Wie viel wissen wir über Ernährungs-medizin in der Psychiatrie?
Autorinnen:
Linda Stell1
Sonja Lackner2
Melanie Schweinzer1
Jolana Wagner-Skacel1
Aitak Farzi3
Sabrina Mörkl1
1 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Medizinische Universität Graz
2 Otto Loewi Forschungszentrum für Gefäßbiologie, Immunologie und Entzündung, Lehrstuhl für Immunologie und Pathophysiologie
Med Uni Graz
3 Otto Loewi Forschungszentrum für Gefäßbiologie, Immunologie und Entzündung
Lehrstuhl für Pharmakologie
Med Uni Graz
Korrespondierende Autorin:
Sabrina Mörkl
E-Mail: sabrina.moerkl@medunigraz.at
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In einer internationalen Online-Umfrage gaben 1056 Psychiater*innen, Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen aus 52 Ländern Auskunft über ihr subjektives Ernährungswissen und den Einsatz von Ernährungsinterventionen bei psychischen Erkrankungen. Die Ergebnisse sind beunruhigend und weisen auf einen deutlichen Nachholbedarf in der psychiatrischen und psychologischen Ausbildung hin.
Keypoints
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Die Mehrheit der internationalen Teilnehmer*innen gab an, dass das Thema Ernährung in der Ausbildung nicht behandelt worden sei. Dennoch berichtete mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen, Ernährungsinterventionen (spezielle Diäten und/oder Nahrungsergänzungsmittel) in der Behandlung von Patient*innen mit psychischen Erkrankungen einzusetzen.
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Fast alle (92,9%) Teilnehmer*innen würden ihr Wissen im Bereich Ernährungsmedizin in der Psychiatrie („Nutritional Psychiatry“) gerne erweitern.
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Es besteht dringender Handlungsbedarf in der Ausbildung von Psychiater*innen, Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen zum Thema Nutritional Psychiatry.
Ernährung und Psyche
Menschen mit psychischen Erkrankungen weisen neben einer reduzierten Lebensqualität auch somatische Komorbiditäten (wie metabolisches Syndrom und Herz-Kreislauf-Erkrankungen) auf, die mit einer deutlichen Verminderung der Lebenserwartung von bis zu 15 Jahren assoziiert sind. Die Ursachen dafür sind multifaktoriell, u.a. iatrogen bedingt durch Appetitsteigerung aufgrund psychopharmakologischer Medikation und zu wenig Bewegung. Bedeutsam für die Pathophysiologie psychischer Erkrankungen ist jedoch auch ein proinflammatorischer Ernährungsstil mit hohem Fettanteil und niedrigem Gemüse-/Obstanteil (Western Diet) – dieser gilt als unabhängiger Risikofaktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen und metabolischen Erkrankungen.
Neben der engen klinischen Assoziation zwischen psychischen und somatischen Erkrankungen sind auf neurobiologischer Ebene diverse „common pathways“ – wie chronische inflammatorische Prozesse – bekannt. Veränderungen der bakteriellen Darmbesiedelung (Darmmikrobiom) stehen in enger Assoziation zum Ernährungsverhalten, führen in weiterer Folge zu inflammatorischen Prozessen und werden insbesondere deshalb bei psychischen Erkrankungen aktuell intensiv beforscht. Neueste Studien konnten zeigen, dass durch gezielte Lifestyle-Interventionen (u.a. durch Veränderungen des Ernährungsstils etc.) der Neurotransmitterhaushalt, (Neuro-)Inflammation und Stoffwechselvorgänge, die mit symptomatischen Variablen (Schlaf, Stimmung, Kognition) in Zusammenhang stehen, positiv beeinflusst werden können und dies zu einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität führt.
Nutritional Psychiatry
Nutritional Psychiatry („Ernährungsmedizin in der Psychiatrie“) ist ein aufstrebender Fachbereich der Psychiatrie mit vielversprechenden Forschungsergebnissen, welche auf die tragende Rolle von adjuvanten Ernährungsinterventionen in der Vorbeugung und Behandlung von psychischen Erkrankungen hinweisen. Mikro- und Makronährstoffe gelten als Basisbausteine der Entwicklung des Gehirns und seiner Funktion.
Rezente Arbeiten unterstreichen die kritische Rolle von Ernährung, welche sowohl das Darmmikrobiom, Neurotransmitter, Neuropeptide und das Immunsystem beeinflusst – also jene Prozesse und Systeme, die relevant für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen sind. Ein nachteiliger Ernährungsstil ist ein modifizierbarer Risikofaktor für psychiatrische Erkrankungen. Beispielsweise konnte eine rezente Metaanalyse von 16 randomisierten, kontrollierten Studien (RCT; n=45826) zeigen, dass Ernährungsinterventionen (insbesondere eine mediterrane, pflanzenbasierte Ernährungsweise, reich an Ballaststoffen, Gemüse und Obst) signifikant depressive Symptome verringern konnten (Firth et al., 2019).
Die Effekte von Ernährungsinterventionen auf psychische Erkrankungen sind vergleichbar mit jenen einer Psychotherapie und waren der einer „social support group“ zur Behandlung von Depressionen signifikant überlegen (Stahl et al., 2014; Jacka et al., 2017). Inwiefern Psychiater*innen, Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen ausgebildet sind, um eine entsprechende Beratung zu Ernährungsinterventionen bei Patient*innen mit psychischen Erkrankungen zu gewährleisten, war jedoch nicht bekannt und der Ausgangspunkt für die vorliegende Studie, die kürzlich im Journal „Nutrients“ publiziert wurde (Mörkl/Stell et al., 2021).
Internationale Online-Fragebogen-Erhebung
In dieser internationalen Studie, ausgehend von der Arbeitsgruppe Nutritional Psychiatry der Univ.-Klinik für Psychiatrie und Psychosomatische Medizin der Medizinischen Universität Graz, wurden der Ausbildungsstand und das subjektive Wissen zu Ernährungsmedizin in der Psychiatrie von 1056 Psychiater*innen, Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen aus 52 Ländern erhoben. Insgesamt nahmen im Zeitraum von 22 Monaten (2019 bis 2021) 534 Fachärzt*innen für Psychiatrie, 147 Kolleg*innen in Ausbildung, 511 Psycholog*innen und 44 Psychotherapeut*innen und an der Online-Umfrage teil.
Aus Österreich partizipierten 481 Teilnehmer*innen an der Umfrage. Der Link zum Online-Fragebogen wurde mittels E-Mail an Kolleg*innen und Fachgesellschaften übermittelt, welche wiederum um Weitergabe der Umfrage gebeten wurden. Die Umfrage beinhaltete Fragen zum grundlegenden Wissen in Bezug auf Nutritional Psychiatry, die Ausbildung im Bereich Nutritional Psychiatry, Möglichkeiten, das Wissen zu erweitern, und die Tendenz, Nahrungsergänzungsmittel oder spezielle Diäten in der Praxis zu empfehlen und/oder zu verordnen.
Tab. 1: Von Teilnehmer*innen empfohlene Nahrungs(ergänzungs)mittel und Ernährungsformen zur Behandlung von Patient*innen mit psychischen Erkrankungen
Ergebnisse
Bestehende Kenntnisse rund um den Fachbereich Nutritional Psychiatry wurden von der Mehrheit der Teilnehmer*innen als niedrig eingestuft. Nur acht Teilnehmer*innen stuften ihr Wissen über Nutritional Psychiatry als sehr gut ein (10 bei einer Skala von 1 bis 10). Nahezu drei von vier Psychiater*innen (74,2%) gaben an, in ihrer Facharztausbildung keine spezielle Aus- oder Fortbildung zum Thema Ernährung bei psychischen Erkrankungen besucht zu haben. Auch bei zwei von drei Psycholog*innen (66,3%) wurde im Rahmen der postgraduellen Ausbildung das Thema Nutritional Psychiatry nicht thematisiert. Nur sieben Psycholog*innen gaben an, in der Pflichtlehre Kurse zu diesem Thema gehabt zu haben, hiervon waren sechs aus Österreich. Dennoch berichtete mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen, Ernährungsinterventionen in der Behandlung von Patient*innen mit psychischen Erkrankungen einzusetzen, wobei 58,6% Nahrungsergänzungsmittel und 43,8% spezielle Diäten empfehlen (Tab. 1). Während es für einige Nahrungsergänzungmittel (wie z.B. Kurkuma, Lavendelöl und Baldrian) positive Studien zum Einsatz bei psychischen Erkrankungen gibt, besteht jedoch zum aktuellen Zeitpunkt (noch) keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz über Nutzen, Wirksamkeit und/oder Nebenwirkungen für viele andere Substanzen und Ernährungsformen. Auch Wechselwirkungen mit Antidepressiva können in einigen Fällen relevant werden (z.B. bei Kombination von SSRI mit 5-Hydroxytryptophan, L-Tryptophan oder Griffonia). Erstaunlicherweise zeigte sich sowohl bei den subjektiv eingeschätzten Kenntnissen als auch bei dem Einsatz von Ernährungsinterventionen kein signifikanter Unterschied zwischen Psychiater*innen und den anderen Berufsgruppen.
Die Qualität der Ernährung von Menschen mit psychischen Erkrankungen wurde von allen Berufsgruppen als deutlich schlechter eingeschätzt als die der Allgemeinbevölkerung. Passend hierzu würden fast alle Teilnehmer*innen (92,9%) ihr Wissen im Bereich Nutritional Psychiatry gerne erweitern, wobei Kongresse als der beliebteste Rahmen hierfür genannt wurden (Abb. 1).
Abb. 1: Ergebnisse der weltweiten Online-Umfrage zum Thema „Ernährungsmedizin und Psyche“
Perspektiven
Obwohl von den meisten Kolleg*innen ein mangelndes Wissen über Ernährungsmedizin in der Psychiatrie angegeben wurde, überrascht der häufige und vielfältige Einsatz von Ernährungsinterventionen (durch Empfehlungen spezieller Diäten, Nahrungsmittel oder Supplemente) zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Während es für einige der angegebenen Diäten und Nahrungsergänzungsmittel Evidenz in der Anwendung bei psychischen Erkrankungen gibt, erscheinen andere vollkommen unerforscht. Folglich können potenzielle Schäden oder Wechselwirkungen mit Psychopharmaka durch die eingeleiteten Maßnahmen nicht ausgeschlossen werden. Die Erkenntnisse dieser Studie untermauern den dringenden Handlungsbedarf in der Ausbildung von Psychiater*innen, Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen. Grundwissen in den Bereichen Ernährung, Interaktionen von Ernährung und Psyche sowie evidenzbasierter Ernährungstherapie in der Psychiatrie sollte in die Ausbildung dieser Berufsgruppen integriert werden und Eingang in das biopsychosoziale Behandlungskonzept psychiatrischer Erkrankungen finden. Im Idealfall sollte hierbei interdisziplinär mit Ernährungswissenschaftler*innen und anderen Expert*innen zusammengearbeitet werden.
Ein erster Schritt zur Verbesserung des Ausbildungssystems wurde an der Medizinischen Universität Graz mit der Gründung des Wahlfachs „Nutritional Psychiatry“ und der Teaching Unit „Ernährungsmedizin in der Psychiatrie“ (Leitung: PD DDr. Sabrina Mörkl) gesetzt. Die Integration des Fachbereichs in der Lehre, sowohl im Grundstudium als auch in der weiterführenden Ausbildung, insbesondere in der Facharztausbildung für Psychiatrie, scheint aus unserer Sicht dringend indiziert.
Literatur:
bei den Verfasserinnen
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