
Was soll zukünftig in der Psychiatrie gelehrt werden?
Autorin:
Elena Schönthaler, BSc, MSc
Universitätsassistentin und klinische Psychologin Medizinische Universität Graz
E-Mail: elena.schoenthaler@medunigraz.at
Angesichts der derzeitigen Personalkrise im Bereich der Medizin und Pflege, welche sich insbesondere im psychiatrischen Bereich bemerkbar macht, wurde diskutiert, wie zukünftige Behandler:innen nachhaltig ausgebildet werden können, um weiteren Personalmangel zu vermeiden. Folglich wurde die Frage aufgeworfen, was im psychiatrischen Bereich zukünftig gelehrt werden soll. In den letzten Jahren haben sich einige Aspekte herauskristallisiert, die für eine adäquate Ausbildung und somit auch für die Patient:innenversorgung unumgänglich sind.
Keypoints
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Die Ausbildung für psychiatrische Fachkräfte soll nicht zuletzt aufgrund des drohenden Personalmangels um einige Aspekte erweitert werden.
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In der Lehre sollen Themen des Fachwissens, Kommunikationskompetenzen, ethische und rechtliche Aspekte, multikulturelle Sensibilität, Umgang mit Stigmata und Forschung aufgegriffen werden.
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Insbesondere wichtig ist die Integration von Betroffenen und Angehörigen als Erfahrungsexpert:innen in den Lehr- und Lernprozess psychiatrischer Ausbildungen.
Lehre nach dem biopsycho-sozialen Modell
Ein zentraler Punkt, welcher bereits seit Jahren in der Psychiatrie gelernt und gelehrt wird, ist die Diagnostik und Behandlung nach dem biopsychosozialen Modell. Dieses Modell betont die Interaktion zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren bei der Entstehung, Auslösung und Aufrechterhaltung von psychischen Erkrankungen. Da die meisten psychischen Erkrankungen multifaktoriell bedingt sind, ist das biopsychosoziale Modell die Grundlage dafür, dass diese Erkrankungen ganzheitlich behandelt werden. Dieses Modell wird heute vielerorts umgesetzt und erzielt dabei großartige Erfolge. Dementsprechend soll es auch weiterhin theoretisch und praktisch in den Ausbildungscurricula von psychiatrischen Berufen vertreten sein.
Kommunikations- und Beziehungskompetenzen
Die Ausbildung von lösungsorientierten und empathischen Kommunikations- und Beziehungskompetenzen ist eine grundlegende Voraussetzung für die Arbeit mit psychiatrisch behandlungsbedürftigen Menschen. Oftmals werden diese Kompetenzen als gegeben angenommen, jedoch erfordert die Arbeit mit psychisch Erkrankten einen geschulten Kommunikationsstil, welcher in der derzeitigen Lehre noch nicht ausreichend verankert ist. Es erscheint daher wichtig, diesen Aspekt in die Basisausbildung der zukünftigen Behandler:innen vermehrt zu integrieren.
Ethische und rechtliche Aspekte
Ein weiterer Grundpfeiler der Ausbildung im psychiatrischen Bereich, der sich im ständigen Wandel befindet, sind ethische und rechtliche Herausforderungen. Insbesondere in der psychiatrischen Behandlung tauchen Fragen der Selbstbestimmung und Vertraulichkeit auf, welche einer besonderen Schulung bedürfen. Daher ist es wichtig, einerseits den ethischen Aspekt in der Ausbildung zukünftiger Behandler:innen zu betonen und sie auf wichtige ethische Entscheidungen vorzubereiten. Andererseits ist es wichtig, rechtliches Fachwissen zu vermitteln. Um das Bewusstsein für ethische Entscheidungen zu schärfen, ist auch die Supervision durch erfahrene Behandler:innen unumgänglich, die in regelmäßigen Abständen in die Ausbildung integriert sein sollte.
Multikulturelle Sensibilität und der Umgang mit Stigmatisierung
Gerade im psychiatrischen Feld spielt der soziokulturelle Hintergrund der behandelten Person eine größere Rolle als in allen anderen medizinischen Feldern. Bis dato noch unterrepräsentiert in der psychiatrischen Ausbildung ist eine Lehrveranstaltung zur multikulturellen Sensibilität. Die Sensibilität für verschiedene Altersgruppen, Kulturen und ökonomische Hintergründe ist aber die Grundlage für ein Verständnis davon, wie diese Faktoren psychische Gesundheit und Krankheit beeinflussen. Ein weiterer Ankerpunkt in der Ausbildung von Fachkräften im psychiatrischen Bereich sollte der Umgang mit Stigmatisierung sein. Ein adäquater Umgang mit Stigmata vonseiten der Fachkräfte könnte nicht nur den psychisch erkrankten Personen selbst zu einem besseren Umgang damit verhelfen, sondern auch bestehende Stigmata reduzieren. Tatsächlich konnte in vorangehenden Forschungsarbeiten gezeigt werden, dass eine eigene „Stigmata-Schulung“ in den psychiatrischen Ausbildungen dazu führte, dass positive Einstellungen bezüglich psychischer Erkrankungen und der Psychiatrie geformt wurden. Hierbei wurden zumeist theoretische Einheiten mit praktischen Erfahrungen kombiniert, wobei als praktische Erfahrung einerseits der direkte Kontakt mit Personen in Behandlung galt, andererseits aber auch der indirekte Kontakt (z.B. über Videoaufnahmen, in denen eine betroffene Person von ihren Erfahrungen erzählte). Ein sogenanntes „Anti-Stigma“-Fach sollte also in Zukunft stärker in psychiatrische Ausbildungen integriert werden.
Forschung und evidenzbasierte Praxis
Ein moderner Ansatz in der Psychiatrie basiert auf evidenzbasierten Praktiken, die auf wissenschaftlichen Forschungsergebnissen beruhen. In der Ausbildung sollten angehende Fachleute lernen, aktuelle Forschung zu verstehen und in ihre klinische Praxis zu integrieren, um bestmögliche Ergebnisse für die Patient:innen zu erzielen. Umgekehrt sollte auch das, was die behandelten Personen erzählen, den Weg in die Forschung finden. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Forschung an die Bedürfnisse der Patient:innen angepasst wird und diese damit zu wertvollen Erfahrungsexpert:innen macht. Forschungsbetätigung bedeutet, immer mit den neuesten Kenntnissen versorgt zu sein und somit State-of-the-Art-Behandlungen zu gewährleisten. Auch im Hinblick auf die neuesten technologischen Entwicklungen (z.B. künstliche Intelligenz oder Virtual Reality in der Psychiatrie) sollte die Forschung in der Ausbildung hervorgehoben werden, da dies Aspekte sind, die in naher Zukunft viel Raum in der Behandlung einnehmen werden und daher ein gewisses Verständnis erfordern.
Verständnis der psychischen Gesundheit und Krankheit
Ein zentraler Aspekt, der in der Psychiatrie gelehrt werden sollte, ist ein umfassendes Verständnis der psychischen Gesundheit und Krankheit. Dies beinhaltet die Kenntnis der verschiedenen psychischen Erkrankungen sowie von deren Diagnostik und Behandlung. Daneben ist auch die persönliche Erfahrung von Betroffenen wichtig, da Symptome von außen oft nicht sichtbar oder nur mit ausreichend Behandlungserfahrung bemerkbar sind. Auch gibt der Austausch mit Betroffenen den Auszubildenden die Möglichkeit, sich in deren Situation hineinzuversetzen und so Zusammenhänge besser zu verstehen. Für Betroffene stellt dieser Austausch eine ebenso wichtige Ressource dar, da sie in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt werden und dies als positive Strategie im Umgang mit der Erkrankung nutzen könnten. Hierbei ist es auch wichtig, die Angehörigen von Betroffenen miteinzubeziehen, da auch diese eine wertvolle Perspektive in der Ausbildungssituation vermitteln können. Die Interaktion zwischen Betroffenen, Angehörigen und Auszubildenden könnte beispielsweise im Rahmen von designierten Lehrveranstaltungen erfolgen, welche von den Betroffenen oder Angehörigen geführt werden.
Psychiatrische Ausbildungen müssen in Zukunft breitgefächert gestaltet werden, um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden, die psychische Gesundheit und Krankheit mit sich bringen. Dafür reicht fundiertes Fachwissen nicht, sondern es sollten auch Fähigkeiten in der Kommunikation, ethische Aspekte, Umgang mit Stigmata und Forschung gelehrt werden. Am wichtigsten ist jedoch der trialogische Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Auszubildenden, welcher bis dato noch unzureichend in die Ausbildung integriert ist. Die psychiatrische Ausbildung sollte in den kommenden Jahren ebendiesen Austausch fördern, um zukünftige Behandler:innen optimal vorzubereiten.
Literatur:
bei der Verfasserin
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