
„Treat-to-Target auch in der Gichttherapie einführen“
Unsere Gesprächspartnerin:
Prim. Dr. Judith Sautner
Leiterin der 2. Medizinischen Abteilung mit Schwerpunkt Rheumatologie, Landesklinikum Korneuburg-Stockerau
1. Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Rheumatologie & Rehabilitation (ÖGR)
Das Interview führte Dr. Felicitas Witte
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Eine Strategie, bestehend aus stationärem Gichtmanagement plus nachstationärer Betreuung durch Pflegende, erhöht die Chance – so eine Studie aus London–, dass Gichtpatienten ihre Tabletten nehmen und mehr von ihnen die Harnsäurezielwerte erreichen.1 Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie weniger Schübe haben und seltener stationär aufgenommen werden müssen. Prim. Judith Sautner erklärt, wie man diese Strategie in Bezug auf Österreich interpretieren könnte und wie man die Hürden einer unzureichenden Therapietreue überwindet.
Was halten Sie von der pflegebasierten Strategie?
J. Sautner: Viel. Wir wissen aus einer früheren Studie aus Großbritannien,2 die die Kolleg:innen auch zitieren, dass die Therapieadhärenz bei Gicht durch Kontakthalten mit den Patient:innen durch medizinisches Personal, wie hier durch Pflegekräfte, wesentlich verbessert werden kann. Es bringt multiple Benefits und spart Kosten. Die Studie hat sehr schön gezeigt, dass die Maßnahme Verbesserungen in etlichen Dimensionen gebracht hat: Mehr Patient:innen erhielten eine harnsäuresenkende Therapie (ULT), das Harnsäureziel wurde stringenter verfolgt und auch das Management nach Entlassung konnte verbessert werden.
Ein wesentlicher Aspekt war der Start der ULT im Gichtanfall ohne Steigerung der stationären Wiederaufnahmefrequenz. Das finde ich besonders wichtig, weil die ULT nach Beherrschung des akuten Gichtanfalls noch immer oft nicht gleich implementiert wird. Ein echtes Plus der Strategie ist zudem die Stärkung der Kommunikation und des therapeutischen Zusammenspiels zwischen intra- und extramuralem Bereich.
Haben die Resultate Sie überrascht?
J. Sautner: Mich hat überrascht, dass trotz einer ULT-Rate von >90% nach der Intervention nur 26,8% der Patient:innen ihren Harnsäurezielbereich erreicht haben, und das nach einer ausreichenden Therapiedauer von 6Monaten.
Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
J. Sautner: Auf die möglichen Ursachen gehen die Autor:innen in der Diskussion ein. Zum einen ist es eine Kohorte von Patient:innen mit „schwerer Gicht“, die stationär aufgenommen werden mussten. In solchen Fällen kann es sich schwieriger gestalten, das angestrebte Harnsäureziel zu erreichen, beziehungsweise sind hier in der Regel geringere Harnsäurespiegel von <5 mg/dl anzustreben. Zum anderen könnte es auch am gewählten Setting (mit einer einzigen Telefonvisite durch das Pflegepersonal mit nachfolgender Übergabe an den niedergelassenen Bereich) liegen. So ein singulärer Kontakt scheint womöglich für das Erreichen der Harnsäurezielwerte nicht ausreichend zu sein.
Welche Stärken sehen Sie im Studienaufbau und welche Schwächen?
J. Sautner: Die Idee ist gut, das Anliegen ist wichtig und der Studienaufbau adäquat. Eine Stärke der Studie ist sicherlich, dass der stationäre Aufenthalt der Patient:innen genutzt wird – sozusagen als „window of opportunity“ –, um Informationen über die Krankheit, mögliche Risiken und die Notwendigkeit der Behandlung zu vermitteln. Im Spital ist naturgemäß dafür mehr Zeit als in der Ordination oder Ambulanz.
Abgesehen von der einmaligen Telefonvisite habe ich wenig Kritik. Die Studie lief über 3 Jahre, der Großteil davon fiel in die Zeit der Covid-19-Pandemie. Das muss in der Interpretation dieser Daten berücksichtigt werden, weil hier aufgrund veränderter und eingeschränkter Verfügbarkeit von medizinischen Leistungen die Betreuung von Patient:innen nicht der Normalsituation entsprochen hat.
Die im Methodenteil geforderte Bestätigung der Diagnose durch Gelenkspunktion beziehungsweise durch einen Rheumatologen wurde nicht konsequent umgesetzt. Ich habe auch keinen Hinweis auf muskuloskelettale Sonografien gefunden. Diese Untersuchung wäre eine sehr einfache und kostengünstige Methode, um die Diagnose zu bestätigen. Allerdings braucht es dafür Personal, das heute leider oft fehlt.
Sollte so eine pflegebasierte Strategie auch in Österreich implementiert werden?
J. Sautner: Gicht wird in Österreich überwiegend im niedergelassenen Bereich behandelt. Notaufnahmen in Krankenhäusern werden von Gichtpatient:innen, wenn überhaupt, nur außerhalb der Öffnungszeiten von Ordinationen oder Primary-Health-Care-Zentren (PHCs) frequentiert. Aufgrund der deutlich geringeren Frequenz an stationären Aufnahmen von Gichtpatient:innen ist der Druck, diese zu reduzieren, in Österreich nicht so groß wie in Großbritannien.
Allerdings sind die Daten für mich ein Hinweis darauf, ähnliche Strategien auch bei uns zu implementieren: vielleicht im niedergelassenen Bereich mit Telefonvisiten durch Ordinationen oder PHCs. Alle Maßnahmen, die eine Verbesserung der Versorgung bringen, sind zu befürworten – insofern ein klares Ja meinerseits zur Frage einer intensiveren Betreuung und eines Follow-ups von Gichtpatient:innen.
Schwierigkeiten bei der direkten Betreuung gibt es nur ganz selten mit der Bewilligung von chefarztpflichtigen Medikamenten, beispielsweise IL-1-Blockern für schwere, therapierefraktäre Fälle. Das größte Problem sehe ich derzeit im Mangel an qualifiziertem Personal für solche Initiativen.
Wie gehen Sie bei der Betreuung Ihrer stationären Gichtpatient:innen vor?
J. Sautner: Wir ordnen als Diagnostik häufig eine Gelenkssonografie an, seltener zusätzlich eine DECT-Computertomografie, zum Beispiel wenn wir differenzialdiagnostisch nicht sicher sind. Beide Untersuchungsmodi können für die Patient:innen die Krankheit sehr gut visualisieren und dadurch die Therapieadhärenz steigern.
Wir führen bei unseren stationären Gichtpatient:innen außerdem häufig Gelenkspunktionen durch: zur Diagnostik, aber auch zur Glukokortikoidapplikation als sehr rasch wirkende, entzündungshemmende und schmerzstillende Therapieoption.
Abseits von ärztlichen Visiten und Gesprächen erfolgt auch eine diätologische Beratung und wir setzen natürlich auch die Ernährungsempfehlungen bei Gicht und Hyperurikämie der Österreichischen Gesellschaft für Rheumatologie & Rehabilitation ein (Abb. 1).3
Wie sorgen Sie dafür, dass Patient:innen mit Gichtanfall ihre Medikamente sorgsam nehmen und keinen Rückfall erleiden?
J. Sautner: Die Patient:innen bekommen bei der Entlassung einen detaillierten Arztbrief mit der Medikation und dem für sie festgesetzten Harnsäurezielwert, ebenso gegebenenfalls die Empfehlung zur Anfallsprophylaxe (Medikament und Dauer) sowie Informationen zu notwendigen Laborkontrollen. Meist vereinbaren wir mit den Patient:innen bei Entlassung zumindest einen Kontrolltermin in unserer Rheumaambulanz oder sie werden im niedergelassenen Bereich von Fachärzt:innen für Allgemeinmedizin oder Rheumatologie, die sich um die Kontinuität kümmern, weiter betreut. Das funktioniert in der Regel gut.
Bei vielen anderen Krankheiten gibt es schon länger Treat-to-Target(T2T)-Strategien. Warum noch nicht für die Gicht?
J. Sautner: Dass wir auch bei der Gicht flächendeckend zu T2T kommen, ist mir ein großes Anliegen. Gicht ist für mich ein Idealbeispiel für T2T, denn wir haben die Harnsäure als messbaren Biomarker. Wie wir in einer eigenen österreichweiten Untersuchung mit Allgemeinmediziner:innen zeigen konnten, ist der Harnsäurezielbereich von <6 mg/dl sehr gut im Bewusstsein der niedergelassenen Ärzt:innen verankert.4 Allerdings werden die dafür notwendigen Laborkontrollen mit Serum-Harnsäurespiegeln und Nierenfunktion nicht immer regelmäßig durchgeführt.
Auch muss man sagen, dass wir bei den Harnsäurezielwerten zunehmend differenzierter vorgehen und das Ziel je nach Komorbiditäten festlegen sollten. So sollte man beispielsweise bei neurodegenerativen Komorbiditäten im Sinne einer Neuroprotektion die Harnsäure nicht zu tief absenken und über 3mg/dl bleiben. Sie sehen: The lower is not always the better.
Nach welchen Leitlinien richten Sie sich?
J. Sautner: Für das Management der Gicht gibt es eine Fülle an internationalen und nationalen Leitlinien. Ich kann nicht für andere sprechen, aber ich persönlich verwende gerne die EULAR- und die sehr praxisorientierten 3e-Leitlinien: 2013 haben wir diese 3e-Leitlinien für Österreich adaptiert.5 Nationale Adaptierungen von Leitlinien sind aufgrund unterschiedlicher Gesundheitssysteme und Medikamentenverfügbarkeit mitunter sinnvoll und notwendig.
Warum wollen Patient:innen oft keine harnsäuresenkende Therapie einnehmen?
J. Sautner: Die Medikamente, die eingesetzt werden, um einen Gichtanfall möglichst rasch zu beenden, akzeptieren Patient:innen bereitwillig: wegen der starken Schmerzen im Anfall. Bei der konsekutiven Harnsäuresenkung braucht es dann das Gespräch und die Information, dass neben der Anfallsprophylaxe bei rezidivierenden Anfällen die ULT mittel- und langfristig notwendig ist, um die Gicht in den Griff zu bekommen. „Nach dem Anfall ist vor dem nächsten Anfall, wenn man das Problem der erhöhten Harnsäure nicht in den Griff bekommt“, sage ich den Patient:innen. Wir haben in Österreich derzeit zwar Urikostatika, aber kein Urikosurikum am Markt zur Verfügung, das für manche Patient:innen die geeignete Therapie wäre. Wenn man das geben will, gibt es aktuell nur die Möglichkeit, Medikamente wie etwa Benzbromaron aus dem benachbarten Ausland zu besorgen.
Was sehen Sie als größte Hürden in der Gichttherapie?
J. Sautner: Gichtpatient:innen sollten – nach Beherrschung des Gichtanfalls und Einleitung einer ULT – oft auch eine Lebensstiländerung angehen, unter anderem kontrolliert abnehmen und ihren Alkohol- und Fruktosekonsum einschränken. Das bedeutet für viele eine große Einschränkung ihrer bisherigen Lebensgewohnheiten, was verständlicherweise nicht immer einfach umzusetzen ist.
Was ich den Patient:innen versuche zu vermitteln, ist: Gicht ist in erster Linie eine vererbbare Stoffwechselerkrankung. Viele Betroffene fühlen sich „schuldig“ an ihrer Erkrankung, weil Gichtschübe im Gefolge von diätetischen oder alkoholischen Entgleisungen auftreten können. Dieses Schuldgefühl sollte man dringend ansprechen und den Patient:innen vielmehr vermitteln, dass sie durch konsequente medikamentöse Therapie, diätetische Maßnahmen, körperliche Bewegung und Körpergewichtsmanagement die Möglichkeit haben, ihre Erkrankung selbst positiv zu beeinflussen. All diese Maßnahmen wirken sich nicht nur positiv auf die Gicht aus, sondern auch auf die allgemeine Stoffwechselsituation der Betroffenen. Wir haben es in der Regel mit Menschen mit internistischen Komorbiditäten zu tun, die oft gleichzeitig an Hypertonie, Typ-2-Diabetes und chronischen Herz- oder Nierenkrankheiten leiden. Dies erfordert nicht nur eine adäquate Therapie ihrer Gicht, sondern auch ein allgemeininternistisches Screening, eine allgemeininternistische Betreuung und die sorgfältige Behandlung der Komorbiditäten.
Literatur:
1 Russell MD et al.: Implementing treat-to-target urate-lowering therapy during hospitalizations for gout flares. Rheumatology 2023; kead 574 2 Doherty M et al.: Efficacy and cost-effectiveness of nurse-led care involving education and engagement of patients and a treat-to-target urate-lowering strategy versus usual care for gout: a randomised controlled trial. Lancet 2018; 392: 1403-12 3 Sautner J et al.: 2022 update of the Austrian Society of Rheumatology and Rehabilitation nutrition and lifestyle recommendations for patients with gout and hyperuricemia. Wien Klin Wochenschr 2022; 134: 546-54 4 Sautner J, Sautner T: Compliance of primary care providers with gout treatment recommendations — lessons to learn: results of a nationwide survey. Front Med 2020; 7: 244
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