Palliativer Ansatz in der Psychiatrie: rechtlicher Rahmen und ethische Überlegungen
Autor:
Dr. Michael Halmich, LL.M.
Jurist im Medizin- und Gesundheitsrecht
Ethikberater im Gesundheitswesen
FORUM Gesundheitsrecht
Wien
E-Mail: halmich@gesundheitsrecht.at
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Palliative Ansätze finden sich mittlerweile in nahezu allen medizinischen Disziplinen. Zunehmend wird auch in der Psychiatrie dieser Behandlungsansatz erwogen. Doch palliative Entscheidungen in der Psychiatrie sind von hoher ethischer und rechtlicher Brisanz. Es gibt aber bereits erste publizierte Standards.
Keypoints
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Palliative Entscheidungen in der Psychiatrie sind von hoher ethischer und rechtlicher Brisanz.
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In der Psychiatrie steht i.d.R. nicht eine zum Tod führende Erkrankung im Fokus.
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Es gibt bereits publizierte Standards zum Therapiezielwechsel, z.B. zur Anorexia nervosa.
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Die Unterstützung durch Ethikberater bei Behandlungsentscheidungen ist sinnvoll.
Die Palliativversorgung gewinnt aufgrund der zunehmenden Anzahl chronisch kranker und multimorbider Menschen jeden Alters wesentlich an Bedeutung. Auch in der psychiatrischen Betreuung bestimmter Patienten beginnt man, palliative Ansätze zu implementieren. Behandlungsentscheidungen haben in diesem Bereich jedoch sowohl eine hohe ethische als auch rechtliche Brisanz, da mitunter auch Therapiebegrenzungen gerechtfertigt sind.
Palliative Care als multiprofessioneller Ansatz
Nach der Österreichischen Palliativgesellschaft steht Palliative Care für einen multiprofessionellen Betreuungsansatz, in dem verschiedene Berufsgruppen, die mit der Betreuung schwer kranker Patienten mit fortgeschrittenem Leiden befasst sind, interprofessionell zusammenarbeiten.
Im Rahmen der Palliative Care nimmt zwar die medizinische Komponente einen großen Stellenwert ein, doch ist für eine sorgfältige Patientenbetreuung eine enge Zusammenarbeit von allen Gesundheits- und Sozialberufen sowie der An- und Zugehörigen nötig.
Die Palliativbewegung nahm ihre Anfänge in den 1960er-Jahren und entspringt der Krebsbehandlung. Heutzutage ist die Palliative Care integrierter Bestandteil in nahezu allen medizinischen Disziplinen, vor allem der Inneren Medizin, der Geriatrie, der Chirurgie, der Gynäkologie, der Urologie, der Dermatologie, der Neurologie, der Pädiatrie und (beginnend nun auch) in der Psychiatrie.
Rechtlicher Rahmen
Der Rechtsrahmen der Palliative Care ist grundsätzlich klar umrissen; rote Linien sind definiert (z.B. Verbot der Sterbehilfe, aktuell noch Verbot der Beihilfe zum Suizid). Nach der Rechtsordnung entsprechen jedoch therapeutische Maßnahmen, die allein den Sterbeprozess verlängern, weder den Vorgaben einer gewissenhaften Betreuung noch der Wahrung des Wohls des Patienten. So muss eine Behandlung dann nicht begonnen oder fortgesetzt werden, wenn sie aus medizinischer Sicht nicht indiziert oder – was auf dasselbe hinausläuft – mangels Wirksamkeit nicht mehr erfolgversprechend oder sogar aussichtslos ist. Dazu zählen gerade auch Konstellationen eines bereits unaufhaltsam eingetretenen Sterbeprozesses, der durch weitere medizinische Interventionen nur in die Länge gezogen werden würde. Eine Behandlung kann auch bei lang anhaltender therapierefraktärer Erkrankung jeglicher Art aussichtslos werden.
Ein Therapierückzug aus palliativen Erwägungen darf nicht mit einer Sterbehilfe verwechselt werden. Die Palliative Care sagt nämlich eindeutig Ja zum Leben, sie begleitet, lindert aktuell belastende Symptome, geht auf Wünsche des Patienten ein, beschleunigt nicht den Todeseintritt, zögert ihn aber auch nicht hinaus. Im Fokus der Palliativmedizin steht die Symptomkontrolle. Als Ultima Ratio wäre bei schwerem Leiden auch eine palliative Sedierungstherapie gerechtfertigt. Bei Sterbenden ist es auch erlaubt, hoch dosierte Medikamente zur Linderung schwerster Schmerzen und Qualen einzusetzen, auch wenn dadurch der Tod als unvermeidbare Nebenwirkung früher eintritt (§49a Ärztegesetz). Durch all diese Maßnahmen soll eine möglichst hohe Lebensqualität erreicht werden.
Nicht definiert ist allerdings der Zeitpunkt im Krankheitsverlauf, an dem spezialisierte Palliative Care beginnen soll. Nach Ansicht der Österreichischen Palliativgesellschaft wird in der Praxis unter Palliative Care vor allem die Betreuung am Lebensende von Patienten mit unheilbaren Erkrankungen verstanden. Zuletzt haben sich aber Stimmen gemehrt, die für einen möglichst frühen Beginn einer palliativen Betreuung in einem derartigen Krankheitsprozess plädieren.
VfGH und die Sterbehilfe
Im Dezember 2020 veröffentlichte der Österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) seine Entscheidung zu den Strafbestimmungen „Tötung auf Verlangen (§77 Strafgesetzbuch)“ und „Mitwirkung am Selbstmord (§78 Strafgesetzbuch)“. Das Ergebnis: Der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstößt gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Teile der Strafbestimmung treten mit Ablauf des 31. Dezember 2021 außer Kraft. Bis dahin hat die Regierung/das Parlament eine neue Bestimmung in Bezug auf die Suizidmithilfe zu erlassen. Der VfGH betonte in seiner Entscheidung:
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Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst das Recht auf die Gestaltung des Lebens ebenso wie das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben. Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Suizidwilligen, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen.
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Beruht die Entscheidung zur Selbsttötung auf der freien Selbstbestimmung des Betroffenen, so ist dies vom Gesetzgeber (und auch der Gesellschaft) zu respektieren.
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Der VfGH übersieht nicht, dass die freie Selbstbestimmung auch durch vielfältige soziale und ökonomische Umstände beeinflusst wird. Dementsprechend hat der Gesetzgeber zur Verhinderung von Missbrauch Maßnahmen vorzusehen, damit die betroffene Person ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fasst.
Palliativer Ansatz in der Psychiatrie?
Im Bereich der Psychiatrie ergeben sich Besonderheiten, da nicht nur der alte Mensch im Zentrum steht. Die „Palliative Psychiatrie“ grenzt sich von der sonstigen Palliative Care dadurch ab, dass nicht eine zum Tod führende Erkrankung im Fokus steht, sondern vielmehr die Unheilbarkeit der Erkrankung bzw. das Nichtansprechen auf die übliche psychiatrische und psychosoziale Therapie im Sinne des Fachstandards. Dabei ist eine wesentliche Frage, ob ein (wiederholtes) Nichtansprechen auf diverse Therapieversuche es rechtfertigt, eine Therapiezieländerung einzuleiten, dies vor allem dann, wenn die Therapieversuche mit Freiheitsbeschränkungen einhergehen. Eine sorgfältige Abwägung aller relevanten Punkte ist somit geboten.
Zusammengefasst sind die Herausforderungen, in der Psychiatrie einen palliativen Ansatz zu verfolgen, die folgenden:
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Chronische psychische Erkrankungen führen nicht unmittelbar zum Tod.
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Kaum objektive Kriterien für die Beurteilung einer Aussichtslosigkeit („Futility“)
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Der Verlauf von chronischen psychischen Erkrankungen ist schwer vorhersehbar (eher palliative Phasen, nicht Situationen). Die psychiatrische Behandlung ist oftmals von Ambivalenzen geprägt.
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Historische Befangenheit
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Lebensende/Tod ist in der Psychiatrie ein Tabuthema. Die Psychiatrie hat den Tod (Suizid) abzuwenden!
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Assoziation mit „palliativ“: schlechte Prognose, nahes Lebensende!
Palliativer Ansatz: Gefahr, dass Patient sich aufgegeben fühlt
Bei bestimmten Patientengruppen stößt die Psychiatrie aber an ihre Grenzen:
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Patienten mit therapierefraktärer Erkrankung
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Patienten mit anhaltendem Suizidwunsch
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Suchterkrankung mit sich häufig wiederholendem Rezidiv
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Somatische (i.d.R. chronische) Komorbidität, welche palliativen Behandlungsansatz benötigt
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Patienten mit andauerndem selbst-/fremdgefährdendem Verhalten, bei denen eine (invasive) Freiheitsbeschränkung zum „Lebensbegleiter“ wird
Schweizer Bundesamt für Gesundheit
In der Schweiz ist das Thema des palliativen Ansatzes in der Psychiatrie schon längere Zeit ein Thema. Bereits 2014 wurde dazu ein „Versorgungsbericht: Palliative Care und Psychische Erkrankungen“ des Schweizer Bundesamts für Gesundheit veröffentlicht, der dabei folgende drei Patientengruppen differenziert:
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Patienten, die sich aufgrund einer schwerwiegenden psychischen Krankheit in einer palliativen Situation befinden (z.B. therapierefraktäre Depressionen mit wiederholtem Suizidwunsch, Schizophrenie mit aus Sicht der Betroffenen ungenügender Lebensqualität, schwere Anorexien, Abhängigkeit von Suchtstoffen)
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Psychisch kranke Patienten, die sich aufgrund von kurativ nicht behandelbaren somatischen Erkrankungen in einer palliativen Situation befinden
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Somatisch schwer erkrankte Patienten in einer Palliative-Care-Situation mit psychischen Symptomen
Schwere Anorexia nervosa
Die Fachzeitschrift „Der Nervenarzt“ des Springer Verlages widmete sich im Heft 5 (Mai 2020) dem Schwerpunkt der Palliativmedizin bei psychischen Erkrankungen. Dabei wurde publiziert, unter welchen kumulativen Voraussetzungen ein palliativer Behandlungsansatz bei Patienten mit Anorexia nervosa zu rechtfertigen ist:
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Extrem niedriger BMI (z.B. <13kg/m2)
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Ausgeprägtes Purging-Verhalten (=selbstinduziertes Erbrechen)
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Psychiatrische Komorbidität (z.B. Abhängigkeit, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörung)
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Somatische Komorbidität (z.B. Diabetes mellitus Typ 1, Niereninsuffizienz)
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Lange Krankheitsdauer (z.B. 10 Jahre)
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Hohe Anzahl stationärer Aufnahmen und Zwangsmaßnahmen ohne anhaltende Symptomreduktion (z.B. >3)
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Fehlende Veränderungsbereitschaft, Identifizierung mit/Stolz auf die Erkrankung, Nutzung sog. „Pro-Ana“-Internetforen
Schlussfolgerung
Die Etablierung palliativer Ansätze in der Psychiatrie hat in Österreich erst begonnen. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die neue Regelung zur Suizidmithilfe in Österreich auf die psychiatrische Patientenversorgung haben wird. In Bezug auf palliative Behandlungsentscheidungen können die Gesundheitsberufe ihre Kompetenz durch Fallarbeit stärken. Diesbezüglich hat sich in Österreich 2019 eine Arbeitsgruppe „Palliative Care und Psychische Krankheit“ gebildet, welche drei Mal jährlich tagt und die Fragen der Praxis diskutiert. Sie ist in der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik angesiedelt. Bei Interesse an der Mitwirkung mailen Sie an office@oegpp.at .
Quelle:
Entscheidung des VfGH vom 11.12.2020, G 139/2019
Literatur:
beim Verfasser
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