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Adipositas: ein Problem auch im Alter?
DAM
Autor:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Monika Lechleitner
Landeskrankenhaus Hochzirl-Natters<br> E-Mail: monika.lechleitner@tirol-kliniken.at
30
Min. Lesezeit
23.11.2017
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<p class="article-intro">Für alle Altersgruppen wird seit Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Prävalenz von Übergewicht und Adipositas erhoben. Die prognostische Bedeutung der Adipositas bei älteren Menschen und die Frage, ob sich daraus die Notwendigkeit für Interventionsempfehlungen ableiten lässt, sind Thema einer Reihe rezenter Untersuchungen.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Epidemiologische Untersuchungen beschreiben in den USA für die Bevölkerung im Alter von über 65 Jahren eine Adipositasprävalenz von 30 % , in Großbritannien sind 22 % der Frauen und 12 % der Männer im Alter von über 75 Jahren übergewichtig oder adipös.<sup>1</sup> Folgeerkrankungen der Adipositas, insbesondere kardiovaskuläre Komplikationen, beeinträchtigen die Lebensqualität und vor allem auch die Lebenserwartung.<sup>2</sup> Die WHO beschreibt in ihrem Europäischen Gesundheitsbericht für Österreich, dass rund 9,6 % aller Todesfälle infolge von Übergewicht und Adipositas auftreten.<sup>3</sup> Ob der Adipositas bei älteren Menschen eine ähnliche prognostische Bedeutung wie in der jüngeren Bevölkerung zukommt und sich daraus die Notwendigkeit für Interventionsempfehlungen ableiten lässt, wird in einer Reihe von Studien und Metaanalysen diskutiert.<sup>4</sup></p> <h2>Adipositasassoziierte Erkrankungen und Mortalität</h2> <p>Auch in höherem Lebensalter zeigt sich eine positive Korrelation zwischen Adipositas und dem Risiko zur Entwicklung eines Typ-2-Diabetes sowie kardiovaskulärer, gastroenterologischer und Tumorerkrankungen.<sup>5</sup> Zu den weiteren Komplikationen der Adipositas zählen das Schlafapnoesyndrom und degenerative Gelenkserkrankungen, vor allem aber ein erhöhtes Risiko für geriatrische Syndrome, wie Harninkontinenz, Immobilität und kognitive Einschränkungen (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_DAM_Allgemeinm_1709_Weblinks_s18_tab1.jpg" alt="" width="685" height="1018" /><br /> Einzelstudien und Metaanalysen beschreiben eine U-förmige Korrelation zwischen Body-Mass-Index (BMI) und Mortalität. Die Mortalität ist im Untergewichtsbereich hoch, die niedrigste Mortalität besteht im „Normalgewichtsbereich“ (BMI bei 25kg/m<sup>2</sup>) und steigt bei älteren Menschen erst im Adipositasbereich signifikant an.<sup>6–8</sup><br /> Für die Beurteilung der Gewichtssituation in höherem Lebensalter sind altersassoziierte Veränderungen, wie eine Abnahme der Körpergröße, eine Reduktion der Muskel- und Zunahme der Fettmasse sowie die Tendenz zur Entwicklung eines Fettverteilungsmusters hin zu abdominellem Fett zu berücksichtigen. Die Abnahme der Körpergröße würde einer Anpassung der Normwerte für den Body-Mass-Index (BMI) um rund 1,5kg/m<sup>2</sup> für Männer und 2,5kg/m<sup>2</sup> für Frauen entsprechen.<sup>9</sup> Der Normalgewichtsbereich umfasst demnach einen BMI von 22–27kg/m<sup>2</sup>, Übergewicht einen BMI von 27–29,9kg/m<sup>2</sup> und Adipositas liegt bei einem BMI =30kg/m<sup>2</sup> vor.</p> <h2>Risiko Adipositas und Sarkopenie</h2> <p>Im hohen Lebensalter nimmt das Malnutritionsrisiko mit einer ungenügenden Zufuhr an Protein, Vitaminen und Mineralstoffen zu. Dies beeinflusst die altersassoziierte Reduktion der Muskelmasse ungünstig und erhöht das Risiko für die Entwicklung einer Sarkopenie mit funktionellen Einschränkungen. Darüber hinaus belegt eine Reihe von Studien die ungünstige Prognose und das hohe Mortalitätsrisiko bei sarkopenischer Adipositas.<sup>10, 11</sup> Im höheren Lebensalter kann einer Malnutrition und unbeabsichtigten Gewichtsreduktion auch die Veränderung im Muster appetitstimulierender und appetithemmender Hormone aus dem Gastrointestinaltrakt und Fettgewebe zugrunde liegen.<sup>12</sup> Rezente Daten weisen auch auf die Bedeutung des intestinalen Mikrobioms hin, dessen Zusammensetzung und Funktionalität im fortgeschrittenen Lebensalter mit einem erhöhten Risiko für metabolische und neurodegenerative Erkrankungen korreliert.<sup>13</sup><br /> Auch im Fettgewebe zeigen sich altersassoziierte degenerative Veränderungen, wie eine beeinträchtigte Differenzierung von Präadipozyten und Verschiebungen im Adipozytokinmuster mit einem erhöhten Risiko für kardiometabolische Erkrankungen. Die beeinträchtigte Kapazität zur Lipidakkumulation (dysfunktionelles Fettgewebe) führt zu einer Fettablagerung außerhalb des Fettgewebes, vor allem intrahepatisch und intramuskulär, und somit auch zu einem erhöhten Risiko für eine sarkopenische Adipositas.</p> <h2>Adipositasparadoxon</h2> <p>Unter dem Begriff Adipositasparadoxon versteht man die Beschreibung eines möglichen prognostischen Vorteils von Übergewicht oder Adipositas bei einer Reihe von manifesten Erkrankungen gegenüber Normal- oder Untergewicht.<sup>14</sup> Bei der Interpretation der Datenlage müssen jedoch vielfältige Faktoren, die das Körpergewicht beeinflussen, Berücksichtigung finden, wie das Lebensalter, eine ungewollte Gewichtsabnahme im Rahmen einer schweren Allgemeinerkrankung, die kardiorespiratorische Fitness und der Raucherstatus.</p> <h2>Therapieempfehlungen</h2> <p>Die Indikationsstellung zur Gewichtsreduktion beim älteren Menschen erfordert eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung, wobei dem Erhalt der Lebensqualität und damit der funktionellen und kognitiven Leistungsfähigkeit eine zentrale Bedeutung zukommt (Abb. 1). Empfehlungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften zur Gewichtsreduktion bei älteren Menschen beziehen sich primär auf das Vorliegen einer Adipositas mit Begleitkomplikationen. Die Ernährungsmaßnahmen müssen eine ausreichende Protein-, Vitamin- und Mineralstoffzufuhr gewährleisten, eventuell unter Einsatz von Supplementen. Zu beachten ist auch die Osteoporoseprophylaxe. Körperliches Training (Ausdauer- und Widerstandstraining) ist wichtig, um Muskelmasse und Muskelkraft zu erhalten bzw. zu verbessern (Prävention bzw. Therapie einer Sarkopenie). Für chirurgische Maßnahmen (bariatrische Chirurgie) liegt bislang keine Evidenz für Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter vor.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_DAM_Allgemeinm_1709_Weblinks_s18_abb1.jpg" alt="" width="1455" height="744" /></p></p>
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<p><strong>1</strong> MacMillan M et al.: Obes Sci Pract 2016; 2(4): 477-82 <strong>2</strong> Stringhini S et al.: Lancet 2017; 389(10075): 1229-37 <strong>3</strong> The European health report 2005. WHO Europe; Copenhagen 2005; ISBN 92 890 1376 1; http://www.euro.who. int <strong>4</strong> M athus-Vliegen E M et al.: Obes Facts 2012; 5(3): 460-83 <strong>5</strong> Sinclair A et al.: Clin Geriatr Med 2010; 26(2): 261-74 <strong>6</strong> Price GM et al.: Am J Clin Nutr 2006; 84(2): 449- 60 <strong>7</strong> Global BMI Mortality Collaboration et al.: Lancet 2016; 388(10046): 776-86 <strong>8</strong> Aune D et al.: BMJ 2016; 353: i2156 <strong>9</strong> Sorkin JD et al., Am J Epidemiol 1999; 150(9): 969- 77 <strong>10</strong> Hirani V et al: Age Ageing 2016 Dec 7. [Epub ahead of print] <strong>11</strong> Rossi AP et al.: J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2017 Mar 8. [Epub ahead of print] <strong>12</strong> Moss C et al.: J Hum Nutr Diet 2012; 25(1): 3-15 <strong>13</strong> Vaiserman AM et al.: Ageing Res Rev 2017; 35: 36-45 <strong>14</strong> Barnack HR et al.: Prev Med 2014; 62: 96-102</p>
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