
Neuropsychiatrische Aspekte der Autoimmunenzephalitis
Autoren:
DDr. Stefan Macher
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: stefan.macher@meduniwien.ac.at
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger
Vorstand Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: thomas.berger@meduniwien.ac.at
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Meist stehen psychiatrische Symptome am Beginn einer sich manifestierenden Autoimmunenzephalitis. Sie kann daher oft nicht von beispielsweise einer Schizophrenie abgegrenzt werden. Eine spezifische diagnostische Abklärung bei Verdacht auf eine Autoimmunenzephalitis ist dennoch möglich, kennt man die etablierten Diagnosekriterien und „red flags“.
Der Terminus Autoimmunenzephalitis (AE) hat sich in den letzten Jahren als Überbegriff für neurologische Syndrome etabliert, die mit antineuronalen Antikörpern (AK) assoziiert sind. Sensu stricto muss aus diagnostischen, therapeutischen und prognostischen Überlegungen zwischen Enzephalitiden mit antineuronalen (Tab. 1) und onkoneuronalen AK unterschieden werden. Die kontinuierliche Beschreibung neuer AK, spezifischere und breiter verfügbare diagnostische Methoden wie auch die gestiegene Wahrnehmung haben in den letzten 10–15 Jahren zu einem sprunghaften Anstieg der Inzidenz von AE geführt.1,2 Diese gestiegene Aufmerksamkeit führte dazu, dass die autoimmunologische Genese als Differenzialdiagnose insbesondere der Schizophrenie deutlich an Stellenwert gewonnen hat. Nach N. Machiavelli ist eine schwere Erkrankung zu Beginn leicht heilbar, aber schwer erkennbar. Dies trifft wohl auch auf die AE zu, deren Erkennen von substanzieller Bedeutung ist, da die rasche Einleitung einer Immuntherapie die Prognose maßgeblich beeinflusst.3
Tab. 1: Überblick über aktuell bestehende durch AK gegen Oberflächenstrukturen mediierte neuropsychiatrische Syndrome, deren Tumorassoziation und die Wertigkeit des AK-Iso- und Subtyps. Aus Ricken et al.: Detection methods for autoantibodies in suspected autoimmune encephalitis. Front Neurol, 2018
Oft als psychiatrische Erkrankung verkannt
Der „rein“ psychiatrische Beginn und eine unter Umständen langsame Dynamik im Anfangsstadium der Erkrankung können die Abgrenzung einer AE von einer Schizophrenie insbesondere bei in der Regel jungen Patient*innen mit Anti-NMDARE erschweren. Das Überwiegen psychiatrischer Symptome ist auch im Rahmen von Enzephalitiden mit z.B. AK gegen AMPAR, anti-LGI1 oder CASPR2-AK oder GABA(B)R möglich, jedoch unterscheiden sich diese Patient*innen in der Regel durch ihr höheres und für die Erstmanifestation einer Schizophrenie untypisches Alter und präsentieren nicht selten eine limbische Enzephalitis mit epileptischen Anfällen.4–7 Bis zu 60% aller Patient*innen mit AE weisen zu Beginn der Erkrankung psychotische Symptome auf.2,3 Mehr als 90% aller Patient*innen mit Anti-NMDARE zeigen im Verlauf der Erkrankung psychiatrische Symptome, am häufigsten Aggression, Agitation, Halluzinationen, Wahn, Ängstlichkeit, Mutismus und Insomnie.8 Vor allem im Rahmen limbischer Enzephalitiden mit Beeinträchtigung mesiotemporaler Strukturen ist die Gedächtnisstörung meist das Leitsymptom. Dies kann durch psychiatrische Beschwerdebilder überlagert sein und womöglich kann bei prominenten psychotischen Symptomen auch das für die Schizophrenie typische Gedankenabreißen schwer von einer Gedächtnisstörung differenziert werden.
AE und psychiatrische Erkrankungen folgen unterschiedlicher Dynamik
Im Unterschied zur AE kann der Schizophrenie ein mitunter jahrelanges Vorstadium vorausgehen, bevor die ICD-10-Diagnosekriterien erfüllt sind. Die Symptome müssen für den Großteil der Zeit innerhalb eines Monats vorliegen.9 Die Definition der AE erfordert hingegen einen subakuten bis raschen Beginn (<3 Monaten) zumeist mit schneller Dynamik und dem Auftreten zusätzlicher neurologischer Symptome.10 Die isoliert psychiatrische Manifestation einer AE scheint jedoch selten zu sein. Vier Prozent aller Patient*innen mit Anti-NMDARE präsentierten sich im Verlauf der Erkrankung mit isoliert psychiatrischen Symptomen, ca. 20% davon bei Erstmanifestation und 80% im Rahmen eines Rückfalls.11 In den meisten Fällen treten im Krankheitsverlauf diverse zusätzliche Symptome wie kognitive und mnestische Defizite, Sprachstörungen, Bewegungsstörungen, quantitative Bewusstseinsstörungen, epileptische Anfälle bis hin zu dysautonomen Symptomen auf.10 Hinsichtlich der Erstsymptome scheint ein Altersgefälle zu existieren mit Bewegungsstörungen, Ataxien, Sprachstörungen und epileptischen Anfällen, die eher im Kindesalter auftreten, und kognitiven/mnestischen Defiziten sowie dysautonomen Symptomen, deren Auftretenswahrscheinlichkeit mit zunehmendem Alter steigt.3 Der Verlauf der Symptome ist in der Regel subakut und nicht jede/r Patient*in erleidet jedes der genannten Symptome. Eine hinsichtlich Probandenanzahl repräsentative Studie ergab, dass innerhalb von vier Wochen nach Erkrankungsbeginn zumindest vier von acht Symptomkategorien bei ca. 90% der Patient*innen im Rahmen einer Anti-NMDARE vorlagen.3,12 Diese Symptomkategorien wurden in den aktuellen Autoimmunenzephalitis-Diagnosekriterien zusammengefasst und flossen auch in die Definition von sogenannten „yellow flags“ und „red flags“ zur Differenzierung zwischen organischer und nicht organischer Genese psychotischer Symptome ein.2,10 Bei Erkennen von „red flags“ müssen und bei „yellow flags“ sollten eine spezifische Diagnostik inklusive der Bestimmung antineuronaler Antikörper und die Konsultation der Neurologie erfolgen (Tab. 2). Darüber hinaus bieten die etablierten klinischen Diagnosekriterien zur Definition einer gesicherten, möglichen und wahrscheinlichen, aber AK-negativen AE sowie die Kriterien hinsichtlich des Vorliegens einer Autoimmunpsychose eine Hilfestellung.10,13
Tab. 2: Warnzeichen hinsichtlich des Vorliegens einer Autoimmunenzephalitis. Angepasst nach Herken J, Prüss H: Red flags: clinical signs for identifying autoimmune encephalitis in psychiatric patients. Front Psychiatry, 2017
Diagnose der Autoimmunenzephalitis
Das Ergebnis der Bestimmung von antineuronalen AK ist meist nach wenigen Tagen vorliegend, jedoch muss in vielen Fällen bereits eher eine Therapieentscheidung getroffen werden. Daher erfordert die Diagnose einer möglichen AE oder einer definitiven limbischen AE die Durchführung eines cMRT, eines EEG und einer Lumbalpunktion (siehe „red flags“). Das cMRT ist ohnehin zur Abklärung bei Erstmanifestation einer Schizophrenie erforderlich. Bei Anti-NMDARE bleibt es meist unauffällig oder unspezifisch und wird nicht als diagnostisches Kriterium gewertet, weshalb im Verdachtsfall die ergänzende Durchführung einer zerebralen FDG-PET-Untersuchung erwogen werden sollte.14–16 Auch wenn die Definition der AK-negativen, aber möglichen AE die Durchführung eines EEG nicht berücksichtigt, kann es ein hilfreicher Parameter in der Diagnosestellung sein. Anzumerken ist auch, dass das mit einer Tumordiagnose zeitlich assoziiert auftretende neurologische Syndrom zur Bestimmung onkoneuronaler Antikörper führen sollte.17 Bei geringstem Verdacht auf Vorliegen einer AE (Diagnosekriterien) und nach Ausschluss einer infektiösen Genese (cMRT, Liquor) sollte eine Therapie mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG; 0,4mg/kg/KG pro Tag über 5 Tage) eingeleitet werden. Das klinische Monitoring und die Überwachung der Vitalparameter sind substanziell, um ehestmöglich mit einer eskalierenden immunsuppressiven Therapie starten zu können. Die Anwendung von Antipsychotika, insbesondere von antidopaminergen Substanzen, führt bei Patienten mit Anti-NMDAR-Enzephalitis häufig zu Nebenwirkungen und Komplikationen bis hin zum Auftreten eines malignen neuroleptischen Syndroms (MNS). Aufgrund der Gefahr einer möglichen Verwechslung einer AE mit einem MNS wird mitunter der Einsatz von hochpotenten antidopaminergen Substanzen von manchen Autoren nicht empfohlen.18,19 Stattdessen sollten eher Benzodiazepine oder Antipsychotika mit einer stärker sedierenden Komponente verwendet werden.2,20
Die Prävalenz antineuronaler AK bei Patienten mit Schizophrenie und/oder psychotischen Episoden wurde in verschiedenen Studien mit bis zu 10% angegeben.21–24 Dem stehen Ergebnisse anderer Studien gegenüber, die keinen Nachweis antineuronaler AK bei psychiatrischen Patienten zeigten, und von retrospektiven Kohortenstudien, die keine Unterschiede zwischen gesunden Kontrollen und Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen ergaben.25–30 Das Vorkommen pathogener antineuronaler AK bei gesunden Probanden scheint die Ausnahme zu sein.31 Ohnehin muss ein positiver Antikörperbefund bei relevantem Titer und AK-Isotyp (z.B. NR1-spezifische Anti-NMDAR-IgG) im klinischen Gesamtkontext beurteilt werden und die Bestimmung antineuronaler AK aus Liquor und Serum ist nach wie vor der am besten geeignete diagnostische Biomarker.
Fazit
Zusammenfassend sollte bei klinischem Verdacht auf AE unter Berücksichtigung der etablierten Diagnosekriterien sowie gelber und roter Warnzeichen niederschwellig eine spezifische diagnostische Abklärung inklusive Bestimmung antineuronaler AK aus Serum und Liquor erfolgen.2 Die Bedeutung eines positiven Antikörperbefundes sollte interdisziplinär beurteilt werden, bei rascher klinischer Dynamik und Erfüllen der AE-Diagnosekriterien sollte auch ohne Vorliegen des AK-Befundes möglichst ohne Verzögerung eine immunmodulierende Therapie mit IVIG eingeleitet werden.
Literatur:
1 Dubey D et al.: Autoimmune encephalitis epidemiology and a comparison to infectious encephalitis. Ann Neurol 2018; 83(1): 166-77 2 Herken J, Prüss H: Red flags: clinical signs for identifying autoimmune encephalitis in psychiatric patients. Front Psychiatry 2017; 8: 25 3 Titulaer MJ et l.: Treatment and prognostic factors for long-term outcome in patients with anti-NMDA receptor encephalitis: an observational cohort study. Lancet Neurol 2013; 12(2): 157-65 4 Höftberger R et al.: Encephalitis and AMPA receptor antibodies. Neurology 2015; 84(24): 2403-12 5 Höftberger R et al.: Encephalitis and GABAB receptor antibodies. Neurology 2013; 81(17): 1500-6 6 van Sonderen A et al.: Anti-LGI1 encephalitis: clinical syndrome and long-term follow-up. Neurology 2016; 87(14): 1449-56 7 van Sonderen A et al.: The clinical spectrum of Caspr2 antibody-associated disease. Neurology 2016; 87(5): 521-8 8 Al-Diwani A et al.: The psychopathology of NMDAR-antibody encephalitis in adults: a systematic review and phenotypic analysis of individual patient data. Lancet Psychiatry 2019; 6(3): 235-46 9 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) (Hrsg.): S3-Leitlinie Schizophrenie. AWMF-Register-Nr. 038-009. Langfassung Stand: 15.3.2019. Herausgebende Fachgesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) 10 Graus F et al.: A clinical approach to diagnosis of autoimmune encephalitis. Lancet Neurol 2016; 15(4): 391-404 11 Kayser MS et al.: Frequency and characteristics of isolated psychiatric episodes in anti–N-methyl-d-aspartate receptor encephalitis. JAMA Neurol 2013; 70(9): 1133-9 12 Warren N et al.: Refining the psychiatric syndrome of anti-N-methyl-d-aspartate receptor encephalitis. Acta Psychiatr Scand 2018; 138(5): 401-8 13 Pollak TA et al.: Autoimmune psychosis: an international consensus on an approach to the diagnosis and management of psychosis of suspected autoimmune origin. Lancet Psychiatry 2020; 7(1): 93-108 14 Dalmau J et al.: Clinical experience and laboratory investigations in patients with anti-NMDAR encephalitis. Lancet Neurol 2011; 10(1): 63-74 15 Leypoldt F et al.: Fluorodeoxyglucose positron emission tomography in anti-N-methyl-D-aspartate receptor encephalitis: distinct pattern of disease. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2012; 83(7): 681-6 16 Novy J et al.: FDG-PET hyperactivity pattern in anti-NMDAr encephalitis. J Neuroimmunol 2016; 297: 156-8 17 Graus F et al.: Updated diagnostic criteria for paraneoplastic neurologic syndromes. Neurol Neuroimmunol Neuroinflammation [Internet] 2021 [zitiert 19. Oktober 2021]; 8(4). Verfügbar unter: https://nn.neurology.org/content/8/4/e1014 18 Lancaster E: The diagnosis and treatment of autoimmune encephalitis. J Clin Neurol (Seoul, Korea) 2016; 12(1): 1-13 19 Sarkis RA et al.: Anti-N-methyl-D-aspartate receptor encephalitis: a review of psychiatric phenotypes and management considerations: a report of the American Neuropsychiatric Association Committee on research. J Neuropsychiatry Clin Neurosci 2019; 31(2): 137-42 20 Neuronal surface autoantibodies, encephalitis, and psychosis: from neurology to psychiatry [Internet]. ACNR | Paper & Online Neurology Journal 2017. Verfügbar unter: https://acnr.co.uk/2017/12/neuronal-surface-autoantibodies-encephalitis-and-psychosis-from-neurology-to-psychiatry/ 21 Lennox BR et al.: Prevalence and clinical characteristics of serum neuronal cell surface antibodies in first-episode psychosis: a case-control study. 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