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Ein heikles Tabu

Süchtige Ärztinnen und Ärzte

Einerseits gehören Suchterkrankungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt, andererseits sind Suchterkrankungen bei Ärtz:innen ein grosses Tabu. Hilfe für Betroffene ist möglich, wenn diese gut strukturiert ist, sich an den Grundprinzipien des «Motivational Interviewing» (Miller/Rollnick) orientiert und niedrigschwellig angeboten wird. Trotzdem muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Keypoints

  • Suchterkrankungen sind bei Ärzt:innen nicht seltener als in der Allgemeinbevölkerung, eher sogar häufiger. Sie werden jedoch – wie bei einem blinden Fleck – eher noch schlechter wahrgenommen, als dies sonst bei Suchterkrankungen der Fall ist.

  • «Hilfe statt Strafe» und die Vertraulichkeit des Hilfsangebots sind eine elementare Voraussetzung zur Förderung von Therapiemotivation und Veränderungsbereitschaft bei den betroffenen Ärzt:innen.

  • Die Chancen für suchtkranke Ärzt:innen, ihre Sucht zu überwinden, stehen besser als für andere Patient:innen, wenn es ein geeignetes Hilfsangebot gibt und dieses auch in Anspruch genommen wird.

Das Problem

Suchterkrankungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt.1 Geschätzt etwa 250000 Menschen in der Schweiz sind alkoholabhängig.2 Knapp 40000 Personen in der Schweiz nehmen Beratung oder Behandlung wegen einer Suchtproblematik in Anspruch.3 Bei rund einem Fünftel aller Menschen, die 2020 in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurden, war problematischer Substanzkonsum das Hauptproblem.4 Jede sechste psychiatrische Diagnose eines Hausarztes steht im Zusammenhang mit Alkohol.

Neben Alkohol und Medikamenten mit Suchtpotenzial – hier sind vor allem Benzodiazepine zu nennen – müssen aber an dieser Stelle auch illegale Drogen betrachtet werden. Wie die Studie zum Waadtländer Betäubungsmittelmarkt, MARSTUP,5 gezeigt hat, bildet der Handel von Kokain heute nach Cannabis den zweitgrössten Drogenmarkt der Schweiz. In den Top Ten von Europas Städten mit dem höchsten Kokainkonsum pro Kopf fanden sich 2021 gleich vier Schweizer Städte: St. Gallen auf Platz 3, Zürich auf Platz 4, Basel auf Platz 6 und Genf auf Platz 9. Diese Daten decken sich auch mit Abwasserstudien. Etwa 20 Prozent der Konsument:innen schnupfen rund 80 Prozent des importierten Kokains, wobei diese 20 Prozent etwa zur einen Hälfte aus Personen aus dem Drogenmilieu und zur anderen Hälfte aus durchaus bürgerlichen Personen bestehen, die in Verbindung mit ihrer Arbeitswelt sogenanntes Kokain-Doping betreiben.6 Ärzt:innen sind von Suchterkrankungen nicht ausgenommen, neben privaten Problemen, wie sie auch bei anderen Betroffenen auftreten können, sind für Mediziner:innen aber auch noch berufsspezifische Aspekte denkbar. Stress in der Klinik, Druck von Vorgesetzten, schwierige Patient:innen, hoher Verantwortungsdruck – es gibt viele Gründe, weshalb es bei Ärzt:innen zu einer Abhängigkeit kommt.

In einer US-amerikanischen Studie gab jede:r siebte der über 1000 befragten Ärzt:innen zu, aufgrund einer psychischen Krise in den letzten drei Monaten am Arbeitsplatz Alkohol oder andere Substanzen konsumiert zu haben.7 Jede:r fünfte unter den Befragten sagte zudem, täglich mehrmals Alkohol getrunken oder Betäubungsmittel genommen zu haben, wie der «State of Mental Health: American Healthcare Workers Report» zeigt.

Flaherty und Richman beschrieben in einer ebenfalls US-amerikanischen Untersuchung aus dem Jahr 1993, dass der Alkohol- und Drogenkonsum wie auch die damit verbundenen Störungen wie eine Abhängigkeit sich bei Ärzt:innen in etwa auf dem Niveau der Allgemeinbevölkerung bewegen, dass aber Ärzt:innen besser auf Therapieangebote ansprechen, wenn sie sie denn nutzen.8

Im Gegensatz dazu sind nach Schätzungen der deutschen Bundesärztekammer sieben bis acht Prozent der deutschen Ärzt:innen mindestens einmal in ihrem Leben suchtkrank, das sind etwa 25000 Mediziner:innen – prozentual doppelt so viel wie in der Gesamtbevölkerung.9

Für die Schweiz konnten derartige Untersuchungen nicht gefunden werden, jedoch ist davon auszugehen, dass die Prävalenzen nicht unter denen in den USA oder in Deutschland liegen werden. Per 31.12.2022 waren insgesamt 37082 Ärzt:innen mit erteilter Bewilligung zur Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung im MedReg eingetragen.10 Bei Übertragung der deutschen Prävalenzzahlen würden sich damit 2646 bis 2966 betroffene schweizerische Kolleg:innen ergeben.

In vielen ärztlichen Berufsfeldern sind ein rascher und klarer Blick, die Fähigkeit zur differenzierten Abwägung unterschiedlichster Einflussfaktoren und die präzise Durchführung diagnostischer und kurativer Massnahmen erforderlich. Mit kurz- wie auch langfristigen Einschränkungen durch den Konsum von Suchtmitteln bzw. durch die Gewöhnung an sie sind diese Anforderungen nur reduziert oder gar nicht zu vereinbaren. Gleichzeitig stellt eine Abhängigkeitserkrankung bei Ärzt:innen neben der sozialen Stigmatisierung ein besonderes Problem dar, weil sie den Verlust der Approbation nach sich ziehen kann, was faktisch einem Berufsverbot gleichkommt.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es suchtkranken Ärzt:innen so schwerfällt, Hilfe für sich zu suchen, obwohl geeignete und auch speziell auf suchtkranke Ärzt:innen zugeschnittene Hilfsprogramme zur Verfügung stehen bzw. stehen könnten.

Ausgestaltung eines Interventionsprogramms für suchtkranke Ärzt:innen

Im Folgenden wird das Interventionsprogramm der Deutschen Bundesärztekammer für suchtkranke Ärztinnen und Ärzte in der konkreten Ausgestaltung durch die Bayerische Landesärztekammer in der Form dargestellt, wie sie der Ärztliche Bezirksverband Oberbayern umsetzt. Ähnliche Programme finden sich auch bei anderen Landesärztekammern. Der Ärztliche Bezirksverband Oberbayern erstreckt sich über den Regierungsbezirk Oberbayern mit Ausnahme von Stadt und Landkreis München. Er organisiert etwa 1800 Ärzt:innen und ist u.a. dafür zuständig, dass Ärzt:innen in diesem Bereich ihre Berufspflichten erfüllen. Dadurch wirken sie in der öffentlichen Gesundheitspflege mit. In diesem Kontext ist auch die regionale Umsetzung des Interventionsprogramms (IVP) der Deutschen Bundesärztekammer für suchtkranke Ärztinnen und Ärzte in der konkreten Ausgestaltung durch die Bayerische Landesärztekammer zu sehen.

Zentraler Gedanke des IVP war von Anfang an das Prinzip «Hilfe statt Strafe». Das IVP sichert suchtkranken Ärzt:innen strenge Vertraulichlichkeit zu. Bei Therapiewilligkeit und kooperativem Verhalten werden keine personenbezogenen Informationen an Dritte (wie z.B. auch an den Arbeitgeber oder die Approbationsbehörde) weitergegeben. So soll die Schwelle zur Annahme von Hilfe reduziert und der/dem Betroffenen der Weg aus der Sucht erleichtert werden. Nur durch eine stabile Abstinenz ist die oder der Betroffene in der Lage, dauerhaft den ärztlichen Beruf auszuüben und ein zufriedenes Leben zu führen. Das Verschleiern und Verbergen der Sucht ohne Inanspruchnahme von Hilfs- und Therapiemöglichkeiten verhindert kurzfristig Konsequenzen. Mittelfristig wird die Sucht dann jedoch zum Verlust der Leistungsfähigkeit und der Approbation führen. Während oft der/die Betroffene noch der Meinung ist, er/sie kann die Sucht vor seiner Umwelt verbergen, sprechen schon der halbe Ort oder grosse Bereiche der Klinik hinter vorgehaltener Hand über das Suchtproblem des Arztes oder der Ärztin.

Das Interventionsprogramm will suchtkranke Ärzt:innen ermutigen, sich so früh wie möglich Hilfe zu holen. Je früher die Intervention beginnt, desto grösser ist die Chance, dass das Interventionsprogramm zum Ausweg für suchtkranke Ärzt:innen wird. Die Kontaktaufnahme mit dem Interventionsprogramm kann auf Initiative des/der Betroffenen selbst erfolgen, ebenso aber auch aufgrund einer Meldung z.B. durch Vorgesetzte, Kolleg:innen oder die Approbationsbehörde.

Kolleg:innen, Vorgesetzte und Mitarbeiter:innen suchtkranker Ärzt:innen sollten den Konsum von Suchtstoffen nicht tolerieren, auch nicht das Verbergen und Verleugnen fördern. Falsch verstandene Kollegialität führt zu einem ungünstigeren Krankheitsverlauf. Suchtkranke Menschen berichten retrospektiv häufig, wie hilfreich direkte Ansprache der Krankheit und die Ankündigung von ernst gemeinten Konsequenzen für die Abstinenzentscheidung waren. Erster direkter Kontakt mit dem IVP war dann das telefonische Vorgespräch mit der Geschäftsführerin des Bezirksverbandes, die dem bzw. der Betroffenen die Grundzüge und den Ablauf des Programms vorstellte. In einem nächsten Schritt wurde der bzw. die Betroffene zu einem persönlichen Gespräch eingeladen, bei dem neben der Geschäftsführerin des Bezirksverbandes auch dessen Vorsitzender sowie ein suchtmedizinisch erfahrener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie anwesend waren. Ziel dieses ersten Gesprächs waren neben der Evaluierung der Sucht- und auch sonstigen Problematik die Herstellung einer von Vertrauen geprägten Gesprächsatmosphäre sowie die Entwicklung einer gemeinsamen Vorstellung vom Hilfebedarf des bzw. der Betroffenen.

Bei den Empfehlungen konnte ein breites Spektrum von ambulanten und stationären Massnahmen genutzt werden. Neben Haar- und Urinanalysen (unter forensischem Standard) konnten dies Empfehlungen einer Psychotherapie ebenso sein wie die Wahrnehmung ambulanter oder stationärer Entzugs- und Entwöhnungsangebote, immer auch verknüpft mit dem Beibringen entsprechender Nachweise der Inanspruchnahme. Zugleich wurde auch besprochen, welche Abstinenznachweise bzw. weiteren Veränderungsschritte der bzw. die Betroffene bis zum nächsten Gesprächstermin erbringen sollte. Bei den Abstinenznachweisen kam im Allgemeinen eine forensische Haaranalyse auf Drogen zum Einsatz. Dies hatte insbesondere den Vorteil, dass so längere Zeiträume im Hinblick auf die geforderte Abstinenz betrachtet werden konnten. Einige Betroffene, bei denen die Suchtproblematik in einem engen Zusammenhang mit dem unmittelbaren Arbeitsumfeld stand, unterstützten wir bei einem Wechsel auf einen günstigeren Arbeitsplatz. Anderen, bei denen die für die Sucht entscheidenden Faktoren mehr im persönlichen Umfeld lagen, halfen wir bei der Entwicklung von Lösungsansätzen und deren Umsetzung. Die Interventionen orientierten sich an dem von Miller und Rollnick entwickelten Konzept der «Motivierenden Gesprächsführung».11

In etwa alle zwei bis drei Monate angesetzten Folgeterminen wurden sodann eingetretene bzw. von den IVP-Klient:innen veranlasste Veränderungen besprochen, bewertet und die weiteren Massnahmen und Schritte besprochen. Wenn Rückfälle auftraten, wurden diese in Abhängigkeit von ihrer Offenbarwerdung (Anzeige durch den Klienten bzw. die Klientin? Nachweis im Rahmen einer Laboranalyse? etc.) bewertet und bearbeitet, wobei ein Rückfall an sich keinen Beendigungsgrund für das IVP darstellt. Vielmehr ist es entscheidend, wie der Klient bzw. die Klientin damit umgeht. Bei positivem Verlauf konnte nach einem Zeitraum von etwa eineinhalb bis zwei Jahren eine stabile Abstinenz erreicht werden. Für den Fall unzureichender Compliance, mehrfacher Rückfälligkeit etc. besteht die Möglichkeit, den Klienten/die Klientin der Approbationsbehörde, die bis dahin aufgrund der zugesicherten Vertraulichkeit nicht informiert worden ist, zu melden. Diese kann dann gegebenenfalls berufsrechtliche Schritte bis hin zum Approbationsentzug (d.h. bis zum Entzug der ärztlichen Arbeitserlaubnis) einleiten.

Ergebnisse

Referiert werden kann hier nur die kleine Zahl von IVP-Teilnahmen des Ärztlichen Bezirksverbandes Oberbayern im Zeitraum 03/2018 bis 04/2023. Unter den acht Teilnehmer:innen – alle in angestellter Tätigkeit – waren sechs Männer und zwei Frauen. Die Fachrichtungen waren dabei wie folgt verteilt:

  • 1 x Allgemeinmedizin

  • 1 x Innere Medizin

  • 1 x Ophthalmologie

  • 1 x Chirurgie

  • 4 x Anästhesie

Die vier als Erste genannten Klient:innen konnten ihre IVP-Teilnahme erfolgreich abschliessen, während von den vier Kolleg:innen aus der Anästhesie einer kurz nach dem Erstgespräch durch eine Intoxikation verstarb und die anderen drei das Programm entweder von sich aus beendeten oder wegen Incompliance durch Meldung an die Approbationsbehörde ausscheiden mussten. Diese Ergebnisse stehen in Übereinstimmung mit den in anderen Landesärztekammern bzw. anderen Bezirksverbänden erreichten Resultaten.

Diskussion

Die sehr geringe Inanspruchnahme des Programms (acht Teilnehmer:innen bei etwa 18000 im Bezirksverband organisierten Ärzt:innen und somit 1260 bis 1440 «errechenbaren» potenziell Betroffenen) spiegelt die hohe Dunkelziffer wider, resultierend aus grosser Scham einerseits und der Furcht vor berufsrechtlichen Konsequenzen andererseits sowie aus dem trotz mehrfacher Veröffentlichungen eher geringen Bekanntheitsgrad des Programms ganz generell. Die Verteilung auf die einzelnen Fachgebiete – insbesondere auch bei den Drop-out-Zahlen – deutet, trotz der kleinen Gruppe der hier beschriebenen Klient:innen, auf ein besonderes Abhängigkeitsrisiko bei Anästhesist:innen hin, welches auch in anderen Arbeiten bereits beschrieben wurde. Erklärbar ist dieses durch die besondere Griffnähe bestimmter psychotroper Substanzen, die man in diesem Fachgebiet hat. Hier ist neben Opioiden und Benzodiazepinen vor allem auch Propofol zu nennen.

Bei Annahme eines geeigneten, kollegial organisierten und gut strukturierten Hilfsprogramms sind suchterkrankte Ärzt:innen für therapeutische Massnahmen zur Entwicklung von Wegen aus ihrer Sucht gut zu erreichen. Dies wiederum kann sich sowohl für die betroffenen Kolleg:innen als auch für ihre Patient:innen und somit auch für die öffentliche Gesundheitspflege als wertvoll erweisen.

1 Jacobi F et al.: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul «Psychische Gesundheit» (DEGS1-MH). Nervenarzt 2014; 85(1): 77-87 2 Kuendig H (2010): Estimation du nombre de personnes alcoolo-dépendantes dans la population helvétique. Lausanne: Addiction Suisse 3 Bundesamt für Gesundheit BAG (2021): act-info Jahresbericht 2020. Suchtberatung und Suchtbehandlung in der Schweiz. Ergebnisse des Monitoringsystems. 4 Bundesamt für Statistik BFS (2022): Medizinische Statistik der Krankenhäuser. 5 https://www.addictionsuisse.ch/fileadmin/user_upload/DocUpload/2022/2022 _Schweizer_Suchtpanorama.pdf . Abgerufen am 26.08.2023 6 Neue Zürcher Zeitung: Die Schweizer schnupfen jährlich fünf Tonnen Kokain. https://www.nzz.ch/schweiz/die-schweizer-schnupfen-jaehrlich-fuenf-tonnen-kokain-ld.1402447 . Abgerufen am 26.08.2023 7 https://fortune.com/well/2022/08/18/doctors-drinking-doing-drugs-pandemic-burnout-ptsd-coping-mechanism/ . Abgerufen am 12.09.2023 8 Flaherty JA, Richman JA: Substance use and addiction among medical students, residents, and physicians. Psychiatr Clin North Am 1993; 16(1): 189-97 9 Mäulen B et al.: Abhängigkeit bei Ärzten – eine klinische Studie zu Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland. Münch med Wschr 1991; 133: 446-9 10 https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/berufe-im-gesundheitswesen/medizinalberufe/medizinalberuferegister-medreg . Abgerufen am 02.09.2023 11 Miller WR, Rollnick S: Motivational interviewing: Preparing people to change addictive behavior. New York: Guilford Press, 1991

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