ADHS in der allgemeinärztlichen Praxis
Autor:
Dr. med. Christian Lay
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Weinbergstrasse 26
8001 Zürich
E-Mail: christian.lay@psychcentral.ch
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Ein ADHS wird heutzutage deutlich häufiger und immer öfter bei Erwachsenen diagnostiziert. Wurde das Störungsbild früher noch vermehrt von Psychiatern diagnostiziert und behandelt, ist heute oft der Hausarzt die initiale Anlaufstelle und zuständig für die weitere Therapie. Ein Grundwissen über die Symptomatik und die Behandlung ist daher entscheidend.
Keypoints
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ADHS ist häufig. Erster Ansprechpartner ist oft der Hausarzt.
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Komorbiditäten und ADHS-Folgeerkrankungen sind oft insuffizient behandelt, wenn das ADHS übersehen wird.
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Goldstandard ist eine Kombination von Psychoedukation, Coaching und Medikation.
Der Hausarzt ist heute oft die erste Anlaufstelle zur Abklärung und weiteren Therapie des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Ein gewisses Grundwissen über die Symptome und die therapeutischen Möglichkeiten ist daher entscheidend und dient der Förderung der Resilienz sowie auch dem Verhindern von möglichen Folgeerkrankungen wie Depression, Suchtkrankheiten etc. Ausserdem zeigt sich, dass ein ADHS oft Auswirkungen auf die Arbeitssituation wie auch das Familien- und Privatleben hat, weshalb eine effiziente und rasche Abklärung und Therapie notwendig sind, um den sozialen Status des Betroffenen zu erhalten. ADHS-Betroffene befinden sich signifikant häufiger in Arbeitslosigkeit und trennen sich häufiger von ihren Ehepartnern.
Historisch betrachtet ist die Symptomatik des ADHS bereits seit Hippokrates bekannt. Im Kinderbuch «Struwwelpeter» wurde der Symptomkomplex von Dr. Heinrich Hoffmann beschrieben. Erste Behandlungsideen auf diätetischer Ebene kamen auf. Erst ab den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde eine medikamentöse Behandlung eingesetzt. Im Jahr 1980 hielt das ADHS Einzug ins DSM III als diagnostizierbare Störung bei Erwachsenen. Studien zeigen, dass nur 5% der betroffenen Kinder und Erwachsenen in Behandlung sind und Männer doppelt so häufig betroffen sind wie Frauen. Die Problematik beginnt typischerweise in der Kindheit, wird zu diesem Zeitpunkt aber oft nicht erkannt, sodass die Diagnose häufig erst im Erwachsenenalter gestellt wird.
Diagnostik und Komorbiditäten
Wichtig für die Diagnostik sind die Erhebung der Befunde im Kindesalter (retrospektiv), fremdanamnestische Angaben (typischerweise durch die Eltern anhand von Fragebögen), Schulzeugnisse sowie die Biografie und Anamnese des Patienten. Zusätzlich ist die Familienanamnese wichtig, da es eine genetische Komponente gibt. Als sonstige Ursachen werden Nikotin- und Alkoholkonsum während der Schwangerschaft angeführt. Als ein Diagnosekriterium gilt der Beginn in der Kindheit. Der Zustand sollte sich vor allem bei Kindern auf zwei Lebensbereiche auswirken und es muss eine klinische Beeinträchtigung bestehen. Zugrunde liegen der Diagnose die Wender-Utah-Kriterien:
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Aufmerksamkeitsstörung
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Hyperaktivität
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Affektlabilität
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Desorganisation
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Temperament
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emotionale Überreagibilität
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Impulsivität
Für die Diagnose müssen mindestens ein Hauptkriterium und drei Nebenkriterien oder zwei Hauptkriterien und zwei Nebenkriterien erfüllt sein. Man unterscheidet anhand der Symptome dann zwischen ADS (Aufmerksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität), HKS (hyperaktives kinetisches Syndrom) und dem Mischtyp ADHS.
Beim ADS stehen typischerweise Tagträume und Geistesabwesenheit im Vordergrund. Des Weiteren sind auch Konzentrationsschwierigkeiten und Ablenkbarkeit festzustellen. Das ADS wird in der Kindheit häufig übersehen. Das HKS ist geprägt von schwerer Hyperaktivität und Impulsdurchbrüchen, weshalb diese Störung häufig bei Straffälligen angetroffen wird und ein Thema in der Forensik ist. Das ADHS als Mischtyp ist am häufigsten. Hier ist sowohl die Aufmerksamkeit betroffen als auch Hyperaktivität vorhanden – die Ausprägung kann aber variieren.
Differenzialdiagnostisch wichtig ist im somatischen Bereich eine Abgrenzung zu Schilddrüsenerkrankungen, Epilepsien, Narkolepsie und medikamentös induzierten Konzentrationsstörungen. Vom psychiatrischen Standpunkt aus gesehen ist die Abgrenzung zu Suchtkrankheiten, Persönlichkeitsstörungen sowie der bipolaren affektiven Störung wichtig. Die Symptomatik kann sich über das Lebensalter verändern (Abb. 1).
Abb. 1: Veränderung der Symptomatik im Verlauf des Lebens
Komorbiditäten beim ADHS/ADS und HKS sind häufig Sucht, im Sinne einer «Selbsttherapie», Depressionen, vor allem Erschöpfungsdepressionen, Zwänge als Kompensation der Desorganisation, Persönlichkeitsstörungen, Tics, Lernstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie sowie Phobien. Oft sind Patienten mit solchen Schwierigkeiten in Behandlung und erleben häufige Rezidive, da das ADHS nicht behandelt oder nicht erkannt wurde. Wichtig zur dauerhaften Stabilisierung der Komorbiditäten ist daher auch die suffiziente Therapie des ADHS.
Therapie des ADHS
Durch verschiedene Studien ist bekannt, dass dem ADHS eine Verminderung von Dopamin und Noradrenalin in umschriebenen Hirnregionen zugrunde liegt. Dadurch ist die Inhibition beeinträchtigt und die Patienten leiden unter einem «Gedankensturm». Dies wird bildlich gerne als «Orchester ohne Dirigent» dargestellt und erklärt. Ziel der Therapie ist es nun, die Schwächen, die mit ADHS verbunden sind, zu beheben, gleichzeitig aber die Stärken nicht zu sehr einzuschränken. Als Stärken sind sehr viel Energie, Ausdauer, Kreativität, rasch wechselnde Auffassung, Anpassungsfähigkeit, Risikobereitschaft und der Hyperfokus zu nennen. Unter Hyperfokus versteht man das «Versinken» in einem Thema, das die Betroffenen interessiert, teils über mehrere Stunden. Das Lernen fällt dann sehr leicht und das Interesse fluktuiert typischerweise wenig. Diese Stärken gilt es zu erkennen, damit die Patienten sie im Idealfall in ihr Leben einbauen und nutzen können.
Therapeutisch ist als Basis primär immer die Therapie einer zusätzlichen psychischen Störung zu sehen. Für das ADHS wird dann ein multimodales Konzept mit Psychoedukation angeboten, damit die Patienten lernen, mit welchen Stärken und Schwächen ihre Erkrankung einhergeht. Dies ist sowohl in der Gruppe wie auch individuell möglich. Zudem gibt es die Möglichkeit des Coachings, der Psychotherapie und der Medikation. Unter Coaching versteht man einen verhaltenstherapeutischen, lösungsorientierten Ansatz, bei dem ein konkretes Alltagsproblem therapiert wird (z.B. bessere Organisation zu Hause). Dies wird oft gemeinsam mit der Medikation eingesetzt. Die Psychotherapie ist häufig supportiv, selten aber therapeutisch rasch wirksam.
Die Medikation stellt aktuell den Goldstandard in der Therapie dar. Eingesetzt werden Methylphenidatpräparate in retardierter und nicht retardierter Form. Zudem wird Lisdexamphetamin als Zweitlinienmedikation bei fehlender Wirksamkeit zweier Methylphenidatpräparate eingesetzt. Die Medikamente zeigen in der Regel eine sehr gute Wirksamkeit bei guter Verträglichkeit.Sie werden typischerweise nicht jeden Tag eingenommen, sondern können von den Patienten je nach Bedarf eingesetzt werden.
Eine sehr gute Wirkung vor allem auf die Aufmerksamkeit zeigen auch die neuen Antidepressiva Agomelatin und Vortioxetin. Ein Vorteil dieser Medikamente ist, dass es anders als bei den Methylphenidatpräparaten nicht zu Spiegelschwankungen kommt und dass es sich dabei nicht um Betäubungsmittel handelt. Konkrete Studien hierzu stehen aber noch aus.
Zudem ist eine Kombination von Psychoedukation, medizinischer Therapie und je nach Bedarf Patientencoaching hocheffizient und wirksam.
ADHS begünstigt Schmerzsyndrome
Neuere Studien zeigen eine Korrelation des ADHS mit Schmerzsyndromen. ADHS begünstigt muskulär bedingte Probleme und Fehlhaltungen, was zu teils schwerwiegenden Schmerzsyndromen führen kann. Bisherige Studien haben gezeigt, dass Patienten mit ADHS einen generell erhöhten Muskeltonus haben. Auch hier ist eine Verbesserung bei gleichzeitiger Behandlung des ADHS zu sehen. Leider wird bei diesen Störungen das ADHS noch zu wenig erkannt und berücksichtigt, da entsprechende Studien fehlen.
Fazit
ADHS ist sehr häufig und immer mehr Patienten nehmen deswegen die Leistungen des Hausarztes in Anspruch. Beschrieben wurde die Symptomatik bereits von Hippokrates. Zur Verhinderung möglicher Komorbiditäten und Folgeerkrankungen ist daher ein gewisses Grundwissen bei den Hausärzten notwendig. Es stehen hocheffiziente Medikamente und Therapieoptionen zur Verfügung, um die Patienten zu unterstützen und zu therapieren.
Literatur:
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