> Die Laborwerte mit H&auml;matologie, Entz&uuml;ndungsparametern, Kreatinin und alkalischer Phosphatase sowie ein Urinstatus waren unauff&auml;llig; konventionelle R&ouml;ntgenbilder zeigten eine Osteochondrose der untersten beiden Lendenwirbelsegmente. Der Patient kam mit einem REP vom Arbeitgeber, der den Mitarbeiter gerne behalten m&ouml;chte; der Vorgesetzte &auml;usserte nach einem misslungenen Arbeitsversuch jedoch Zweifel an einer R&uuml;ckkehr in die angestammte Arbeitst&auml;tigkeit. Das erhaltene REP beschrieb eine circa zur H&auml;lfte stehend- gehende (l&auml;ngere Gehstrecken beim manuellen Konfektionieren, Datenerfassen), zur H&auml;lfte sitzende Arbeit (Stapler), mit regelm&auml;ssigem Hantieren von mittelschweren, selten von schweren Gewichten und seltenem Arbeiten in verdrehten, unergonomischen Positionen. Der Patient hatte z. T. Kundenkontakt und Bestellungen mussten teilweise sehr schnell umgesetzt werden. Der behandelnde Arzt notierte dann die M&ouml;glichkeit der Umsetzung und allf&auml;llige zu beachtende Einschr&auml;nkungen. Er reservierte sich die Konsultationszeit weitgehend f&uuml;r die Festlegung der Arbeitsf&auml;higkeit und f&uuml;llte das REP in Anwesenheit des Patienten aus. Zum Ausf&uuml;llen ben&ouml;tigte er circa 10 Minuten (Abb. 3).<br /> Begleitend zum REP versah der Arzt zudem das SIM-Arztzeugnis mit den erforderlichen Eintragungen (mit Verweis auf das REP betreffend die Angaben zur Berufst&auml;tigkeit). Er best&auml;tigte eine AUF bis zum aktuellen Zeitpunkt, dann eine vermehrte Pr&auml;senz von 4 auf 6 Stunden mit Leistungsreduktion gem&auml;ss den Angaben im REP. Es resultierte daraus eine Arbeitsf&auml;higkeit von 25 % f&uuml;r 2 Wochen, dann von 37,5 % f&uuml;r 1 Woche und danach, bei gutem Verlauf, eine rasche Wiederaufnahme der angestammten T&auml;tigkeitsdauer. Mit dem REP und dem Arztzeugnis schickte der Arzt eine Rechnung von CHF 100.&ndash; an den Arbeitgeber. Nach 5 Wochen meldete sich der Arbeitgeber: Der Patient ist zwar ganztags anwesend, wird aber beim Kommissionieren von Hand von schwereren Lasten noch entlastet und legt h&auml;ufiger Pausen ein. Man einigt sich auf eine vor&uuml;bergehende AF von 70 % f&uuml;r 3 Wochen und in der Folge auf den Versuch einer vollen AF (Abb. 4).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1906_Weblinks_lo_innere_1906_s9_abb3_klipstein.jpg" alt="" width="800" height="318" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1906_Weblinks_lo_innere_1906_s10_abb4_klipstein.jpg" alt="" width="750" height="371" /></p> <h2>Besondere Situationen</h2> <p><strong>Retrospektives AUF-Zeugnis</strong><br /> Ein retrospektives AUF-Zeugnis ist grunds&auml;tzlich ein No-Go, f&uuml;r kurze Perioden (Gr&ouml;ssenordnung drei Tage) jedoch vertretbar, z. B. bei bereits vorhergehender bekannter Problematik oder terminbedingter Verz&ouml;gerung einer Konsultation bei rechtzeitiger Kontaktnahme besteht ein Ermessensspielraum.</p> <p><strong>AUF-Zeugnis nach K&uuml;ndigung</strong><br /> Dieses ist nur in Ausnahmef&auml;llen statthaft, z. B. bei bereits vorausgegangener erheblicher Gesundheitsproblematik, welche unter normalen Bedingungen zu einem Arbeitsausfall gef&uuml;hrt h&auml;tte, oder bei akuten stressbedingten Einbr&uuml;chen. Letztere sollten aber in aller Regel zeitlich begrenzt werden (analog einer Trauer reaktion) und vor einer Fortf&uuml;hrung sollte gekl&auml;rt werden, ob tats&auml;chlich noch ein St&ouml;rungsbild mit Krankheitswert oder Konflikte dominieren, welche &uuml;blicherweise existieren, um ausgetragen zu werden.</p> <p><strong>&laquo;Arbeitsplatzbezogene AUF&raquo;</strong><br /> Es handelt sich dabei streng genommen nicht um eine Arbeitsunf&auml;higkeit, da keine (oder eine untergeordnete) Kausalit&auml;t zwischen der Arbeitsabsenz und der Gesundheitsst&ouml;rung besteht. Grunds&auml;tzlich gilt das Gleiche wie vorhergehend erw&auml;hnt. Das Abschieben auf eine (l&auml;nger dauernde) AUF ist f&uuml;r Arbeitgeber und Arbeitsnehmer oft eine bequeme Art, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Bei einigermassen stabilen Situationen kann der Arzt sich i. d. R. nicht auf eine Angst vor Verschlechterung des St&ouml;rungsbildes berufen, ohne dass L&ouml;sungen zwischen den Sozialpartnern gesucht worden sind. Beachtet werden sollte, dass im Falle einer rein arbeitsplatzbezogenen Problematik der Arbeitgeber keine Taggelder beanspruchen kann.</p> <p><strong>AUF in der Schwangerschaft</strong><br /> Schwangerschaft ist grunds&auml;tzlich keine Krankheit, sondern berechtigt die Schwangere zu einem Mutterschaftsurlaub und zur Wahrnehmung der F&uuml;rsorgepflicht durch den Arbeitgeber nach Mutterschaftsverordnung. Die FMH empfiehlt das Vorgehen durch den niedergelassenen Arzt.<sup>11</sup> Bei zus&auml;tzlicher Krankheit kann selbstverst&auml;ndlich trotzdem eine AUF entstehen und attestiert werden. Vorsichtig sollte allerdings bei unspezifischen Beschwerdebildern, wie zum Beispiel R&uuml;ckenbeschwerden, verfahren werden. Nicht selten f&uuml;hren solche Atteste zur Gewohnheit und zur &laquo;Verl&auml;ngerung&raquo; des Mutterschaftsurlaubes, was dann meist in der K&uuml;ndigung nach Wartefrist endet.</p> <p><strong>Suchterkrankung und Arbeitsunf&auml;higkeit</strong><br /> In einem aufsehenerregenden Grundsatzurteil legte das Bundesgericht im laufenden Jahr fest, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch eine Suchterkrankung zu einer IV-Rente berechtigen kann.<sup>12</sup> Allerdings d&uuml;rften die Bedingungen noch einige Korrekturen erfahren, weshalb im Allgemeinen immer noch davon auszugehen ist, dass eine Suchtkrankheit (mit angemessener Behandlung und Betreuung) &uuml;berwindbar ist.</p> <p><strong>Vertiefung</strong><br /> Nebst den unten erw&auml;hnten Links bietet Swiss Insurance Medicine verschiedene Vertiefungsm&ouml;glichkeiten in Form von Kursen, Tagungen und Brosch&uuml;ren. 2020 wird ausserdem ein gemeinsamer Kongress mit der Europ&auml;ischen Assoziation f&uuml;r Versicherungsmedizin (www.EUMASS-2020.eu) stattfinden, bei dem der Schwerpunkt auf die Anwendungsforschung und die praktische Umsetzung breiter versicherungsmedizinischer Themen gelegt werden wird.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> ATSG (2000) https://www.gesetze.ch/sr/830.1/830.1_001. htm ( Stand 2012) <strong>2</strong> ICF WHO (2001). https://www.who.int/ classifications/icf/en/ <strong>3</strong> BGE 141 V 281 (2015). http://relevancy. bger.ch/cgi-bin/JumpCGI?id=BGE_141_V_281 <strong>4</strong> Herzog- Zwitter I: Die pr&auml;zisierende Rechtssprechung des BGE 141 V 281 und die ICF. 2018 (https://www.svv.ch) <strong>5</strong> Jaeger J: Die Verwendung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) in der somatischen Begutachtung. Medinfo 2017/2 (Teil 1)/Medinfo 2018/1 (Teil 2) <strong>6</strong> Kaiser M et al.: Ressourcenorientierte Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. 2019. https://doi.org/10.4414/ saez.2019.17942 <strong>7</strong> Swiss Insurance Medicine (2018). https:// www.swiss-insurance-medicine.ch/de/arbeitsanforderungen. html <strong>8</strong> Oesch P et al.: Functional capacity evaluation: performance of patients with chronic non-specific low back pain without waddell signs. J Occup Rehabil 2015; 26: 257-66 <strong>9</strong> Meyer K et al.: Development and validation of a pain behavior assessment in patients with chronic low back pain. J Occup Rehabil 2016; 26: 103-13 <strong>10</strong> SIM (2019) https://www.swiss-insurance-medicine.ch/de/Arbeitsunf&auml;higkeit. html <strong>11</strong> FMH (2014) https://www.fmh.ch/ files/pdf21/Dossier_Mutterschutz_def.pdf <strong>12</strong> BGE (2019) https://www.bger.ch/files/live/sites/bger/files/pdf/de/9C_ 724_2018_2019_08_05_T_d_07_48_04.pdf</p> </div> </p>
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