10. Welt-ADHS-Kongress in Prag
Autor: Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch
Co-Präsident SGKJPP Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie Luzern
E-Mail: oliver.bilke@lups.ch
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In Prag fand im Mai der 10. Kongress der World Federation of ADHD statt. Dabei wurden vielfältige Themen abgedeckt – von der Neurobiologie über Komorbiditäten bis hin zu digitalen Gesundheitsapps und kulturellen Themen –, wie Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch aus Luzern berichtet.
Der 10. Welt-ADHS-Kongress in Prag versammelte über vier Tage mehr als 2000 Fachpersonen. Die Themenauswahl richtete sich stark auf Neurodiversität, den Einsatz von elektronischen Medien und Appsystemen sowie Komorbidität und Neurobiologie. Die Teilnehmer:innen kamen zu einem grossen Teil aus aussereuropäischen Ländern, die Präsenz der forschenden Pharmaindustrie war überschaubar.
Themenhighlight Neurodiversität
Das Thema der Neurodiversität bestimmte einerseits hochrangige und gut besuchte Symposien, andererseits aber auch im Rahmen der Industrieausstellung verschiedene Arbeitsgemeinschaften und Computer-Apps. Mit der Neurodiversität und dem damit verbundenen Empowerment der vor allem erwachsenen Patient:innen findet ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel statt. Exemplarisch dafür sind Arbeiten aus Israel mit dem neuen Fragebogen «Positive Attitudes Towards ADHD Scale» (PATAS). Dieser bildet gezielt die positiven Selbstbilder und die Ressourcen der ADHS-Patient:innen ab. Dabei geht es primär um gut strukturierte und mit dem eigenen ADHS kritisch und kreativ umgehende Personen; in einer gewissen Analogie zum hochfunktionierenden Autismus.
Umwelteinflüsse auf ADHS
Ein zweites wichtiges Feld war der Einbezug von Umweltvariablen wie beispielsweise der globalen Erwärmung mit einem exemplarischen Vortrag von Prof. Dr. med. Thomas Müller aus Meiringen. Die Rahmenbedingungen der Ausprägung eines ADHS über die Neuropsychologie hinaus standen hier im Vordergrund. Als weiteres Thema zeigten sich ADHS-Problematiken in den verschiedenen Altersphasen. Dabei ging es um die Differenzierung in die frühe Kindheit mit Früherkennung von Risikogruppen, die späte Kindheit mit dem Vollbild des ADHS, in die Adoleszenz mit vielfältigen psychosozialen Risiken wie Sucht und Gewalt, das junge Erwachsenenalter mit den Problemen bei der Integration in die Gesellschaft und das Arbeitsleben sowie das höhere Erwachsenenalter.
Einsatz von DiGAs bei ADHS
Ein weiteres Hauptthema war der Einsatz von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs). Im Hinblick auf die weltweit, auch in hoch entwickelten Ländern, festzustellende psychiatrische und psychotherapeutische Unterversorgung und die damit einhergehenden langen Wartezeiten haben DiGAs ein Potenzial als ergänzende Angebote für Patient:innen; besonders in Bezug auf den Gedanken der Unterstützung von Selbstmanagement und Selbstorganisation durch KI. Es werden von verschiedenen Industrieunternehmen wie z.B. Medice ausgereifte DiGAs angeboten, in deren Entwicklung sehr viel Energie und Forschung investiert wurden. Andererseits besteht aber in diesem Kontext die Frage, inwieweit solche Appsysteme sich im klinischen Alltag der Patient:innen durchsetzen und konsequente Anwendung finden werden.
Weitere besonders relevante Themen waren die komorbiden Störungen bei ADHS. Dabei ging es vor allem um Schlafstörungen, Angsterkrankungen und Traumata. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, inwieweit beispielsweise bei Missbrauchserleben eine ADHS-Problematik einer zusätzlichen komorbiden oder traumatischen Problematik vorausgeht oder diese vielleicht sogar wahrscheinlicher macht. In einem Grundsatzsymposium von Prof. Edmund Sonuga-Barke vom King’s College London wurden die Zusammenhänge zwischen impulsiv-provozierendem ADHS-Verhalten und (sekundärer) Traumatisierung mit dänischen Registerstudien und weiteren internationalen Daten diskutiert. Die Daten unterstützten die Annahme, dass eine gut therapierte ADHS das Risiko des Erwerbs weiterer psychischer Erkrankungen erheblich verringert.
In den umfangreichen Posterausstellungen zeigten sich faszinierende neurobiologische Detailthemen, aber auch Bearbeitungen von therapierefraktären Störungen, Geschlechtsunterschieden und kulturellen Themen.
Innovationen und Zukunftsthemen
Die Themen Neurodiversität und AI dürften in den nächsten Jahren eine zunehmend wichtigere Rolle spielen. Hierbei ist zu bedenken, dass eine ganze «Generation» von ADHS-Kliniker:innen und Forscher:innen aktuell abtritt. Betrachtet man den Altersdurchschnitt der Referent:innen, insbesondere der Symposiumsleiter:innen, wird man unschwer feststellen, dass es sich hier häufig um «Boomer» und Vertreter der Generation X handelt, während die Patient:innen aus den jüngeren Generationen Alpha, Z oder zunehmend auch Y stammen. Hier wird man Kommunikationsthemen, andere Formen der Gesundheitswahrnehmung und überhaupt die Generationenthematiken stärker in den Blick nehmen müssen. Es stellt sich auch die Frage, inwieweit sich die von den Pionier:innen der ADHS-Forschung gelebte Kombination von Forschung, Klinik und Psychotherapie im interdisziplinären Kontext in der nächsten Expert:innengeneration fortsetzt. Darüber hinaus ist zu beachten, wie hoch der Anteil an Psycholog:innen im Kontrast zum Anteil an Mediziner:innen im gesamten Themenfeld ist. Es ist insgesamt davon auszugehen, dass sich im gesamten psychosozialen kinder- und jugendpsychiatrischen, aber mittelfristig auch im erwachsenenpsychiatrischen Bereich die Arztfokussierung reduziert, das interdisziplinäre Vorgehen wichtiger wird und neben der Psychologie und psychologischen Psychotherapie auch die klinische Sozialarbeit von Bedeutung sein wird. Dies kontrastiert mit gesetzlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen für die Pharmaindustrie, sodass unbedingt zu versuchen ist, im Bereich der DiGAs von vornherein die Fixierung auf rein ärztliche Verordnung und Betreuung zu reduzieren.
Paradigmenwechsel in der ADHS-Behandlung
Der Kongress in Prag machte deutlich: Die Digitalisierung verändert die ADHS-Versorgung grundlegend. DiGAs entwickeln sich von einer interessanten Ergänzung zu einem unverzichtbaren Baustein moderner ADHS-Therapie. Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und personalisierte Algorithmen werden die nächste Generation digitaler ADHS-Interventionen prägen und noch individuellere Behandlungsansätze ermöglichen. Expert:innen aus verschiedenen Ländern berichteten von monatelangen Wartezeiten und Fachkräftemangel. Digitale Interventionen bieten hier enormes Potenzial: Sie überwinden geografische Barrieren, sind unbegrenzt skalierbar und kosteneffizient bei nachgewiesener Wirksamkeit.
Evidenzbasierte Entwicklung und Methodenintegration wichtig
Die wirksamsten DiGAs basieren auf etablierten Therapieverfahren und wurden in kontrollierten Studien validiert. Ein Beispiel präsentierten Prof. Dr. Manfred Döpfner und Dr. Anja Görtz-Dorten vom Centrum für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Uniklinik Köln. Ihre randomisierte kontrollierte Studie zur DiGA hiToco® zeigte gute Ergebnisse. Die App basiert auf dem evidenzbasierten «Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten» (THOP) und wurde als erste ihrer Art vom deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen. Nach 12 Wochen zeigten Kinder signifikante Verbesserungen im Problemverhalten und bei funktionellen Einschränkungen. Die Hälfte der Kinder bemerkte positive Veränderungen im elterlichen Erziehungsverhalten, über 70% der Eltern bewerteten diese als «sehr hilfreich». Eltern berichteten von gesteigerter Erziehungskompetenz und reduziertem Stress. Moderne DiGAs dieser Art adressieren das gesamte Familiensystem. Im Gegensatz zu kinderzentrierten Ansätzen stärken sie Elternkompetenzen und verbessern das Familienklima nachhaltig. Familien erwerben langfristig nutzbare Strategien und Kompetenzen.
Digitale Interventionen entfalten ihre grösste Wirkung in der Integration mit anderen Therapiebausteinen:
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als Erstintervention bei leichteren ADHS-Ausprägungen
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begleitend zur medikamentösen Behandlung
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als Brücke zu oder Ergänzung von Psychotherapie
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zur Nachsorge und Rückfallprophylaxe
Die Zukunft der ADHS-Behandlung wird wohl hybrid sein: eine intelligente Kombination aus digitalen und traditionellen Interventionen. Erfolg hängt von wissenschaftlicher Fundierung, regulatorischer Unterstützung und Integration in bestehende Versorgungsstrukturen ab.
Regulatorische Fortschritte und Herausforderungen
Diese digitalen Ansätze werden die nächste Generation von ADHS-Interventionen mit individuellen Behandlungsansätzen prägen. Deutschland spielt bisher mit seinem DiGA-System eine Vorreiterrolle. Die Möglichkeit der ärztlichen Verordnung und Kostenübernahme ist entscheidend für die Integration in die Regelversorgung. hiToco® kann als ein Beispiel von allen gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden.
Trotz aller Erfolge bestehen Herausforderungen: die digitale Kluft, Datenschutz bei der Anwendung bei Kindern und die Grenzen digitaler Interventionen bei schweren Ausprägungen oder Komorbiditäten ebenso wie das Thema der langfristigen Compliance bzw. Adhärenz.
Fazit
Der 10. Welt-ADHS-Kongress in Prag vom 8. bis 11. Mai 2025 zeigte anhand der Teilnehmer:innenzahl, der Zahl der Präsentationen und der Komplexität der verschiedenen Themengebiete sowie des breiten weltweiten Interesses auf, dass das Thema weiterhin eine erhebliche soziale und medizinische Relevanz hat.
Insgesamt findet ein Paradigmenwechsel statt vom rein medizinisch- bzw. persönlich-psychotherapeutischen Ansatz zu einem integrierten pharmakologisch-digitalisierten Ansatz bei gleichzeitig erheblicher Steigerung in Patient:innenbeteiligung, Empowerment und Neurodiversität.
Quelle:
10th World Congress on ADHD, 8.–11.5.2025, Prag
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