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Suizidprävention im Kanton Zug – Evaluation einer mehrjährigen Kampagne
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Hanspeter Walti
Chefarzt<br> Ambulante Psychiatrische Dienste des Kantons Zug Baar<br> E-Mail: hanspeter.walti@bluewin.ch
30
Min. Lesezeit
01.03.2018
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<p class="article-intro">Im Kanton Zug/Schweiz wurde, basierend auf den Erfahrungen des Zuger Bündnisses gegen Depression und im Rahmen der Strategie Psychische Gesundheit im Kanton Zug, von 2010 bis 2015 eine 6-jährige Kampagne zur Früherkennung und Suizidprävention durchgeführt. Dazu wurde ein umfassender Massnahmenplan verabschiedet. Erste Ergebnisse werden vorgestellt.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Auswertung der Daten zu den Suiziden im Kanton Zug über die letzten 25 Jahre (seit 1991) zeigt eine kontinuierliche Abnahme der Rate nicht assistierter Suizide. Seit 2011 liegt diese im Kanton Zug signifikant unter derjenigen der Schweiz.</li> <li>Die Sicherung von Brücken und die eingeschränkte Verfügbarkeit von Waffen führten zu einer deutlichen Abnahme der Methoden «Sturz aus grosser Höhe» und «Erschiessen».</li> <li>Die im gleichen Zeitraum stark gestiegene Rate assistierter Suizide (Sterbehilfe) erfordert vermehrte Aufmerksamkeit und zusätzliche Begleitforschung.</li> <li>Eine nachhaltige Suizidprävention erfordert langfristige Massnahmen sowie ein kontinuierliches Monitoring der Suizide (nicht assistierte und assistierte) und Suizidversuche.</li> </ul> </div> <p>Im Kanton Zug (120 000 Einwohner) wurde von 2003 bis 2005 schweizweit erstmalig ein Bündnis gegen Depression nach dem Vorbild des Nürnberger Bündnisses durchgeführt. Abgelöst wurden diese Aktivitäten durch die kantonale Strategie «Psychische Gesundheit im Kanton Zug 2007–2012», die in modifizierter Form bis 2020 weitergeführt wird (Gesundheitsdirektion Kanton Zug 2007 und 2013). In Ergänzung zu dieser Strategie und gestützt auf die Untersuchung «Suizide im Kanton Zug 1991–2007» (Walti- Jenny & Walti 2008) entwickelte die Gesundheitsdirektion des Kantons Zug 2009 das Konzept «Früherkennung und Suizidprävention im Kanton Zug 2010–2015» (Gesundheitsdirektion Kanton Zug 2009). Darin wurden neun Ziele zur Früherkennung psychischer Störungen und zur Suizidprävention formuliert und in Anlehnung an nationale und internationale Empfehlungen 40 konkrete Massnahmen vorgeschlagen. Zur Überprüfung der Wirksamkeit der präventiven Massnahmen und zur Früherkennung von neuen Risiken wurde ein differenziertes Monitoring der Suizide im Kanton Zug eingeführt. Mittlerweile liegen kantonale Suizid- Daten der Jahre 1991 bis 2015 vor, die in Zusammenarbeit mit der Zuger Polizei und der Staatsanwaltschaft des Kantons erhoben und kürzlich vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) ausgewertet wurden (Schuler, Walti 2017).</p> <h2>Methode</h2> <p>Zur Evaluation der Ergebnisse und zur Früherkennung von neuen Risiken wurde ein umfangreiches Monitoring der Suizide im Kanton Zug eingeführt, basierend auf den Daten der Staatsanwaltschaft zu den aussergewöhnlichen Todesfällen. Insgesamt wurden 460 Datensätze analysiert (383 nicht assistierte, 77 assistierte Suizide) und die Daten der Periode 2008–2015 (während der Kampagne) mit denjenigen der Periode 1991–2007 (vor der Kampagne) verglichen. Ausserdem wurden die aktuellen Zuger Daten zu den national vom Bundesamt für Statistik erhobenen Daten der Todesursachenstatistik in Relation gesetzt. Bei Letzteren liegt der Fokus auf dem Wohnort der Verstorbenen, bei den Daten der Gesundheitsdirektion Zug liegt er dagegen auf dem Todesort.</p> <h2>Ergebnisse</h2> <p><strong>Zuger Suizidrate unter dem Schweizer Durchschnitt</strong> Die Auswertung der Daten zu den Suiziden im Kanton Zug über die letzten 25 Jahre (seit 1991) zeigt eine kontinuierliche Abnahme der Rate nicht assistierter Suizide. Seit 2011 liegt diese im Kanton Zug mit jährlich rund 10 versus 13 Suiziden je 100 000 Einwohner/-innen (gleitender Mittelwert über vier Jahre) signifikant unter derjenigen der Schweiz, bei den Männern (14 vs. 20) deutlicher als bei den Frauen (6 vs. 8). Der Kanton Zug weist 2014 die zweitniedrigste Suizidrate unter den Kantonen aus, noch niedriger liegt sie nur im Kanton Obwalden (Schuler et al. 2016). In der Tendenz und insbesondere bei den Männern ist die Rate des Kantons Zug niedriger als diejenigen der Nachbarkantone, wenn auch hier statistisch nicht signifikant (Abb. 1).<br /><br /><strong> Rückgang der Suizide durch Sturz aus grosser Höhe</strong> Von 2005 bis 2008 liess sich ein markanter Rückgang der Suizidrate durch Sturz in die Tiefe feststellen. Diese Entwicklung ist auf die Sicherung der Lorzentobelbrücken zurückzuführen. Im Rahmen der Suizidprävention im Kanton Zug wurden zwischen 2006 und 2008 die für Suizidsprünge bekannten Brücken mittels baulicher Massnahmen (Schutzwände, Notrufsäulen) gesichert (Abb. 2). Ab 2006 gab es bei den Frauen keinen Sturz mehr von der Neuen Lorzentobelbrücke und ab 2008 auch keinen Suizid mehr von der Alten Lorzentobelbrücke. Bei den Männern lässt sich ab 2008 ein Rückgang der Stürze von den Lorzentobelbrücken erkennen, wobei die Alte Lorzentobelbrücke in den letzten Jahren vereinzelt wieder benutzt wurde.<br /><br /><strong> Weniger Suizide durch Erschiessen</strong><br /> Die Suizidrate durch Erschiessen ist im Kanton Zug in den Jahren 2003 und 2004 stark abgesunken. Es handelt sich dabei um ein schweizweites Phänomen und ist auf die verminderte Verfügbarkeit von Schusswaffen im Zusammenhang mit der Reduktion des Armeebestandes zurückzuführen (BAG 2011, Reisch et al. 2013). Zudem sind im Kanton Zug seit 2008 periodisch Aktionen zur freiwilligen Waffenabgabe durchgeführt worden.<br /><br /><strong> Zunahme der Bahnsuizide bei den Frauen</strong><br /> Die Rate der Suizide durch Überfahrenlassen ist seit 1991 insgesamt relativ konstant. Auffallend ist aber die Rate der Frauen, die ab 2008 eher zu steigen scheint und gleichauf mit der Rate der Männer oder sogar höher liegt. Fast 30 % der nicht assistierten Suizide von Frauen geschahen durch Überfahrenlassen (2008–2015). Bei den Männern liegt der Anteil bei 4 % . 2015 liegt die Rate (gleitender Mittelwert über vier Jahre) der Frauen bei 2,9 Fällen pro 100 000 Einwohnerinnen und bei 0,8 Fällen pro 100 000 Einwohner bei den Männern. Dies, obwohl Überfahrenlassen als «harte» Methode und damit als untypisch für Frauen gilt.<br /><br /><strong> Weniger Suizide auf dem SBBStreckenabschnitt bei Oberwil</strong> Während von 1991 bis 2007 die Hälfte aller Bahnsuizide (11 von 23) auf einem ca. zwei Kilometer langen Gleisabschnitt in Oberwil in unmittelbarer Nähe der beiden psychiatrischen Kliniken erfolgte und von den 11 Verstorbenen 10 zum Zeitpunkt des Suizides in einer der beiden Kliniken hospitalisiert waren, erfolgten in der Periode von 2008 bis 2015 nur noch gut 30 % aller Bahnsuizide (vier von 13) auf dem besagten Streckenabschnitt und von den dort Verstorbenen war nur eine Person zum Zeitpunkt des Suizides hospitalisiert. Auch wenn kein genereller Rückgang der Suizidraten durch Überfahrenlassen zu beobachten ist, lässt sich ein Rückgang bei der Subpopulation derjenigen beobachten, die zum Zeitpunkt des Suizides in einer der beiden Zuger psychiatrischen Kliniken hospitalisiert waren. Inwiefern sich dabei die im Sommer 2012 auf besagtem Streckenabschnitt in der Nähe der Kliniken partiell angebrachten Zugangserschwernisse (Zäune, Hecken) als wirksam erweisen, bleibt abzuwarten.<br /><br /><strong> Erhängen als häufigste Suizidmethode</strong><br /> In der Periode 2008 bis 2015 ist Erhängen anteilsmässig zur häufigsten Suizidmethode (27 % ) bei nicht assistierten Suiziden geworden. Bei den Frauen steht sie an dritter, bei den Männern an erster Stelle. Im Vergleich zu 1991 bis 2007 haben auch die Anteile von Überfahrenlassen, Vergiften, Ersticken und Schneiden zugenommen, wogegen Sturz in die Tiefe und Erschiessen abgenommen haben.<br /><br /> Zu diskutieren ist, ob die im Vergleich der beiden Zeitperioden anteilsmässig veränderte Rangfolge der Suizidmethoden auf eine Methodenverschiebung zurückzuführen ist (Reisch 2015; Merli et al. 2015; Pirkis et al. 2013). Reisch konnte zeigen, dass bei Schusswaffensuiziden durch Methodenrestriktion insgesamt fast drei Viertel aller Suizide verhindert werden konnten (Reisch 2015; Reisch et al. 2013). Gegen eine namhafte Methodensubstitution spricht der allgemeine Rückgang der Rate nicht assistierter Suizide im Kanton Zug. Dass Erhängen im Kanton Zug zur anteilsmässig häufigsten gewählten Suizidmethode geworden ist, ist für die weitere Suizidprävention aber insofern bedeutungsvoll, als sich diese durch restriktive Massnahmen kaum verhindern lässt.<br /><br /><strong> Hoher Anteil nicht assistierter Suizide während einer stationären Behandlung in einer psychiatrischen Klinik</strong><br /> 15 % der durch nicht assistierten Suizid Verstorbenen waren zum Zeitpunkt des Suizids in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert. Die Rate liegt deutlich über derjenigen der Schweiz (4 % ; BAG 2005), was wohl damit zusammenhängt, dass sich im Kanton Zug gleich zwei psychiatrische Kliniken mit überregionalem Versorgungsauftrag befinden. Die Mehrheit der betroffenen Personen hatte denn auch ihren Wohnsitz ausserhalb des Kantons Zug. Dass psychiatrische Kliniken viele Patientinnen und Patienten mit erhöhter Suizidgefährdung beherbergen, hängt mit ihrem Kernauftrag zusammen und bedarf besonderer Beachtung.<br /><br /><strong> Zunahme der assistierten Suizide</strong> Die Raten der assistierten Suizide haben auf nationaler Ebene sowie in den betrachteten Kantonen über die beobachteten Jahre stetig zugenommen. Zug hat sich seit 2011 an die nationale Rate angenähert und liegt 2014 mit 7,4 assistierten Suiziden pro 100 000 Einwohner über dem Schweizer Mittelwert von 7,1. Diese Entwicklung lässt sich auf die assistierten Suizide der Zuger Männer zurückführen, deren Rate im kantonalen Vergleich seit 2010 stark gestiegen ist. Zu diskutieren ist, ob die Zunahme der assistierten Suizide möglicherweise in einem Zusammenhang steht mit der Abnahme der Rate der nicht assistierten Suizide und es sich dabei um eine Verlagerung von nicht assistierten hin zu assistierten Suiziden handeln könnte. Die in den letzten Jahren beobachtete Erweiterung des Indikationsspektrums für assistierte Suizide ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung und bedarf zukünftig erhöhter Aufmerksamkeit, damit nicht durch einen niederschwelligeren Zugang zu den assistierten Suiziden die Präventionsbemühungen bei nicht assistierten Suiziden unterlaufen werden. Eine verstärkte Begleitforschung ist angezeigt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1801_Weblinks_s36_tab1_2.jpg" alt="" width="1455" height="1745" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>Die wissenschaftliche Aussagekraft der vorliegenden Untersuchung zur Wirksamkeit suizidpräventiver Massnahmen ist limitiert. Die vergleichsweise kleinen Zahlen (Bevölkerung Kanton Zug, Anzahl Suizide pro Jahr) führen zu grossen Schwankungen von Jahr zu Jahr und begrenzen die statistische Aussagekraft (Signifikanz). Die untersuchten Daten der Staatsanwaltschaft zu den aussergewöhnlichen Todesfällen basieren auf dem Todesort und lassen sich deshalb nicht ohne Weiteres mit den schweizweiten, Wohnort-gestützten Daten des BFS (Todesursachenstatistik) vergleichen. Zudem ist die Aussagekraft der Polizeidaten hinsichtlich der Hintergründe, die zu einem Suizid geführt haben, wie Beweggründe, medizinische Diagnosen oder Angaben zu früheren Behandlungen, begrenzt, da sie nicht im Fokus des Interesses der Untersuchungsbehörde stehen. Trotzdem sind die Daten entscheidend für die Planung weiterer suizidpräventiver Massnahmen sowie für die Früherkennung von neuen Entwicklungen und Risiken betreffend Methoden oder Risikopopulationen.<br /><br /> Die Auswertung der Daten zu den Suiziden im Kanton Zug über die letzten 25 Jahre (seit 1991) zeigt eine kontinuierliche Abnahme der Rate nicht assistierter Suizide. Seit 2011 liegt diese im Kanton Zug signifikant unter derjenigen der Schweiz. Insbesondere bei den Methoden «Sturz aus grosser Höhe» und «Erschiessen » ist eine starke Abnahme zu verzeichnen. Parallel dazu hat die Rate assistierter Suizide (Sterbehilfe) deutlich zugenommen und sich der Rate der Schweiz angeglichen.<br /><br /> Basierend auf den bisherigen Erfahrungen und gestützt auf die vorliegenden Ergebnisse sowie die Empfehlungen des 2016 verabschiedeten Nationalen Aktionsplans Suizidprävention (BAG 2016) soll eine Nachfolgestrategie zum «Konzept Früherkennung und Suizidprävention im Kanton Zug 2010–2015» erarbeitet werden.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p>• Bundesamt für Gesundheit (2005): Suizid und Suizidprävention in der Schweiz. Bericht in Erfüllung des Postulats Widmer (02.3251). Bern • Bundesamt für Gesundheit (2011): Faktenblatt: Suizid mit Schusswaffen. Bern • Bundesamt für Gesundheit (2015): Epidemiologie von Suiziden, Suizidversuchen und assistierten Suiziden in der Schweiz. Bern • Bundesamt für Gesundheit (2016): Suizidprävention in der Schweiz. Ausgangslage, Handlungsbedarf und Aktionsplan. Bern • Gesundheitsdirektion Kanton Zug (2007): Psychische Gesundheit im Kanton Zug 2007–2012. Zug • Gesundheitsdirektion Kanton Zug (2009): Früherkennung und Suizidprävention im Kanton Zug 2010–2015. Zug • Gesundheitsdirektion Kanton Zug (2013): Psychische Gesundheit im Kanton Zug 2013–2020. Zug • Merli R, Etzersdorfer E: Brücken-Hotspots in der italienischen Provinz Biella, 1994 bis 2013. Suizidprophylaxe 2015; 42: Heft 1 • Pirkis J et al.: The effectiveness of structural interventions at suicide hotspots: a meta-analysis. Int J of Epidemiol 2013; 42: 541-548 • Reisch T et al.: Change in suicide rates in Switzerland before and after firearm restriction resulting from the 2003 «Army XXI» reform. Am J Psychiat 2013; 170(9): 977-984 • Reisch T: Ergebnisse der Schweizer Brückenstudien. Suizidprophylaxe 2015; 42: Heft 1 • Schuler D et al.: Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2016. Obsan Bericht 72. Neuchâtel/CH: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan), 2016 • Schuler D, Walti H: Suizide im Kanton Zug 2008–2015 im Vergleich mit 1991–2007. Neuchâtel/ CH: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan), 2017 • Walti-Jenny M, Walti H: Suizide im Kanton Zug 1991–2007. Eine wissenschaftliche Untersuchung. Baar, 2008</p>
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