
Zwangsmaßnahmen: nachher – vorher – weniger
Autorinnen:
Dr. Lieselotte Mahler
Anna Oster
Theodor-Wenzel-Werk e.V.
Berlin
E-Mail: Lieselotte.Mahler@tww-berlin.de
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Die Psychiatrie bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Zwangsvermeidung und staatlichem Ordnungsauftrag. Um Zwang auf ein absolutes Minimum zu reduzieren, muss die vollständige Vermeidung zum Ziel gesetzt werden. Die Weiter- und Neuentwicklung von Versorgungskonzepten in und außerhalb der Psychiatrie sind notwendig, um dieses Ziel zu verfolgen.
Keypoints
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Um Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum zu reduzieren, muss die vollständige Vermeidung von Zwang zum Ziel gesetzt werden.
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Komplexe Interventionen wie das Weddinger Modell können Zwangsmaßnahmen signifikant reduzieren.
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Trotz konsequenter Zwangsvermeidung bleibt insbesondere die Aufnahmesituation ein Risikozeitpunkt. Das zeigt, dass zahlreiche Eskalationen außerhalb und vor der Aufnahme in die Psychiatrie stattfinden.
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Interventionen müssen daher auch außerhalb der Psychiatrie ansetzen. Anzustreben sind eine gesamtgesellschaftliche Übernahme von Verantwortung und die Schaffung weiterer pflichtversorgender Strukturen.
Spannungsfeld Psychiatrie
Die Versorgungspsychiatrie befindet sich in einem gesellschaftlichen, rechtlichen und ethischen Spannungsfeld, dessen Extreme in den letzten Jahren zahlreich diskutiert wurden. Einerseits ist die Psychiatrie mit Pflichtversorgung befugt und verpflichtet, Unterbringungen und Zwangsmaßnahmen bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung durchzuführen. Wird dieser Seite zu viel Bedeutung zugemessen, wird die Psychiatrie zur Ordnungshüterin und es entsteht ein starker Bezug zum Justizsystem. In der Folge stehen bei der Behandlung die Sicherung und der Ordnungsauftrag im Vordergrund, der psychiatrische Behandlungsauftrag gerät in den Hintergrund. Dem entgegenstehend gibt es andererseits – verstärkt seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention – Vertreter:innen, die eine Psychiatrie grundsätzlich ohne jegliche Art von Zwang fordern. Behandlungen sollen nur freiwillig und mit ausschließlicher Orientierung am Behandlungsauftrag erfolgen. Die Gefahr ist dabei allerdings eine Loslösung der Psychiatrie von einer Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung und vom daran gebundenen Versorgungsauftrag. Infolgedessen wäre auch die Sicherheit eines Behandlungsplatzes nicht mehr gegeben.
Die von den meisten psychiatrisch Tätigen vertretene Haltung liegt zwischen diesen beiden Extremen. Sie fordert Zwang nur als Ultima Ratio und die Reduktion von Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum. Der Versorgungsauftrag wird als wichtiges Instrument zur Sicherung von Versorgung verstanden. Der Behandlungsauftrag steht – auch bei unfreiwilligen Behandlungen – im Vordergrund. Diese Haltung ist weitgehend akzeptiert und rechtlich legitimiert. Es besteht allerdings die Gefahr, sich auf dem Bestreben nach Reduktion von Zwang auszuruhen.
„Zero coercion“?
Das Ziel muss daher sein, Zwangsmaßnahmen vollständig zu vermeiden – auch wenn dies in der Praxis nicht möglich sein wird –, um das absolute Minimum zu erreichen. Was aber wäre nötig, um Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie vollständig zu eliminieren?
Orientierung kann das „Zero Suicides Model“1 geben, das zum Ziel hat, die Zahl der Suizide auf null zu setzen. Ausgehend von den gleichen Grundannahmen, nämlich dass Suizide nicht komplett vermieden werden können, wird dies dennoch zum Ziel gesetzt, um das maximale Maß der Reduktion zu erreichen. Ana Theodoridou hat die sieben Schritte dieses Modells auf dieDurchführung von Zwangsmaßnahmen übertragen.2
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Veränderung der Organisationskultur in Bezug auf Zwangsvermeidung schaffen
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Ausbildung von kompetentem und fürsorglichem Personal
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Identifikation von Patient:innen mit Risiko für Zwangsmaßnahmen durch Screenings
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Spezifischer Behandlungsplan für alle Personen mit Risiko für Zwang
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Behandlung von aggressiven Gedanken und aggressivem Verhalten mit evidenzbasierten Behandlungsmethoden
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Konsistente und unterstützende Überleitung von Personen zwischen verschiedenen Settings
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Kontinuierliche Qualitätsverbesserung durch neue Strategien und Verfahren
Übertragen auf die psychiatrische Praxis bedeutet dies, (1) komplexe Modelle zur Reduktion von Zwang zu entwickeln, Mitarbeitende zu schulen und sie einzuführen, (2) Risikofaktoren und -situationen für Zwangsmaßnahmen zu identifizieren und (3) auf der Evidenz basierende weiterführende Ansätze zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen im Rahmen umfassender Versorgungskonzepte auch außerhalb der Psychiatrie zu entwickeln.
Komplexe Modelle zur Reduktion von Zwang
Aus der Forschung gibt es umfassende Daten zu gewalt- und zwangsreduzierenden Maßnahmen. So wissen wir, dass beispielsweise große Stationen, geschlossene Türen, inkonsistente Absprachen und zu wenig Personal zu mehr Eskalationen und Zwangsmaßnahmen führen. Neben organisatorischen und baulichen Maßnahmen sind hier komplexe Interventionen wie das Weddinger Modell oder Safewards von besonderer Bedeutung, weil sie verschiedene Möglichkeiten zur Reduktion von Gewalt und Zwang integrieren und so besonders wirksam sind.3,4 Die S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang (DGPPN 2018)5 stellt sämtliche evidenzbasierten Maßnahmen in diesem Bereich zusammen und empfiehlt die Einführung der benannten komplexen Interventionen. Im Folgenden sollen einige wesentliche Aspekte am Beispiel des Weddinger Modells dargestellt werden. Das Weddinger Modell ist ein recoveryorientiertes Psychiatriekonzept, dessen primäre Ziele konsequente Transparenz, Partizipation und eine individualisierte Behandlung sind. Es kombiniert verschiedene Interventionen zu strukturellen Veränderungen auf psychiatrischen Stationen (z.B. Veränderung der Visiten und der Therapieplanung, Genesungs-begleiter:innen als feste Teammitglieder, trialogische Arbeit und Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen) mit einer konsequent recoveryorientierten therapeutischen Haltung des Teams. Im Weddinger Modell steht der Patient mit seinen Ressourcen, seiner Lebenswelt und seinen individuellen Krankheits- und Genesungskonzepten im Fokus der Behandlung. Die Behandlung erfolgt durch ein multiprofessionelles Bezugstherapeutenteam (MBT), das gemeinsam für die gesamte Behandlung über verschiedene Behandlungssettings zuständig ist.3 Eine authentische therapeutische Beziehung steht bei der Arbeit nach dem Weddinger Modell im Vordergrund. Mit dem Weddinger Modell wird die Qualität der Behandlung verbessert und mechanische Zwangsmaßnahmen (Isolierung und Fixierung) werden signifikant verringert.6,7 Zusätzlich werden Zwangsmedikation und die tägliche freiwillige Dosis von Psychopharmaka signifikant reduziert.8
Identifikation von Risikofaktoren
Durch die Veränderung von Haltungen und Strukturen in der Psychiatrie können Eskalationen und Zwang deutlich reduziert werden. Modelle wie das Weddinger Modell wurden umfassend erforscht und es lässt sich zeigen, dass die Zahl an Übergriffen und Zwangsmaßnahmen auf akutpsychiatrischen Stationen ganz wesentlich reduziert werden kann.9
Es bleibt die Frage, bei wem, in welchen Situationen und wann Eskalationen und Zwangsmaßnahmen letztlich noch stattfinden. In einer Berliner Versorgungsklinik eines „urbanen Brennpunktes“, die mit dem Weddinger Modell Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum reduziert hat,6,8 wurde dies untersucht. Bereits gut belegte Risikofaktoren wie junges Alter, männliches Geschlecht, bestimmte Diagnosen (z.B. Schizophrenie oder Manie) sowie frühere Gewalterfahrungen konnten in dieser Studie bestätigt werden. Auch zeigt sich, dass Aggressionen signifikant häufiger bei unfreiwilligen Aufnahmen, mit Fremdaggression im Vorfeld der Aufnahme und bei Vorstellung durch die Polizei auftreten.10,11 Zusätzlich zeigte sich die Sprachbarriere erstmals als eigener signifikanter Risikofaktor für Zwangsmaßnahmen.12
Außerdem wurden die spezifischen Risikosituationen und -zeitpunkte untersucht. Der Zeitpunkt eines hohen Risikos für Zwangsmaßnahmen ist die Aufnahmesituation. Die deutliche Mehrheit der Zwangsmaßnahmen (2018: 81,2%; 2019: 71,6%) fand innerhalb der ersten 24 Stunden statt.10,11 Im Jahr 2019 zeigte sich bei genauerer Untersuchung, dass das Risiko für Zwangsmaßnahmen in den ersten fünf Stunden am höchsten ist. Bei den Patient:innen, bei denen Zwangsmaßnahmen innerhalb der ersten 24 Stunden stattfanden, war zudem die Aufenthaltsdauer signifikant kürzer und die Hälfte dieser Patienten wurde innerhalb der ersten 24 Stunden wieder entlassen. Darüber hinaus waren 70% dieser Patient:innen bei Aufnahme akut intoxikiert, ohne eine weitere psychiatrische Symptomatik und es gab aggressives Verhalten unmittelbar vor der Aufnahme.11 Damit liegt ein Großteil der Eskalationen außerhalb des Einflussbereichs der Psychiatrie. Es zeigt sich, dass die Situation bereits im Vorfeld der Aufnahme entstanden und eskaliert ist, sodass die Psychiatrie die Eskalation nur noch unterbrechen, nicht mehr aber frühzeitig abfangen und verhindern kann.
Entwicklung neuer Versorgungskonzepte (auch außerhalb der Psychiatrie)
In Anbetracht der sich zuspitzenden Belastung der Psychiatrie scheinen die oben dargestellten Studienergebnisse umso bedeutsamer. Die Daten weisen darauf hin, dass ein relevanter Anteil der aktuell in der Psychiatrie stattfindenden Zwangsmaßnahmen zur reinen Verhaltensregulation bzw. -unterbrechung bei fremdaggressiven Personen durchgeführt wird, ohne dass ein psychiatrischer Behandlungsauftrag vorliegt. In diesen Fällen wird die Psychiatrie als pflichtversorgende Institution zur Ordnungshüterin – ohne Behandlungsauftrag. Eine Gefahrenabwehr in polizeilicher Obhut mit bedarfsweisem Hinzuziehen einer Amtsärztin oder – bei somatischer Gefährdung aufgrund der Intoxikation – eine somatische Überwachung in einem Krisenzimmer einer Rettungsstelle mit anschließendem psychiatrischem Konsil zur Klärung der psychiatrischen Behandlungsbedürftigkeit wären wirksamer und würden Eskalationen auf psychiatrischen Stationen reduzieren.
Diese Daten zeigen stellvertretend für zahlreiche andere Fallkonstellationen eine Fehlentwicklung in der psychosozialen Versorgung in Deutschland und damit Ansatzpunkte für neue Versorgungskonzepte auch außerhalb der Psychiatrie. Aus der Praxis lassen sich verschiedenste andere Fallbeispiele aufgreifen, in denen die Psychiatrie Versorgungsaufgaben übernimmt, häufig in Verbindung mit Zwangsmaßnahmen, ohne das Vorliegen einer psychiatrischen Indikation, aufgrund des Fehlens anderer Versorgungsstrukturen (z.B. fehlende therapeutische Wohnformen, keine flächendeckenden niedrigschwelligen Krisenangebote, zu wenig ambulante Psychotherapie für schwer psychisch erkrankte Personen).
Durch die verpflichtende Versorgung in der Psychiatrie können gesellschaftliche Problemlagen und der Mangel an anderen Versorgungsangeboten in die psychiatrische Versorgung ausgelagert werden und dies verstärkt den Fokus auf einen psychiatrischen Ordnungsauftrag. Gerade die recoveryorientierten und personenzentrierten Konzepte erweisen sich in der psychiatrischen Versorgung aber als wirksam, um Zwangsmaßnahmen zu minimieren. Die Psychiatrie muss folglich zu einer konsequenten Orientierung am psychiatrischen Behandlungsauftrag zurückkehren. Rein verhaltensregulierende Maßnahmen sind nicht Zuständigkeit und Aufgabe der psychiatrischen Versorgung. Damit dies möglich ist, muss die gesellschaftliche Verantwortungsübernahme gestärkt werden und andere pflichtversorgende Strukturen müssen geschaffen werden.
Literatur:
1 Labouliere CD et al.: „Zero Suicide“ - A model for reducing suicide in United States behavioral healthcare. Suicidologi 2018; 23(1): 22-30 2 Theodoridou A: Unser Selbstverständnis – gestern, heute, morgen. Vortrag beim Praxisforum Akutpsychiatrie. 2023; Liestal, Schweiz 3 Mahler L et al.: Das Weddinger Modell Ein recoveryorientiertes Psychiatriekonzept. 2., vollständig überarbeitete Auflage, revidierte Ausgabe. Köln: Psychiatrie Verlag; 2024; 4 Bowers L: Safewards: a new model of conflict and containment on psychiatric wards. Psychiatric Ment Health Nurs 2014; 21: 499-508 5 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. 1. Update 2018 (Langversion), Stand: 10.09.2018. Berlin [Heidelberg]: Springer; 2019 6 Czernin K et al.: Auswirkungen der Etablierung des psychiatrischen Behandlungskonzepts „Weddinger Modell“ auf mechanische Zwangsmaßnahmen. Psychiatr Prax 2020; 47: 242-8 7 Korezelidou et al.: Changes in the use of coersive measures after implementation of the recovery-oriented ‚Weddinger Modell‘ in acute psychiatric care (in prep.) 8 Czernin K et al.: Effects of recovery-orientation on the use of forced medication and maximum daily drug dose: The “Weddinger Modell”. Front Psychiatry 2021; 12: 789822 9 Oster A et al.: The Weddinger Modell – A systematic review of the scientific findings to date and experiences from clinical practice. MRAJ 2021; 9 10 Cole C et al.: Correlates of seclusion and restraint of patients admitted to psychiatric inpatient treatment via a German emergency room. J Psychiatr Res 2020; 130: 201-6 11 Cole C et al.: Coercive measures in psychiatry – When do they occur and who is at risk? J Psychiatr Res 2023; 164: 315-21 12 Cole C et al.: Patient communication ability as predictor of involuntary admission and coercive measures in psychiatric inpatient treatment. J Psychiatr Res 2022; 153: 11-7