
Großer Datensatz zur Epidemiologie von Autoimmunkrankheiten
Bericht:
Dr. Felicitas Witte
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Warum ein Mensch eine Autoimmunkrankheit bekommt und ein anderer nicht, ist noch nicht geklärt. Die Gene spielen eine Rolle, aber auch Umweltfaktoren. Eine groß angelegte Kohortenstudie aus Großbritannien belegt jetzt, was Ärzte in der Praxis beobachten: Autoimmunkrankheiten treten oft zusammen auf und Umweltfaktoren scheinen eine Rolle zu spielen. Wie groß die jeweiligen Einflüsse sind, hängt aber offenbar von der Art der Autoimmunkrankheit ab.
Die meisten Autoimmunkrankheiten sind nicht heilbar und es bedarf einer lebenslangen Therapie. Immer wieder wird berichtet, Autoimmunkrankheiten hätten zugenommen – womöglich wegen Umweltfaktoren oder des Lebensstils. Es gab aber bislang kaum umfangreiche Daten, die Inzidenz und Prävalenz über einen längeren Zeitraum untersucht haben. Für Ärzte, Forscher und Gesundheitspolitiker wäre interessant zu wissen, ob Autoimmunkrankheiten zunehmen und warum. Es könnten beispielsweise frühzeitig mehr Behandlungsmöglichkeiten eingeplant, Forschungsgelder bereitgestellt oder präventive Maßnahmen getroffen werden. Eine Forschergruppe hat jetzt Daten zu mehr als 22 Millionen Menschen mit Autoimmunkrankheiten aus dem Vereinigten Königreich veröffentlicht.1 Das Fazit: An einer Autoimmunkrankheit leidet etwa einer von zehn Menschen, und je nach Krankheit hat die Prävalenz in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger zugenommen. Die Forscher haben Zusammenhänge mit dem sozioökonomischen Status, mit der Jahreszeit und mit dem Wohnort der Erkrankten beobachtet, die darauf hinweisen, dass neben der Genetik auch Umweltfaktoren in der Pathogenese von Autoimmunkrankheiten eine Rolle spielen. Das bietet die Möglichkeit, diese Faktoren aktiv zu beeinflussen.
Methoden
Die Forscher analysierten Patientendaten aus dem Clinical Practice Research Datalink (CPRD) von 1985 bis 2019. Die CPRD-Datenbank enthält anonymisierte Daten von rund einem Fünftel der Bevölkerung und repräsentiert gut die Einwohner hinsichtlich Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit. Die CPRD-Daten wurden dann mittels verschiedener statistischer Methoden mit Daten zu Klinikaufenthalten und ambulanten Arztbesuchen in Zusammenhang gebracht.
Die Forscher untersuchten 19 der häufigsten Autoimmunkrankheiten: Morbus Addison, Morbus Bechterew, Zöliakie, kindlicher Typ-1-Diabetes, Morbus Basedow, Hashimoto-Thyreoiditis, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, multiple Sklerose, Myasthenia gravis, perniziöse Anämie, Polymyalgia rheumatica, primäre biliäre Cholangitis, Psoriasis, rheumatoide Arthritis inklusive Subtypen (wie Still-Syndrom oder Caplan-Syndrom), des Weiteren Sjögren-Syndrom, systemischer Lupus erythematodes, systemische Sklerose, Vaskulitis und Vitiligo. In den Datenbanken suchten die Forscher nach den Diagnosen dieser Krankheiten mithilfe der ICD-10-Codes und zwei anderer dort standardmäßig verwendeter Codierungsschlüsseln. Zusätzlich identifizierten sie bestimmte Krankheiten dadurch, ob die Patienten Medikamente dagegen erhalten hatten. Das waren jugendlicher Typ-1-Diabetes und Hashimoto-Thyreoiditis.
Resultate
In die finale Analyse gingen Daten von 22009375 Personen im Zeitraum von 2000 bis 2019 ein. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 1123789 Autoimmunkrankheiten bei 978872 Menschen neu diagnostiziert. Bei Diagnosestellung waren die Betroffenen im Schnitt 54 Jahre alt. 63,9% waren Frauen.
Insgesamt stieg die Zahl der Patienten mit Autoimmunkrankheiten im Studienzeitraum nur leicht an: von 2000–2002 bis 2017–2019 von 7,7% auf 11,0%. Die Zahl der Autoimmunkrankheiten insgesamt nahm aber um 22% zu. Dies lag vor allem daran, dass bei Menschen mit einer Autoimmunkrankheit eine zweite diagnostiziert wurde. Die meisten Anstiege wurden bei Zöliakie, Morbus Basedow und Sjögren-Syndrom beobachtet, während die Anzahl von Hashimoto-Erkrankungen und perniziöser Anämie leicht abnahm.
Die Autoimmunkrankheiten traten in jedem Lebensalter auf, das mittlere Alter bei Diagnose variierte aber von Krankheit zu Krankheit. Bei einigen stieg die Neuerkrankungsrate mit dem Alter, etwa bei Morbus Basedow, perniziöser Anämie und rheumatoider Arthritis. Andere wurden in der Regel bei Kindern unter fünf Jahren diagnostiziert, das waren Morbus Addison, Zöliakie, kindlicher Typ-1-Diabetes, Psoriasis, Vitiligo und Vaskulitiden – vor allem Purpura Schönlein-Henoch, Kawasaki-Krankheit und Glomerulonephritis. Bei anderen Krankheiten lag der Altersgipfel im mittleren Lebensalter, beispielsweise bei multipler Sklerose oder systemischem Lupus erythematodes. Manche hatten zwei Altersgipfel, einen in der Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter, den anderen später im Leben. Das war unter anderem der Fall bei Zöliakie und chronisch-entzündlichen Darmkrankheiten.
Nur drei der untersuchten Autoimmunkrankheiten traten häufiger bei Männern auf: Morbus Bechterew, kindlicher Typ-1-Diabetes und Myasthenia gravis. Menschen mit dem geringsten sozioökonomischen Status litten häufiger unter Morbus Basedow, rheumatoider Arthritis, perniziöser Anämie oder systemischem Lupus erythematodes als die mit dem höchsten. Bei anderen Krankheiten – etwa Hashimoto-Thyreoiditis oder entzündliche Darmerkrankungen – war ein sozioökonomischer Gradient nicht zu erkennen. An Zöliakie und Polymyalgia rheumatica erkrankten am häufigsten die Leute mit dem höchsten sozioökonomischen Status.
Auch geografisch zeigten sich leichte Unterschiede in der Inzidenz: Polymyalgia rheumatica, Typ-1-Diabetes und Zöliakie traten häufiger außerhalb Londons auf, Sjögren-Syndrom, Lupus und Vitiligo dagegen seltener. Eine perniziöse Anämie wurde am häufigsten im Norden Englands beobachtet. Typ-1-Diabetes wurde häufiger in den Wintermonaten diagnostiziert und Vitiligo im Sommer; bei den anderen Krankheiten zeigte sich keine saisonale Variabilität.
Eine Autoimmunkrankheit trat oft mit einer anderen auf, aber das Risiko hierfür hing von der Krankheit ab. So war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ein Patient mit Sjögren-Syndrom, systemischem Lupus erythematodes oder systemischer Sklerose jeweils auch eine der anderen Kollagenosen hatte, während bei Patienten mit multipler Sklerose meist keine andere Autoimmunkrankheit diagnostiziert wurde. Vitiligo trat bei ihnen sogar seltener auf. Personen mit juvenilem Typ-1-Diabetes wiederum erkrankten signifikant häufiger an Morbus Addison, Zöliakie und Schilddrüsenerkrankungen.
Schlussfolgerungen
Fazit der Autoren: Die Ergebnisse seien ein wichtiges neues Puzzleteil in der Ätiologie der Autoimmunkrankheiten, die jeden zehnten Menschen betreffen und beträchtliche Gesundheitsressourcen verbrauchen. Die sozioökonomischen, saisonalen und regionalen Unterschiede würden darauf hinweisen, dass Umweltfaktoren in der Pathogenese bestimmter Autoimmunkrankheiten eine Rolle spielen. Das gemeinsame Auftreten mancher Autoimmunkrankheiten weise auf gemeinsame pathogenetische Mechanismen oder prädisponierende Faktoren, insbesondere bei Bindegewebserkrankungen und endokrinen Erkrankungen.
Kommentar
„Enorme Zahl von Patientendaten“
Prof. Dr. Oliver Distler, Direktor der Klinik für Rheumatologie im Universitätsspital Zürich
Die Ergebnisse haben mich nicht überrascht. Das, was die Kollegen herausgefunden haben, beobachten wir in der klinischen Praxis. Beeindruckt hat mich aber die enorme Zahl von Patientendaten.
Von solch großen Registern können wir hierzulande nur träumen.
Dass bestimmte Autoimmunkrankheiten heute öfter diagnostiziert werden als früher, lässt sich erklären. So wissen wir heute zum einen besser, wie man Krankheiten im frühen Stadium diagnostiziert. Das trifft zum Beispiel auf die Kollagenosen zu und in der Studie wurde Sjögren-Syndrom ja auch häufiger diagnostiziert. Zum anderen hat das Bewusstsein für die Krankheiten zugenommen. Patienten gehen mit ihren Symptomen vielleicht früher zum Arzt und die Ärzte denken eher daran, danach zu suchen.
Dass manche Autoimmunkrankheiten öfter gemeinsam auftreten als andere, weist auf eine gemeinsame Pathogenese. So hat vermutlich multiple Sklerose einen ganz anderen Entstehungsmechanismus als die anderen Krankheiten. Im Gegensatz dazu liegt den Kollagenosen ein ähnlicher Pathomechanismus zugrunde, weshalb sie öfter gemeinsam auftreten.
Dass vier Krankheiten – Morbus Basedow, perniziöse Anämie, rheumatoide Arthritis und Lupus – einen klaren Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status aufwiesen, zeigt uns, dass womöglich Umweltfaktoren die Krankheiten maßgeblich mit verursachen. So wissen wir beispielsweise von der rheumatoiden Arthritis, dass Rauchen das Risiko erhöht, daran zu erkranken. Es gibt Hinweise, dass Menschen geringer sozialer Schichten mehr rauchen, was dann erklären könnte, warum sie öfter an rheumatoider Arthritis erkranken. Beim Lupus könnte das an einem Bias der Studie liegen: Wir wissen, dass die ethnische Zugehörigkeit beim systemischen Lupus eine Rolle spielt. So haben dunkelhäutige Menschen ein höheres Risiko, an einem klinisch relevanten, schwereren Verlauf zu erkranken. Nun könnte es sein, dass in der Studie die Menschen mit geringerem sozioökonomischem Status überzufällig häufig dunkelhäutige Menschen waren. Die Autoren konnten leider nicht nach der ethnischen Zugehörigkeit stratifizieren. Dasselbe Problem haben wir bei der Interpretation der geografischen Einflüsse. So trat ein Lupus in bestimmten Regionen Englands häufiger auf als in anderen. Aber vielleicht lebten in diesen Regionen überzufällig mehr Menschen mit anderem ethnischem Hintergrund. Ähnliche Limitierungen haben wir bei den anderen Autoimmunkrankheiten.
Eine weitere Limitierung der Studie ist, dass die Diagnosen mittels ICD- und anderer Codes erhoben wurden und nicht durch eine erneute ärztliche Untersuchung bestätigt wurden. Dies war aufgrund der riesigen Patientenzahlen auch nicht möglich. Jeder von uns weiß, dass die Codierung mit Fehlern behaftet ist. Manchmal ist man sich beispielsweise unsicher, welchen Code man vergeben soll, und nimmt dann den naheliegendsten. Oder man vergibt mehrere Codes und in die Analyse ist dann nur einer eingegangen. Aber die Forscher haben aus dem Datensatz das Beste gemacht.
Die Studie zeigte auch, dass fast jede Autoimmunkrankheit das Risiko erhöhte, zusätzlich einen Morbus Addison zu bekommen. Bei der Interpretation der Daten wäre ich aber vorsichtig. Denn insgesamt wurde in den 19 Jahren nur 4319-mal ein Morbus Addison diagnostiziert – das ist im Verhältnis zu den riesigen Gesamtzahlen so wenig, dass der Zusammenhang auch zufällig zustande gekommen sein könnte.
Für die Praxis ziehe ich keine Konsequenzen aus der Studie. Die Ergebnisse sind vor allem wissenschaftlich interessant und eine solide, seriöse Grundlage für darauf aufbauende Studien. Abgesehen davon: Wir dürfen nicht übersehen, dass die Studie Assoziationen zeigt, keine Kausalitäten. Mit der Studie ist daher keinesfalls bewiesen, dass Armut oder ein bestimmter Wohnort das Risiko für gewisse Autoimmunkrankheiten erhöht. Nun müssen die Zusammenhänge in weiteren Studien reproduziert werden. Idealerweise wären das groß angelegte, prospektive Studien. Ich sehe die Studie als Aufruf, die Zusammenhänge nun detailliert zu untersuchen.
Literatur:
1 Conrad N et al.: Incidence, prevalence, and co-occurrence of autoimmune disorders over time and by age, sex, and socioeconomic status: a population-based cohort study of 22 million individuals in the UK. Lancet 2023; 401(10391): 1878-90
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