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Vergiftungsinformationszentrale

„Wir beweisen täglich, dass Telemedizin funktioniert“

Dieser Kontakt sollte für den Ernstfall eingespeichert sein: die Telefonnummer der Vergiftungsinformationszentrale (VIZ), die im Vorjahr rund 29000 Mal gewählt wurde. Das Team der VIZ wird von Dr. Tara Arif geleitet. Im Interview mit ALLGEMEINE+ erzählt die Allgemeinmedizinerin über ihren spannenden beruflichen Alltag als toxikologische Expertin.

Es ist die Horrorvision für alle Eltern: Ein Kind schluckt in einem unbeobachteten Moment die rosa Herztablette der Oma oder öffnet eine Putzmittelflasche und kostet vom Allzweckreiniger. Was Erziehungsberechtigte regelmäßig in Panik ausbrechen lässt, ist das „tägliche Brot“ für die zwölf Mitarbeiter*innen der Vergiftungsinformationszentrale der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) am Wiener Stubenring. Besonders gefährdet sind Kinder zwischen dem ersten und dem fünften Lebensjahr, wie VIZ-Leiterin Dr. Tara Arif weiß: „In diesem Alter greifen Kinder alles an und nehmen es dann in den Mund.“ In vielen Fällen können die Expert*innen Entwarnung geben und die besorgten Eltern beruhigen. Trotzdem kommt es leider immer wieder zu lebensbedrohlichen Vorfällen. Im Gespräch mit ALLGEMEINE+ erzählt die Allgemeinmedizinerin mit toxikologischer Zusatzausbildung über ihren Traumberuf, den Alltag mit Vergiftungsnotfällen, die richtigen Erste-Hilfe-Maßnahmen im Akutfall und was Hausärzte proaktiv tun können, um solche Schreckensmomente zu verhindern.

Frau Dr. Arif, wie verlief denn Ihr persönlicher Werdegang zur Medizinerin?

T. Arif: Ich wollte seit meinem 16. Lebensjahr unbedingt Ärztin werden und war auch die Erste in meiner Familie, die Medizin studiert hat. Mir wurde nach diesem Entschluss entschieden vonseiten der Familie und auch von Lehrern vom Studium abgeraten, mit der Begründung: „Es gibt zu viele Ärzte, du wirst keine Arbeit finden.“ Viele junge Menschen stellen sich heute die Frage, wieso sie Medizin studieren sollen und die Verantwortung für andere Menschen übernehmen sollen. Für mich gab es damals trotz aller Widerstände kein Wenn und Aber, ich habe es durchgezogen und nie bereut. Mein Zugang dazu ist noch immer der gleiche wie damals: Die Gesundheit ist das höchste Gut. Wenn ich mich mit Befunden auskenne, wenn ich weiß, wie der menschliche Körper funktioniert, dann habe ich allein dadurch schon so viel in meinem Leben gewonnen. Ich hatte Höhen und Tiefen im Studium und auch in meinem Werdegang– trotzdem bin ich mir sicher, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war.

Notruf bei Verdacht auf Vergiftungen

Die Vergiftungsinformationszentrale (VIZ) ist unter der Notrufnummer 01 406 43 43 erreichbar. Toxikologisch geschulte Ärztinnen und Ärzte beantworten täglich von 0 bis 24 Uhr Fragen zu akuten Vergiftungen bzw. einem Verdacht darauf. Die VIZ unterstützt auch medizinisches Personal mit diagnostischem und therapeutischem Wissen.

Zur individuellen Beratung sind folgende Informationen hilfreich:

• Was: möglichst genaue Bezeichnung der Substanz bzw. des Produkts etc.

• Wie viel: möglichst genaue Mengenangabe

• Wer: Alter, Gewicht, Geschlecht und Zustand der betroffenen Person(en)

• Wann: Zeitpunkt des Geschehens

• Wo: Ort des Geschehens

• Wie: Verschlucken, Einatmen, Hautkontakt etc.

• Warum: versehentlich oder absichtlich

Im Jahr 2021 wurden rund 27900 Anfragen entgegengenommen und 23900 Anrufe zu konkreten toxikologischen Problemen bearbeitet. Die Anrufe kamen überwiegend aus der Bevölkerung (65%), von Krankenhauspersonal (22%) und Rettungskräften (7%). Rund 51% der Betroffenen waren Kinder. Rund 550 Fälle betrafen konkrete Anfragen zu Tieren.

War die Allgemeinmedizin von Beginn an Ihr persönlicher Fokus?

T. Arif: Ich wollte zuerst eigentlich Kinderärztin werden und habe meine Dissertation zum Thema „Effect of dopamine on the cerebral blood flow velocities in preterm newborn infants“, also über den Einfluss von Dopamin auf die zerebralen Hirndurchblutungsgeschwindigkeiten bei Frühgeborenen, verfasst. Am AKH habe ich aber gemerkt, dass das doch nicht meins ist. Letztendlich habe ich meinen Turnus in der Wiener Rudolfstiftung absolviert und wusste: Hier bin ich richtig. Das war zu einem Zeitpunkt, als es noch immer geheißen hat: Es gibt zu viele Ärzte. Eine Facharztausbildungsstelle zu finden war sehr schwierig. Dabei hätte mich auch die Dermatologie sehr interessiert. Nach dem Turnus habe ich mich nach einer Stelle umgesehen und die Vergiftungsinformationszentrale war gerade auf der Suche nach einem Mitarbeiter. Ich kannte diesen Service davor gar nicht, obwohl es die VIZ seit 50 Jahren gibt. Mittlerweile bin ich seit 2007 hier, 2014 habe ich die Leitung übernommen, die ich mit meinem Kollegen DDr. Dieter Genser teile.

Der Bereich Toxikologie ist sicher sehr umfangreich, wie sind Sie da „hineingewachsen“?

T. Arif: Vor 2007 habe ich mich mit dem Thema überhaupt nicht befasst, weil der Bereich der Toxikologie im Studium nur marginal gestreift wurde. Seither habe ich als geborener Stadtmensch nicht nur sehr viel über Pflanzen und Pilze, sondern auch über viele andere Bereiche gelernt. Aber auch nach so langer Zeit kann man nicht alles wissen.

<< In ca. drei Viertel der Anrufe können wir davon ausgehen, dass der Vorfall glimpflich endet. Dann ist der Fall innerhalb von 5 bis 8 Minuten erledigt.>>
Dr. Tara Arif, Leitung Vergiftungsinformationszentrale

Uns stehen GottseiDank umfassende Datenbanken zur Verfügung, die auf dem letzten Stand sind. Das ist wichtig, weil sich zum Beispiel vor allem bei Kindern immer wieder die toxikologisch bedenkliche Dosierung von Substanzen ändert. Dazu kommen viele Graubereiche und Faktoren wie Vorerkrankungen, die es zu bedenken gilt, oder mögliche Wechselwirkungen mit der Dauermedikation etc. Daher müssen wir – auch wenn wir jahrelange Erfahrung haben – immer wieder in den Datenbanken nachsehen.

Bei Pilzen können wir Fachbücher und eine externe Expertin heranziehen, um die Art zu identifizieren. Wenn uns Leute anrufen, um potenzielle Giftpflanzen ausfindig zu machen, empfehlen wir allerdings zumeist, Fachleute wie einen Gärtner zurate zu ziehen.

Haben Sie noch eine Zusatzausbildung absolviert bzw. wird diese benötigt, um in der VIZ arbeiten zu können?

T. Arif: Wir sind allesamt Allgemeinmediziner*innen. Die Einschulung findet in der VIZ statt, ab dem dritten Monat sind Nachtdienste mit Backup durch einen erfahrenen Kollegen möglich. Der Rest ist wie so oft in der Medizin „learning by doing“. Zusätzlich gibt es auch die Möglichkeit, den Titel „Humantoxikologe“ der GfKT, der Gesellschaft für Klinische Toxikologie, zu erwerben. Sie ist die Fachgesellschaft der deutschsprachigen Giftinformationszentren. Davon gibt es sieben in Deutschland, ein Zentrum in Zürich und die VIZ in Wien. Innerhalb der Gesellschaft findet ein reger fachlicher Austausch statt, da laufend neue Erkenntnisse dazukommen. Im Moment gibt es beispielsweise viele Informationen zur toxikologischen Relevanz von E-Liquids und Nikotin-Pouches, die vor allem unter jungen Menschen immer beliebter werden. Dazu holen wir auch Erfahrungswerte der European Association of Poison Centres and Clinical Toxicologists, EAPCCT, ein. Im Fall der Nikotin-Pouches tauschen wir uns speziell mit Kollegen aus Schweden aus, die damit bereits viel Erfahrung haben.

Um auf die Ausbildung zurückzukommen: Wir sind gerade dabei, ein detailliertes Konzept zu erstellen, damit die Ausbildung in der VIZ in naher Zukunft offiziell anerkannt wird. Wenn es soweit ist, hoffen wir auf Unterstützung vonseiten der Ärztekammer.

Wie darf man sichdenn Ihren Berufsalltag in der Vergiftungsinformationszentrale vorstellen?
© privat

Dr. Tara Arif an ihrem Arbeitsplatz in der Vergiftungsinformationszentrale in Wien

T. Arif: Wir sind 7 Tage die Woche 24 Stunden erreichbar und beweisen täglich, dass Telemedizin funktioniert. Zwischen 8 und 18 Uhr sind mindestens zwei Mitarbeiter in der Zentrale am Wiener Stubenring anwesend. Zu Mittag findet eine Übergabe mit Besprechung statt, in der spezielle Fälle erörtert werden. Zwischen 18 und 8 Uhr bzw. am Wochenende ist eine Person im Einsatz. Die meisten Anrufer sind Laien, die schnell eine Auskunft benötigen, aber es melden sich auch solche mit medizinischem Hintergrund.

Zuerst werden die wichtigsten Daten chronologisch anhand eines standardisierten Dokumentationsblatts handschriftlich erhoben. In den meisten Fällen kann man die Anrufer relativ schnell mit der Aussage beruhigen: Da ist nichts Schlimmes zu erwarten. Das bedeutet konkret: Es ist nicht notwendig, ins Krankenhaus zu fahren. Bevor man sich also auf den Weg zum Arzt oder ins Krankenhaus macht, ist es definitiv am vernünftigsten, zuerst in der VIZ anzurufen. Damit erspart man sich, vielleicht Stunden im Warteraum verbringen zu müssen, bevor Entwarnung gegeben wird. Das gilt auch für Hausärzte, sollten sie mit einem entsprechenden Notfall konfrontiert sein. Es kommt auch vor, dass psychosomatisch bedingte Symptome auftreten, die wir mit unserer Erfahrung gut abklären können.

Zu welchen Maßnahmen raten Sie in der Erstversorgung, wenn Kinder bedenkliche Substanzen geschluckt haben? Welche Dinge sollte man tunlichst vermeiden?

T. Arif: Im Falle der oralen Aufnahme von toxischen Stoffen sollte man bei kleinen Kindern die Mundhöhle mit einem feuchten Tuch auswischen, ältere Kinder können die Mundhöhle selbst ein paar Mal mit Wasser ausspülen. Auf keinen Fall sollte man versuchen, das Kind zum Erbrechen zu bringen, oder es Salzwasser trinken lassen, weil das Salz selbst auch eine Intoxikation auslösen kann. Falls nachgetrunken werden kann, empfehlen wir dazu ausschließlich Wasser und keine Milch.

Praxistipp:

Infomaterial von Ärzten für Eltern

In beinahe jedem Haushalt besteht ein Vergiftungsrisiko für Kinder. Die buntenFarben von Haushaltschemikalien und Medikamenten, die ansprechende Haptik von portioniertem Flüssigwaschmittel oder die glänzenden Knopfbatterien wirken auf Kleinkinder äußerst anziehend. Aufklärungsposter und Checkliste von VIZ und Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) weisen auf die Gefahren hin. Download-Link

Eine Magenspülung wird mittlerweile nur noch in seltenen Fällen im Krankenhaus nach Aufnahme einer potenziell lebensbedrohlichen Dosis von bestimmten Substanzen durchgeführt. Die Indikation dafür ist sehr eingeschränkt. Was wir relativ häufig empfehlen, ist die Gabe von Aktivkohle – aber auch das ausschließlich im Krankenhaus-Setting unter medizinischer Aufsicht, weil nur ein Krankenhaus weitere notwendige Untersuchungen bzw. Therapien garantieren kann. Daher empfehlen wir auch allen niedergelassenen Ärzten, uns unverzüglich zu kontaktieren, sollte ihnen ein Vergiftungsfall in der Praxis unterkommen. Wir können sie dann konkret darüber informieren, welche weiteren Schritte durchzuführen sind und ob ein Krankenhaus aufgesucht werden muss. Ein Hausarzt hat in den seltensten Fällen die Möglichkeit, einen Patienten stundenlang zu monitorisieren. Das geht nur im Krankenhaus.

Nachdem Ihr Team alles genau dokumentiert, gibt es wahrscheinlich auch konkrete und aktuelle Statistiken zu den Anrufen?

T. Arif: 2002 verzeichnete die VIZ rund 24000 Anrufe, 2022 waren es 29000.In ca. drei Viertel der Anrufe können wir beschwichtigen und davon ausgehen, dass der Vorfall glimpflich ausgeht. Dann ist der Fall innerhalb von fünf bis acht Minuten erledigt.

Wir sind für ganz Österreich zuständig, auch Auslandsösterreicher rufen bei uns an. Da die Vergiftungsinformationszentren in Deutschland bisweilen überlastet sind, kontaktieren uns manchmal auch Personen aus diesem Raum. Wir registrieren auch relativ viele Anrufe in der Nacht.

Bei den Gründen für die Anrufe liegt der Schwerpunkt bei Haushaltschemikalien, dann folgen Medikamente und mit saisonal bedingten Spitzen die Aufnahme von verdächtigen Pilzen bzw. Pflanzen. Leider hat auch die Zahl der Suizidversuche mit toxischen Substanzen in den vergangenen Jahren zugenommen, wobei die Betroffenen immer jünger werden.

Gesellschaft für Klinische Toxikologie

Die Gesellschaft für Klinische Toxikologie (GfKT) ist die Fachgesellschaft der deutschsprachigen Giftinformationszentren (GIZ) und Klinischen Toxikologen. Sie vereint über 70 Ärzte und Naturwissenschaftler, die klinisch-toxikologisch beraten, diagnostizieren, behandeln und forschen. Durch kontinuierliche Arbeit in sechs Arbeitsgruppen fördert die Gesellschaft aktiv die Harmonisierung der Dokumentation humantoxikologischer Daten und die Standardisierung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen bei Vergiftungen auf nationaler und internationaler Ebene. Die Jahrestagung der Gesellschaft für Klinische Toxikologie findet 2023 vom 15. bis 17. November in Wien statt. Weitere Informationen: www.klinitox.de

Bei den Chemikalien gibt es laut unseren Auswertungen einen Peak vom ersten bis zum fünften Lebensjahr. Kinder in diesem Alter sind einfach sehr neugierig, greifen alles an und stecken leider auch vieles in den Mund. Da kann man als Elternteil bzw. Aufsichtsperson noch so aufmerksam sein, die Kinder sind oft schneller. Daher ist es auch unsere Aufgabe, die Anrufer zu beruhigen und ihnen im Verlauf des Gespräches so gut wie möglich die Schuldgefühle zu nehmen.

An dieser Stelle mein Rat an alle Eltern: Professionelle Chemikalien sollten auf keinen Fall im Haushalt aufbewahrt werden. Mit diesen Substanzen passieren die schweren Vergiftungen, insbesondere von Kleinkindern. 2022 haben wir dazu eine Aufklärungskampagne mit dem Kuratorium für Verkehrssicherheit lanciert und Poster und Flyer für Allgemeinmediziner und Pädiater erstellt, die sie zur Vergiftungsprophylaxe an die Eltern unter ihren Patienten weitergeben können (s. Infobox oben).

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Bericht:
Mag. Andrea Fallent

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