
Überaktive Blase
Autorin:
Dr. med. Laurence Bastien Pournaras
FMH Urologie et Urologie opératoire
Centre Lémanique d’Urologie
1006 Lausanne
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Von einer überaktiven Blase können sowohl Männer als auch Frauen aller Altersgruppen betroffen sein. Das Krankheitsbild wird oft lange verschwiegen, weil es sich um ein Tabuthema handelt, und es geht mit Symptomen einher, die die Lebensqualität der Patienten stark beeinträchtigen und aufgrund der damit verbundenen Scham zu sozialer Isolation führen können. Die überaktive Blase korrekt zu diagnostizieren und den Patienten Lösungen anzubieten, ist deshalb von entscheidender Bedeutung.
Keypoints
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Bei überaktiver Blase immer nach einer lokalen Ursache suchen und diese behandeln (Infektion).
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Beschwerden und Auswirkungen auf die Lebensqualität der Patienten beurteilen.
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Risikofaktoren ermitteln und die Patienten auffordern, die Lebensweise entsprechend anzupassen.
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Die Beeinträchtigungen durch die Symptome und die Nebenwirkungen der medikamentösen Therapien sorgfältig gegeneinander abwägen und insbesondere bei älteren Patienten eine minimale Medikation anstreben.
Definition und Pathophysiologie
Die überaktive Blase (OAB, «overactive bladder») ist ein häufiges klinisches Syndrom, das nach der im Jahr 2010 überarbeiteten Definition der ICS (International Continence Society) durch das Auftreten von imperativem Harndrang mit oder ohne Harninkontinenz, in der Regel begleitet von Pollakisurie oder Nykturie, ohne Vorliegen einer Harnwegsinfektion oder einer sonstigen erkennbaren lokalen organischen Pathologie (Konkrement, Tumor, Infektion usw.) gekennzeichnet ist.1
Die OAB ist auf eine erhöhte Sensibilität der Blasenwand zurückzuführen, die zu unfreiwilligen Kontraktionen und dadurch zu einem erhöhten Blasendruck oder sogar Inkontinenz führt. Sie kann suprasakralen (spinalen oder zerebralen) neurologischen Ursprungs sein, ist in den meisten Fällen jedoch idiopathisch und mit einer Detrusorinstabilität assoziiert. Inzwischen ist erwiesen, dass die sensiblen Nervenbahnen und die Regulation in der Blasenwand mit Stimulation der muskarinergen Rezeptoren in der Füllungs- und Speicherungsphase eine wesentliche Rolle spielen.2 Der imperative Harndrang folgt nicht mehr linear der Blasenfüllung, sondern unterscheidet sich von normalem Harndrang sowohl durch seine Intensität (stärker) als auch durch seine Dringlichkeit (unmittelbarer).3 In diesem Artikel betrachten wir ausschliesslich die nicht neurologisch bedingte überaktive Blase.
Epidemiologie und Prävalenz
Die Prävalenz liegt je nach geografischer Region zwischen 11 und 35% und ist bei Frauen höher als bei Männern (Geschlechterverhältnis: 1,4). Lediglich ein Drittel der Patienten, die an einer überaktiven Blase leiden, nimmt deshalb ärztliche Hilfe in Anspruch, was erklärt, warum das Krankheitsbild unterschätzt wird und die Prävalenz so schwer zu quantifizieren ist. Es ist jedoch erwiesen, dass die OAB-Prävalenz mit dem Alter zunimmt und die OAB als progrediente Erkrankung eingestuft werden kann.4
Diagnostik
Klinische Symptome
Die Anamnese ist von zentraler Bedeutung, da sich die Diagnostik meist auf das klinische Bild und die Symptome des Patienten stützt. Ein pathognomonisches Symptom gibt es nicht, und das Beschwerdebild kann sehr variabel sein:
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Pollakisurie am Tag oder in der Nacht,
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Blasenschmerzen, die von leichten Beschwerden oder einem suprapubischen Druck bis hin zu Krämpfen reichen können, die durch die Blasenfüllung verstärkt werden,
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ständiger Harndrang, Gefühl der unvollständigen Blasenentleerung,
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imperativer Harndrang oder Inkontinenz,
Brennen in der Harnröhre.
Es ist unerlässlich, sich ausreichend Zeit für das Gespräch mit den Patienten zu nehmen, um die Auswirkungen auf ihre Lebensqualität zu ermitteln, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und nicht zwangsläufig dem Schweregrad der Symptome entsprechen.
Die Erhebung der Begleiterkrankungen und der gesamten medizinischen und chirurgischen Vorgeschichte ist ebenfalls unverzichtbar. Dabei soll auch die kognitive Funktion des Patienten ermittelt werden.
Miktionstagebuch
Durch Dokumentation der Blasenentleerungen über drei aufeinanderfolgende Tage können eine Polyurie am Tag bzw. eine nächtliche Polyurie (nächtliches Miktionsvolumen ≥30% der gesamten Diurese) ausgeschlossen und das Miktionsvolumen und die funktionelle Blasenkapazität ermittelt werden (Abb. 1).
Klinische Untersuchung
Ziel dabei ist es, einen Harnverhalt oder Tumor durch Palpation des Abdomens auszuschliessen, bei der Frau die vulvovaginale Atrophie zu quantifizieren und einen eventuellen Genitalprolaps zu erkennen und beim Mann einen eventuellen Prostatatumor zu erkennen.
Ergänzende Untersuchungen
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Urinstix und Uricult: Als Erstes sollte eine Infektion ausgeschlossen werden. Durch diese Untersuchung kann auch eine eventuelle mikroskopische Hämaturie identifiziert werden. Sollte sich diese bestätigen, ist eine Zystoskopie indiziert.
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Zystoskopie: Diese wird ambulant unter örtlicher Betäubung mit einem flexiblen (Regelfall) oder starren Zystoskop durchgeführt. Sie ermöglicht den Ausschluss einer Reizquelle als Ursache der OAB, etwa eines Tumors, eines Hindernisses oder eines Fremdkörpers, insbesondere bei chirurgisch vorbehandelten Patientinnen (suburethrales Band).
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Urodynamische Untersuchung: Diese ist komplex und wird nicht routinemässig oder zur Diagnostik empfohlen, jedoch in diagnostisch schwierigen Fällen mit widersprüchlichen Symptomen, neurologischer Pathologie oder chirurgischer Vorbehandlung, insbesondere von Harninkontinenz, oder auch zur Untersuchung auf ein subvesikales Hindernis. Sie ermöglicht den Nachweis einer Detrusorhyperaktivität.
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Sonstige: Sonografie (Ausschluss von Restharn), CT, MRT usw. – je nach den Befunden der klinischen Untersuchung.
Therapie
Lebensstil- und Ernährungsregeln
Zunächst empfiehlt es sich, mit den Patienten über hilfreiche Anpassungen von Lebensweise und Ernährung zu sprechen.
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Begrenzung der Flüssigkeitszufuhr im Fall von Polyurie oder bessere Verteilung im Fall nächtlicher Pollakisurie (Zufuhr nach 18 Uhr begrenzen und auf «versteckte» Flüssigkeitsquellen wie Gemüse, Obst, Suppen usw. achten),
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Massnahmen gegen Obstipation,
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Meiden von reizauslösenden Stoffen: Kaffee (höchstens 2 Tassen pro Tag), Tee, zuckerhaltige Getränke, Tabak,
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Gewichtsreduktion im Fall von Übergewicht,
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Entspannungsmethoden zur Stressreduktion.
Physiotherapie
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Stärkung des Beckenbodens: Die Wirkung der Physiotherapie beruht auf der Stärkung der Beckenbodenmuskulatur, deren Kontrolle und der Aneignung eines perinealen Inhibitionsreflexes.5
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Kognitive Verhaltenstherapie: Ziel ist es, die Blase und die Reflexe «neu zu programmieren», um die Abstände zwischen den Blasenentleerungen durch verschiedene Techniken zu verlängern, zum Beispiel durch Lenken der Aufmerksamkeit weg vom Harndrang.
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Stimulation des Nervus tibialis posterior: Diese kann transkutan oder perkutan und allein oder in Kombination mit anderen Verfahren erfolgen und ist sowohl bei idiopathischer6 als auch bei neurologischer OAB wirksam.
Lokale Hormontherapie
Sie dient der Behandlung der vulvovaginalen Atrophie und ermöglicht so eine Besserung sämtlicher Symptome der OAB.7 Im Gegensatz zur systemischen Hormontherapie ist sie nicht mit anderen – insbesondere onkologischen – Problemen verbunden und ist deshalb zu empfehlen. Bei lokaler Anwendung ist die systemische Aufnahme minimal und führt nicht zu einem erhöhten Risiko für Brustkrebs.
Medikamentöse Therapie
Die medikamentösen Therapien greifen an den Rezeptoren der Blase an. Leider sind sie mit zahlreichen Nebenwirkungen verbunden, die zu einer eingeschränkten Therapietreue führen. Angewendet werden zwei Klassen von Arzneimitteln.
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Antimuskarinerge Anticholinergika: Sie hemmen das Acetylcholin, den Neurotransmitter des parasympathischen Nervensystems, der die Kontraktion der Blase bewirkt. Es stehen zahlreiche Wirkstoffe zur Verfügung: Trospiumchlorid (Spasmo-Urgenin®, Spasmex®), Solifenacin (Vesicare®), Oxybutynin (Ditropan®), Tolterodin (Detrusitol®), Fesoterodin (Toviaz®), Darifenacin (Emselex®). Die wichtigsten Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit (50%), Akkommodationsstörungen, Obstipation, Somnolenz usw.
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Beta-3-Sympathomimetika:Dies sind potente Agonisten der β3-Adrenozeptoren, die das sympathische Nervensystem stimulieren und die Kontraktion der Blase hemmen. Es gibt nur einen Wirkstoff: Mirabegron (Betmiga®). Die wichtigste Nebenwirkung sind Veränderungen des Blutdrucks. Es kann allein oder in Kombination mit Anticholinergika angewendet werden.
Interventionelle Therapie
Es gibt zwei interventionelle Therapien, die den Patienten angeboten werden können, falls andere Therapien scheitern oder nicht gut vertragen werden. Sie können auch eine Alternative zu Anticholinergika sein, deren Wirkungen bei Langzeitanwendung noch nicht bekannt sind.
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S3-Neuromodulation: Unter Röntgenkontrolle wird über das Foramen der dritten Sakralwurzel eine vierpolige Elektrode auf dieser platziert und mit einem elektrischen Impulsgeber verbunden. Die Implantation erfolgt in zwei Schritten. Zunächst findet eine Testphase statt und anschliessend wird der Stimulator unter die Haut implantiert. Der Wirkmechanismus ist weitgehend unbekannt, doch die Wirksamkeit des Verfahrens ist erwiesen – je nach untersuchtem Symptom sind Besserungsraten von 29–90% beschrieben.8
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Botulinumtoxin-Injektionen in den Detrusor: Botulinumtoxin hemmt die gestörte Freisetzung bestimmter Neurotransmitter wie Acetylcholin aus dem Urothel. Die Injektion in den Blasenmuskel erfolgt endoskopisch, eventuell unter örtlicher Betäubung. Wesentliche Risiken sind eine Dysurie oder ein akuter Harnverhalt. Die Patienten müssen entsprechend aufgeklärt und zuvor eventuell in der Selbstkatheterisierung geschult werden. Das optimale Nutzen-Risiko-Verhältnis scheint mit der Dosis von 100IE erreicht werden zu können. Bei dieser liegt die Harnverhaltrate bei 6,9%. Da die Wirksamkeit des Produkts mit der Zeit nachlässt, sind im Durchschnitt nach 6 bis 9 Monaten erneute Injektionen erforderlich.9
Fazit
Die OAB ist ein häufiges klinisches Syndrom, das starke Auswirkungen auf die Lebensqualität der Patienten hat. Auf Grundlage der Anamnese können Risikofaktoren erkannt und behandelt werden, und wenn dies nicht ausreicht, können den Patienten eine Physiotherapie oder medikamentöse Therapien angeboten werden. Die interventionelle Therapie ist Patienten vorbehalten, die nicht auf die anderen Therapien ansprechen oder diese schlecht vertragen.
Literatur:
1 Haylen BT et al.: Neurourol Urodyn 2010; 21: 4-20 2 Bourcier AP et al. (eds.): Pelvic floor disorders. Philadelphia: Elsevier Saunders; 2004 3 Prérequis de l’enseignement du collège Français des Urologues: Incontinence, trouble mictionnels et statique pelvienne. 4 Phé V, Gamé X: Prog Urol 2020; 30: 866-72 5 Bo K et al.: Physiotherapy 2020; 106: 65-76 6 Manríquez V et al.: Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 2016; 196: 6-10 7 Cody JD et al.: Cochrane Database Syst Rev 2012; 10: CD001405 8 Tutolo M et al.: Eur Urol 2018; 73: 406-18 9 Phé V, Gamé X: Prog Urol 2020; 30: 920-30