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Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in der Praxis
Leading Opinions
Autor:
PD Dr. med. Andreas Klipstein, MSc
Facharzt PMR und Rheumatologie<br> AEH AG Zentrum für Arbeitsmedizin, Zürich<br> Pastpräsident SIM, Vorstand SGPMR<br> Militärstrasse 76, 8004 Zürich<br> E-Mail: klipstein@aeh.ch
30
Min. Lesezeit
19.12.2019
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<p class="article-intro">Die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von Patienten mit Gesundheitsproblemen stellt den behandelnden Arzt häufig vor Herausforderungen. Konflikte am Arbeitsplatz, Erwartungen der Patienten und zunehmende Kontrollen vonseiten der Kostenträger bringen ihn in Interessenkonflikte, Veränderungen der juristischen Rahmenbedingungen verunsichern. Wie findet er sich mit der Aufgabe zurecht?</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Basis für die Arbeitsfähigkeitsbeurteilung bilden Kenntnisse über die Arbeitsanforderungen und eine realistische Einschätzung der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit.</li> <li>Arbeitsfähigkeit ist das Produkt von zeitlicher Präsenz (bezogen auf das Anstellungspensum) und Leistungsfähigkeit.</li> <li>Die neu zur Verfügung stehenden Instrumente REP und SIM-Arbeitsfähigkeitszeugnis begünstigen die berufliche (Wieder-)Eingliederung.</li> <li>Das Attestieren unterschiedlicher Arbeitsfähigkeiten gegenüber verschiedenen Akteuren ist ein No-Go.</li> </ul> </div> <p>Krankheitsbedingte Arbeitsausfälle, Arbeitsplatzkonflikte, Arbeitsplatzverlust und Invalidisierung bedeuten eine hohe Belastung für das Individuum und führen zu Kosten für Betriebe, Versicherer und die Volkswirtschaft. In der Regel kommt dem behandelnden Arzt die Aufgabe zu, den Zusammenhang zwischen einer Arbeitsabsenz (oder allenfalls einer reduzierten Leistung) und einer Gesundheitsstörung (Krankheit oder Unfall) zu bestätigen oder eben ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis auszustellen. Dieses ist in erster Linie ein Dokument, welches das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber klärt, gleichzeitig dient es dem Arbeitgeber als Beleg zur Rückforderung von Versicherungsleistungen (Krankentaggeld, Unfallversicherer). Der Arzt muss sich dabei grundsätzlich entscheiden, ob der Patient nun arbeitsunfähig ist oder nicht. Während eine solche Einschätzung bei kurz dauernden und bei akuten gesundheitlichen Problemen in aller Regel keine Probleme bietet, ist die Beurteilung bei wiederholten oder lang dauernden Ausfällen, beim parallelen Auftreten von Gesundheitsstörungen oder bei dominierenden Arbeitsplatzkonflikten oft schwierig. Hinzu kommt, dass sich die Prognose für eine Rückkehr an den Arbeitsplatz mit zunehmender Dauer der Absenz, insbesondere bei voller Arbeitsunfähigkeit respektive fehlender Präsenz, rasch verschlechtert. Selten können Mitarbeiterausfälle in Betrieben längerfristig kompensiert werden, ohne dass Stellenneubesetzungen notwendig werden, zudem sinkt die Unterstützungsbereitschaft bei fehlender Präsenz sowohl auf Führungsebene als auch bei den Arbeitskollegen rasch, und der Kündigungsschutz bei Krankheit oder Unfall wirkt in der Schweiz nur kurz (Wartefrist 3 Monate nach OR). Das Fenster zum Ergreifen/Einleiten der richtigen Massnahmen ist demnach sehr schmal.<br /> An welchen Rastern soll sich der behandelnde Arzt orientieren? Wie wichtig ist eine Diagnose? Welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung? Wie geht er mit Arbeitsplatzkonflikten um? Wie unterstützt er die berufliche Eingliederung?</p> <h2>Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsfähigkeit</h2> <p>Arbeitsunfähigkeit (AUF) wird im Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechtes folgendermassen definiert: «Die Arbeitsunfähigkeit ist die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt.»<sup>1</sup> Es ist demnach eine Kausalität zwischen einer Beeinträchtigung und der Arbeitsabsenz zwingend. Dies muss dem attestierenden Arzt immer bewusst sein. Er ist derjenige, der diesen Sachverhalt klären muss, nicht der Patient oder der Arbeitgeber oder Dritte (z. B. Versicherungsmitarbeiter, Eingliederungsfachleute, Rechtsanwälte). Dagegen ist er nicht zuständig für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit, d. h. des ökonomischen Schadens. Hier können insbesondere Probleme bei selbstständig erwerbenden Patienten auftreten. Die Teilarbeitsfähigkeit wird als Möglichkeit klar benannt, wogegen die Bedeutung der Einschätzung einer AUF für einen anderen Beruf oder Aufgabenbereich bei der beruflichen Eingliederung oder bei der Zumessung von Ausfallsentschädigungen im Falle einer Stellenkündigung liegt. Der Begriff der Arbeitsfähigkeit ist dagegen nicht gesetzlich verankert, wird aber immer häufiger im Zusammenhang mit der beruflichen Eingliederung im Sinne einer Orientierung an Ressourcen und nicht an Defiziten verwendet.</p> <h2>ICF-Framework als Modell für die Arbeitsfähigkeitseinschätzung</h2> <p>Die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit», ICF, liefert ein Framework, aus dem einerseits ein Codierungssystem, andererseits verschiedene Instrumente hervorgegangen sind, welche vor allem in der vergleichenden Forschung, in der Rehabilitationsmedizin, in der Beurteilung komplexer Auswirkungen medizinischer Gesundheitsprobleme (Stroke, Schädelhirntrauma u. Ä.) und in der Förderplanung bei Jugendlichen mit Behinderungen Anwendung gefunden haben.<sup>2</sup> Das Framework wurde 2015 und in Folgeentscheidungen bundesgerichtlich explizit als Basis für die Beurteilung von Arbeitsfähigkeiten bei somatoformen und vergleichbaren psychosomatische Störungen erwähnt und im Verlauf auf die Folgen eines «Schleudertraumas» und zuletzt auf die Beurteilung sämtlicher psychischen Störungsbilder ausgedehnt.<sup>3, 4</sup> Obwohl vom Bundesgericht nicht zwingend gefordert, gibt es keine Gründe, weshalb das Framework nicht auch bei (überwiegend) somatischen Störungen zur Anwendung kommen sollte.<sup>5</sup><br /> Das Framework beinhaltet in Bezug auf die Arbeitsfähigkeitsbeurteilung drei wesentliche Elemente: die Ebene der Aktivität (Wie ist die Leistungsfähigkeit/Belastbarkeit?), die Ebene der Umweltfaktoren (Wie sind die Arbeitsanforderungen?) und die Ebene der Partizipation (Vergleich der Anforderungen mit der Belastbarkeit: Was passt, was passt nicht?). Diese werden durch die Beschwerden und die Funktionsfähigkeit (Strukturen und Funktionen) sowie durch die personenbezogenen Faktoren beeinflusst (Abb. 1). Dies erscheint grundsätzlich einfach. Worin liegen dann die Schwierigkeiten?</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1906_Weblinks_lo_innere_1906_s7_abb1_klipstein.jpg" alt="" width="550" height="377" /></p> <p><strong>Stolpersteine bei der Arbeitsfähigkeitseinschätzung</strong><br /> In Rahmen einer Jahrestagung der Swiss Insurance Medicine (2011) und in den nachfolgenden Workshops wurden die Stolpersteine der beruflichen Eingliederung und der Arbeitsfähigkeitsbescheinigung aufgearbeitet. Häufig vorkommende Umstände sind:</p> <ul> <li>Zeugnis unter der Türe</li> <li>unklare Kommunikation, fehlende Abmachungen mit dem Patienten und mit ihm vereinbarte Ziele</li> <li>medizinischer Verlauf/verzögerte Abklärungen/ Fokus auf Diagnosen</li> <li>Verpassen der Zeitfenster für die Wiedereingliederung</li> <li>Rollenkonflikte</li> <li>fehlende Kenntnisse oder Bewertungen der Arbeitsanforderungen</li> <li>Unsicherheiten in der Einschätzung der Belastbarkeit</li> <li>ungenügende Kentnisse der gesetzlichen Voraussetzungen</li> </ul> <p>Während die ersten vier Stolpersteine das allgemeine ärztliche Handeln, Kommunizieren, wohl auch die persönlichen Prioritätensetzungen und nicht zuletzt Organisations- und – leider verstärkt durch die neusten Änderungen der Tarifierung – Wertigkeitsstrukturen betreffen, betreffen die weiteren vier Stolpersteine typischerweise die AUF-Einschätzung und werden nachfolgend diskutiert.</p> <p><strong>Rollenkonflikte</strong><br /> Auftraggeber bei einer kurativen Behandlung ist der Patient. Er kommt mit einem medizinischen Problem, das er gelöst haben möchte, zum Arzt, dem er am meisten vertraut. Er vertraut ihm auch hinsichtlich der Beratung in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit. Wenn der behandelnde Arzt diese Beratung mit der gleichen Gewissenhaftigkeit erledigt wie die medizinische Beratung, macht er in der Regel selten etwas falsch. Kritisch wird es, wenn er mangels genügender oder nur einseitiger Informationen auf eine rein subjektive Einschätzung abstellt. Nicht selten geschieht dies vermeintlich zum Wohl des Patienten und die Folgen treten später hervor (z. B. Arbeitsplatzverlust, Chronifizierung, sekundäre Gesundheitsstörungen). Ein klares Bewusstsein über die eigene Rolle sowie klare Abmachungen mit dem Patienten (Mitwirkung, Unterstützung bei der Informationsbeschaffung, zeitlicher Rahmen) helfen gegen Rollenkonflikte; Instrumentalisierung ist dagegen weder konstruktiv noch angenehm. Kommen Anfragen vonseiten des Arbeitgebers, ist er der Auftraggeber, und entsprechende Angaben (z. B. zu den Arbeitsanforderungen) sollten bei ihm eingefordert werden. Dasselbe gilt bei Anfragen des Versicherers. Die Beantwortung geschieht unter Wahrung des Arztgeheimnisses, d. h. mit Entbindung durch den Patienten, und die Informationen werden auf die Klärung des Sachverhaltes beschränkt.</p> <p><strong>Fehlende Kenntnisse der Arbeitsanforderungen</strong><br /> Oft kennt die ärztliche Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nur die Farben Schwarz und Weiss, alles oder nichts. So beträgt in 80 % der Arztzeugnisse die Arbeitsunfähigkeit entweder 0 % oder 100 % . Hauptgrund dafür sind mangelnde Kenntnisse der Ärzte über die genauen Anforderungen und Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz ihres Patienten. Um eine schrittweise erfolgreiche Reintegration zu ermöglichen, sind Grautöne wichtig. Das ressourcenorientierte Eingliederungsprofil (REP) ermöglicht eine ärztliche Beurteilung der Ressourcen von Patienten, die längere Zeit nicht vollständig arbeitsfähig sind und über einen Arbeitsplatz verfügen.<sup>6</sup> Die Anwendung des REP erfolgt nach einem klar definierten Ablauf: Der (an einer Rückkehr des Mitarbeiters interessierte) Arbeitgeber erstellt mithilfe des Online-Tools REP (www.compasso.ch) ein berufliches Anforderungsprofil, welches der Patient zum behandelnden Arzt mitnimmt. Dieser füllt für jede angeführte Anforderung aus, ob diese unter Berücksichtigung der vorliegenden Gesundheitsstörung für den Patienten ausführbar («möglich»), nur unter bestimmten Voraussetzungen («teilweise möglich», Bedingungen können ergänzt werden) oder nicht ausführbar («nicht möglich») ist. Dieses Profil wird vom Arzt unterzeichnet und geht dann zurück an den Arbeitgeber, der prüft, wie und in welchem Umfang er den Patienten einsetzen kann. Das REP ersetzt nicht ein AUF-Zeugnis, weshalb üblicherweise basierend auf dem REP ein Zeugnis erstellt und abgegeben wird. Ziel des REP ist die Förderung der Teilarbeitsfähigkeit und der arbeitsplatzgerechten beruflichen Eingliederung sowie der Kommunikation zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arzt. Auftraggeber zum Vervollständigen eines REP durch den Arzt ist der Arbeitgeber. Bei vollständigem Ausfüllen wird der Arzt durch den Arbeitgeber mit CHF 100.– entschädigt (Abb. 2).<br /> Falls kein REP (oder kein bestehendes Anforderungsprofil des Arbeitsgebers) zur Verfügung steht, sollten einerseits vom Patienten eine stichwortartige Beschreibung seiner Berufsbezeichnung und der wichtigsten vier Arbeitsaufgaben (einzufordernde Vorarbeiten des Patienten, der in Bezug auf die Erstellung eines Zeugnisses als Auftraggeber wirkt) sowie basierend darauf eine kurze Arbeitsanamnese erhoben werden, welche zumindest folgende Informationen enthält:</p> <ul> <li>Vollzeit- oder Teilzeitanstellung (Anzahl Stunden pro Woche, Verteilung über die Woche)</li> <li>Festanstellung oder Stundenlohn</li> <li>Sicht des Patienten auf die in Bezug auf das Gesundheitsproblem schwierigsten Aufgaben/Umstände</li> </ul> <p>In speziellen Fällen kann auch auf das etwas aufwendigere Befragungstool WOCADO (WOrk CApacity estimation support for DOctors; www.wocado.ch) zurückgegriffen werden, bei dem nach einer Einstellung am PC der Patient direkt befragt wird.<sup>7</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1906_Weblinks_lo_innere_1906_s8_abb2_klipstein.jpg" alt="" width="800" height="249" /></p> <p><strong>Unsicherheiten bei Einschätzung der Belastbarkeit</strong><br /> Die Einschätzung sowohl der physischen als auch der psychischen Belastbarkeit stellt insbesondere bei wenig umschriebenen Krankheitsbildern, Multimorbidität und chronischen Verläufen eine Herausforderung dar. Nur bei umschriebenen Gesundheitsproblemen (z. B. starke Beweglichkeitseinschränkung und Endschmerzen im Knie durch eine Kapselfibrose) besteht ein direkter Bezug zwischen Funktionsfähigkeit (Flexion im betroffenen Knie aktiv nur bis 60° möglich) und Aktivität (Arbeiten in kauernder oder kniender Position nicht möglich, Treppensteigen und Gehen stark eingeschränkt). In den meisten Fällen muss die Belastbarkeit durch Vergleiche zu Alltagsaktivitäten (Schilderung des Tagesablaufs, arbeitsbezogenes Beschwerdebild, Beschreibung sozialer Interaktionen, Beobachtung im Wartezimmer etc.) und (möglichst) objektive Befunde («Schweregrad») abgeschätzt werden. Bei zweifelhaften Beurteilungen können Zusatzabklärungen wie eine EFL (Evaluation der arbeitsbezogenen funktionellen Leistungsfähigkeit) oder neuropsychologische Tests weiterhelfen. Während die neuropsychologischen Abklärungen im KVG vorgesehen sind, müssen EFL-Abklärungen nach einem festen Tarif bei anderen Kostenträgern (KTG-Versicherer, IV oder Unfallversicherer) beantragt oder diesen empfohlen werden. Am Beispiel von chronischen Rückenschmerzen wurden erhebliche Abweichungen zwischen der effektiv erhobenen Leistungsfähigkeit beim Hantieren von Lasten, der empirischen ärztlichen Einschätzung und der Selbsteinschätzung gefunden.<sup>8</sup> Die Abklärung mittels EFL ermöglicht nebst der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eine Einschätzung der Konsistenz und Leistungsbereitschaft.<sup>9</sup> Die neuropsychologischen Abklärungen erlauben insbesondere die Einschätzung der Abklärungsqualität.</p> <p><strong>Unsicherheiten bezüglich gesetzlicher Voraussetzungen</strong><br /> Die Involvierung verschiedener Gesetzeswerke, die wechselnden Interpretationen, die Unterschiede in der medizinischen und juristischen Ausdrucksweise sowie die unterschiedlichen Bestimmungen betreffend den Datenschutz im privat- und sozialrechtlichen Kontext verunsichern den niedergelassenen Arzt häufig. Bei Fragen Dritter muss immer eine Vollmacht des Patienten vorliegen. Gegenüber dem Patienten sollen Antworten transparent sein (der Patient kann diese einfordern). Im Grundsatz soll sich der Arzt auf die Beurteilung des medizinischen Sachverhaltes beschränken. Wird auf fachfremde Probleme eingegangen, sollen diese entsprechend vermerkt werden. Oft lässt sich dabei kurzfristig nicht vermeiden, dass man «über den Zaun frisst». Bei längeren Absenzen sollte es jedoch festgehalten werden, wenn ein anderes Fachgebiet berücksichtigt werden sollte (insbesondere bei Versicherungsanfragen). Soziale Kontextfaktoren sollen wohl erwähnt werden, jedoch klar abgegrenzt von den medizinischen Einschränkungen und Ressourcen. Unsicherheiten gegenüber der Beurteilung sollen geäussert werden.<br /> Eine Arbeitsfähigkeitseinschätzung ist immer eine Ermessensfrage. Einzig ein gegenüber verschiedenen Akteuren (Arbeitgeber, Taggeldversicherung, RAV, IV) abweichendes Arbeitsfähigkeitszeugnis ist ein «No-Go». Gerichtliche Verurteilungen von Ärzten wegen Falschbeurkundung im Zusammenhang mit AUF-Zeugnissen waren ausschliesslich auf solche Fälle beschränkt. Vertiefende Informationen erhalten Sie über die in der Literatur am Ende des Artikels angegebenen Weblinks. Für das Ausfüllen des SIM-Zeugnisses steht ausserdem ein Video-Tutorial zur Verfügung.</p> <h2>Neues Arbeitsfähigkeitszeugnis der SIM</h2> <p>Seit diesem Jahr ist ein speziell auf die berufliche Eingliederung und Begünstigung der Teilarbeitsfähigkeit ausgerichtetes Arbeitsfähigkeitszeugnis verfügbar. Nebst einer mehr ressourcenorientierten Sichtweise (Arbeitsfähigkeit vs. AUF), einer genaueren Bezeichnung der beruflichen Situation (insbes. Teilzeittätigkeiten) und der Deklaration der Art der zur Verfügung stehenden Arbeitsbeschreibung (REP, andere Quellen) wird eine klare Trennung von Präsenzzeit und Leistungsfähigkeit (i. d. R. bezogen auf die angestammte Tätigkeit) verlangt, und zwar in Form einer differenzierten Taggeldkarte. Auf der Rückseite des SIM-Arztzeugnisses befinden sich ausserdem viele für das Ausfüllen nützliche Hinweise. Das Zeugnis ist auf der SIM-Homepage aufgeschaltet und wird in Kürze auch auf medforms.ch und compasso.ch verfügbar sein.<sup>10</sup></p> <h2>Fallbeispiel</h2> <p>Vorstellig wurde ein 47-jähriger ungelernter Lagermitarbeiter und Staplerfahrer, der in einer Speditionsfirma, im gleichen Betrieb vollzeitig angestellt seit 12 Jahren, tätig war. Nach vereinzelten Kurzabsenzen infolge lumbaler Rückenschmerzen litt er nun seit 5 Wochen unter starken lumbalen Rückenschmerzen mit Ausstrahlungen beidseitig zum Gesäss. Er klagte über eine Zunahme der Schmerzen im Laufe des Tages, erwachte z. T. nachts beim Drehen mehrfach und fühlte sich zunehmend müde und unruhig. Die inzwischen eingeleitete Physiotherapie und die Behandlung mittels NSAR brachten eine vorübergehende Linderung. Nach einer AUF von 1 Woche begann er mit seiner auf 50 % reduzierten Beschäftigung (am Arbeitsplatz umgesetzt halbtags, normale Aufgaben), was nach drei Tagen zu verstärkten Beschwerden führte, weshalb er seither nicht mehr arbeitete.<br /> Die Laborwerte mit Hämatologie, Entzündungsparametern, Kreatinin und alkalischer Phosphatase sowie ein Urinstatus waren unauffällig; konventionelle Röntgenbilder zeigten eine Osteochondrose der untersten beiden Lendenwirbelsegmente. Der Patient kam mit einem REP vom Arbeitgeber, der den Mitarbeiter gerne behalten möchte; der Vorgesetzte äusserte nach einem misslungenen Arbeitsversuch jedoch Zweifel an einer Rückkehr in die angestammte Arbeitstätigkeit. Das erhaltene REP beschrieb eine circa zur Hälfte stehend- gehende (längere Gehstrecken beim manuellen Konfektionieren, Datenerfassen), zur Hälfte sitzende Arbeit (Stapler), mit regelmässigem Hantieren von mittelschweren, selten von schweren Gewichten und seltenem Arbeiten in verdrehten, unergonomischen Positionen. Der Patient hatte z. T. Kundenkontakt und Bestellungen mussten teilweise sehr schnell umgesetzt werden. Der behandelnde Arzt notierte dann die Möglichkeit der Umsetzung und allfällige zu beachtende Einschränkungen. Er reservierte sich die Konsultationszeit weitgehend für die Festlegung der Arbeitsfähigkeit und füllte das REP in Anwesenheit des Patienten aus. Zum Ausfüllen benötigte er circa 10 Minuten (Abb. 3).<br /> Begleitend zum REP versah der Arzt zudem das SIM-Arztzeugnis mit den erforderlichen Eintragungen (mit Verweis auf das REP betreffend die Angaben zur Berufstätigkeit). Er bestätigte eine AUF bis zum aktuellen Zeitpunkt, dann eine vermehrte Präsenz von 4 auf 6 Stunden mit Leistungsreduktion gemäss den Angaben im REP. Es resultierte daraus eine Arbeitsfähigkeit von 25 % für 2 Wochen, dann von 37,5 % für 1 Woche und danach, bei gutem Verlauf, eine rasche Wiederaufnahme der angestammten Tätigkeitsdauer. Mit dem REP und dem Arztzeugnis schickte der Arzt eine Rechnung von CHF 100.– an den Arbeitgeber. Nach 5 Wochen meldete sich der Arbeitgeber: Der Patient ist zwar ganztags anwesend, wird aber beim Kommissionieren von Hand von schwereren Lasten noch entlastet und legt häufiger Pausen ein. Man einigt sich auf eine vorübergehende AF von 70 % für 3 Wochen und in der Folge auf den Versuch einer vollen AF (Abb. 4).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1906_Weblinks_lo_innere_1906_s9_abb3_klipstein.jpg" alt="" width="800" height="318" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Innere_1906_Weblinks_lo_innere_1906_s10_abb4_klipstein.jpg" alt="" width="750" height="371" /></p> <h2>Besondere Situationen</h2> <p><strong>Retrospektives AUF-Zeugnis</strong><br /> Ein retrospektives AUF-Zeugnis ist grundsätzlich ein No-Go, für kurze Perioden (Grössenordnung drei Tage) jedoch vertretbar, z. B. bei bereits vorhergehender bekannter Problematik oder terminbedingter Verzögerung einer Konsultation bei rechtzeitiger Kontaktnahme besteht ein Ermessensspielraum.</p> <p><strong>AUF-Zeugnis nach Kündigung</strong><br /> Dieses ist nur in Ausnahmefällen statthaft, z. B. bei bereits vorausgegangener erheblicher Gesundheitsproblematik, welche unter normalen Bedingungen zu einem Arbeitsausfall geführt hätte, oder bei akuten stressbedingten Einbrüchen. Letztere sollten aber in aller Regel zeitlich begrenzt werden (analog einer Trauer reaktion) und vor einer Fortführung sollte geklärt werden, ob tatsächlich noch ein Störungsbild mit Krankheitswert oder Konflikte dominieren, welche üblicherweise existieren, um ausgetragen zu werden.</p> <p><strong>«Arbeitsplatzbezogene AUF»</strong><br /> Es handelt sich dabei streng genommen nicht um eine Arbeitsunfähigkeit, da keine (oder eine untergeordnete) Kausalität zwischen der Arbeitsabsenz und der Gesundheitsstörung besteht. Grundsätzlich gilt das Gleiche wie vorhergehend erwähnt. Das Abschieben auf eine (länger dauernde) AUF ist für Arbeitgeber und Arbeitsnehmer oft eine bequeme Art, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Bei einigermassen stabilen Situationen kann der Arzt sich i. d. R. nicht auf eine Angst vor Verschlechterung des Störungsbildes berufen, ohne dass Lösungen zwischen den Sozialpartnern gesucht worden sind. Beachtet werden sollte, dass im Falle einer rein arbeitsplatzbezogenen Problematik der Arbeitgeber keine Taggelder beanspruchen kann.</p> <p><strong>AUF in der Schwangerschaft</strong><br /> Schwangerschaft ist grundsätzlich keine Krankheit, sondern berechtigt die Schwangere zu einem Mutterschaftsurlaub und zur Wahrnehmung der Fürsorgepflicht durch den Arbeitgeber nach Mutterschaftsverordnung. Die FMH empfiehlt das Vorgehen durch den niedergelassenen Arzt.<sup>11</sup> Bei zusätzlicher Krankheit kann selbstverständlich trotzdem eine AUF entstehen und attestiert werden. Vorsichtig sollte allerdings bei unspezifischen Beschwerdebildern, wie zum Beispiel Rückenbeschwerden, verfahren werden. Nicht selten führen solche Atteste zur Gewohnheit und zur «Verlängerung» des Mutterschaftsurlaubes, was dann meist in der Kündigung nach Wartefrist endet.</p> <p><strong>Suchterkrankung und Arbeitsunfähigkeit</strong><br /> In einem aufsehenerregenden Grundsatzurteil legte das Bundesgericht im laufenden Jahr fest, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch eine Suchterkrankung zu einer IV-Rente berechtigen kann.<sup>12</sup> Allerdings dürften die Bedingungen noch einige Korrekturen erfahren, weshalb im Allgemeinen immer noch davon auszugehen ist, dass eine Suchtkrankheit (mit angemessener Behandlung und Betreuung) überwindbar ist.</p> <p><strong>Vertiefung</strong><br /> Nebst den unten erwähnten Links bietet Swiss Insurance Medicine verschiedene Vertiefungsmöglichkeiten in Form von Kursen, Tagungen und Broschüren. 2020 wird ausserdem ein gemeinsamer Kongress mit der Europäischen Assoziation für Versicherungsmedizin (www.EUMASS-2020.eu) stattfinden, bei dem der Schwerpunkt auf die Anwendungsforschung und die praktische Umsetzung breiter versicherungsmedizinischer Themen gelegt werden wird.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> ATSG (2000) https://www.gesetze.ch/sr/830.1/830.1_001. htm ( Stand 2012) <strong>2</strong> ICF WHO (2001). https://www.who.int/ classifications/icf/en/ <strong>3</strong> BGE 141 V 281 (2015). http://relevancy. bger.ch/cgi-bin/JumpCGI?id=BGE_141_V_281 <strong>4</strong> Herzog- Zwitter I: Die präzisierende Rechtssprechung des BGE 141 V 281 und die ICF. 2018 (https://www.svv.ch) <strong>5</strong> Jaeger J: Die Verwendung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) in der somatischen Begutachtung. Medinfo 2017/2 (Teil 1)/Medinfo 2018/1 (Teil 2) <strong>6</strong> Kaiser M et al.: Ressourcenorientierte Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. 2019. https://doi.org/10.4414/ saez.2019.17942 <strong>7</strong> Swiss Insurance Medicine (2018). https:// www.swiss-insurance-medicine.ch/de/arbeitsanforderungen. html <strong>8</strong> Oesch P et al.: Functional capacity evaluation: performance of patients with chronic non-specific low back pain without waddell signs. J Occup Rehabil 2015; 26: 257-66 <strong>9</strong> Meyer K et al.: Development and validation of a pain behavior assessment in patients with chronic low back pain. J Occup Rehabil 2016; 26: 103-13 <strong>10</strong> SIM (2019) https://www.swiss-insurance-medicine.ch/de/Arbeitsunfähigkeit. html <strong>11</strong> FMH (2014) https://www.fmh.ch/ files/pdf21/Dossier_Mutterschutz_def.pdf <strong>12</strong> BGE (2019) https://www.bger.ch/files/live/sites/bger/files/pdf/de/9C_ 724_2018_2019_08_05_T_d_07_48_04.pdf</p>
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