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Epilepsie und Depression

Neurobiologische Gemeinsamkeiten und neue Therapieansätze

<p class="article-intro">Epilepsien sind häufig stigmatisierend erlebte, chronische und die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankungen. Die Prävalenz der Depression bei Epilepsiepatienten ist hoch, jeder Dritte (32 % ) leidet daran, präsentiert aber oft atypische Symptome. Umgekehrt haben depressive Patienten ein erhöhtes Risiko, später eine Epilepsie zu entwickeln. Den Schnittstellen zwischen den Erkrankungen und den damit befassten medizinischen Disziplinen ging ein Fachsymposium der Epilepsie-Klinik Lengg und der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich nach.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Nicht erst durch die Einf&uuml;hrung der Elektrokonvulsionstherapie in der Behandlung depressiver Erkrankungen stellen sich Fragen zu pathophysiologischen Gemeinsamkeiten depressiver St&ouml;rungen und Anfallserkrankungen. In einer von Prof. Dr. Dr. med. Thomas Grunwald von der Klinik Lengg und Prof. Dr. med. Erich Seifritz von der Psychiatrischen Universit&auml;tsklinik Z&uuml;rich organisierten Veranstaltung diskutierten Experten wichtige Schnittstellen. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1605_Weblinks_seite16_1.jpg" alt="" width="1039" height="727" /> <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1605_Weblinks_seite16_2.jpg" alt="" width="1040" height="674" /></p> <h2>Allgemeine Aspekte der Depression</h2> <p>PD Dr. med. Annette Br&uuml;hl von der Klinik f&uuml;r Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universit&auml;tsklinik (PUK) Z&uuml;rich diskutierte allgemeine Aspekte zu Depressionen und beantwortete die Frage, wann man an eine Depression denken sollte. Die Liste der Haupt- und Zusatzsymptome nach ICD-10 (F32) sei lang, f&uuml;hrte sie aus, einfacher sei der Zwei-Fragen-Test der WHO: 1. Frage: F&uuml;hlten Sie sich im letzten Monat h&auml;ufig niedergeschlagen, traurig bedr&uuml;ckt oder hoffnungslos? 2. Frage: Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun? Wenn die Antworten positiv seien, dann sollte eine weitere Exploration erfolgen.<sup>1</sup> <br />Da es zahlreiche psychiatrische Differenzialdiagnosen gebe (z.B. prolongierte Trauer, Anpassungsst&ouml;rung, bipolare St&ouml;rung, Angsterkrankung, Zwangserkrankung, Demenz und beginnende demenzielle Entwicklung, Schmerzerkrankung, posttraumatische Belastungsst&ouml;rung, Substanzabh&auml;ngigkeit, Essst&ouml;rung, Pers&ouml;nlichkeitsst&ouml;rung), sollte die Einbeziehung eines Psychiaters niederschwellig erfolgen, empfahl Br&uuml;hl. In jedem Fall sollte zu Beginn einer Therapie und bei jeder Visite im weiteren Verlauf die Suizidalit&auml;t abgekl&auml;rt werden. <br />Abh&auml;ngig vom Schweregrad einer Depression ist eine Therapie mit Psycho- oder/und Pharmakotherapie indiziert. Die Aufkl&auml;rung &uuml;ber Antidepressiva, Psychoedukation und w&ouml;chentliche Kontrollen in den ersten Behandlungsmonaten sei essenziell. &laquo;Die Wirksamkeitspr&uuml;fung der Medikation ist sp&auml;testens nach vier Wochen angezeigt. Wenn sich keine Verbesserung der Symptome zeigt, sollte eine Plasmaspiegel-Bestimmung erfolgen&raquo;, empfahl die Referentin. Wie lange sollten die Medikamente eingenommen werden? &laquo;Mindestens vier bis neun Monate &uuml;ber die Remission hinaus, und zwar ohne Dosisreduktion&raquo;, betonte Dr. med. Br&uuml;hl. F&uuml;r zahlreiche Psychotherapieformen sei eine Wirksamkeit auf depressive St&ouml;rungen nachgewiesen. Bei schwerer Depression ohne ausreichendes Ansprechen auf eine ad&auml;quate Therapie nach sechs Wochen, bei Selbst- und Fremdgef&auml;hrdung und bei relevanten Komorbidit&auml;ten sollte immer ein Psychiater beigezogen werden, so die Empfehlung. Erste Auswahlkriterien f&uuml;r die Antidepressiva seien die Vertr&auml;glichkeit (Patientenpr&auml;ferenz) und psychiatrische Komorbidit&auml;ten. Bei Zwangsst&ouml;rungen sind z.B. SSRI oder Clomipramin eine gute Option, bei ADHS eher die SNRI. Zur Augmentation sind Lithium, Antipsychotika, Sport, Lichttherapie, Schlafentzugstherapie und eventuell Nahrungserg&auml;nzungsmittel eine Option. Die elektrischen Stimulationsverfahren EKT, rTMS, DBS und VNS wurden diskutiert. Experimentell wurden die Therapieans&auml;tze mit Ketamin, Botulinumtoxin, Neurofeedback und EPO genannt.</p> <h2>Elektrokonvulsionstherapie</h2> <p>Prof. Dr. med. Heinz B&ouml;ker, Emeritus Psychiatrie und noch in psychoanalytischer Praxis in Z&uuml;rich t&auml;tig, ist ein Pionier der Elektrokonvulsionstherapie, EKT, zur Depressionsbehandlung. Nach einem historischen R&uuml;ckblick zeigte er auf, f&uuml;r welche Patienten die moderne EKT infrage kommt. Sie erfolgt heute in Kurznarkose unter Muskelrelaxation. Obwohl der Wirkungsmechanismus noch immer ungekl&auml;rt ist (der Krampfanfall selbst, die Applikation von elektrischem Strom?), ist die Summe der kurz- und langfristigen Einzeleffekte so &uuml;berzeugend, dass die EKT sogar Therapie der ersten Wahl sein kann. &laquo;Bei akuter lebensbedrohlicher Katatonie, wahnhaften Depressionen, depressivem Stupor und schizoaffektiven Psychosen mit depressiver Verstimmung sowie endogenen Depressionen mit hoher Suizidalit&auml;t, Nahrungsverweigerung oder ausserordentlichem Leidensdruck ist ein Einsatz &lsaquo;first line&rsaquo; gerechtfertigt&raquo;, f&uuml;hrte Prof. B&ouml;ker aus. Als Therapie der zweiten und dritten Wahl kann die EKT bei therapieresistenten Depressionen oder Manien appliziert werden. Es gebe nur drei absolute Kontraindikationen (KI): k&uuml;rzlich &uuml;berstandener Herzinfarkt, zerebrales oder aortales Aneurysma/Angiom und erh&ouml;hter Hirndruck. H&ouml;heres Alter, Schwangerschaft und Herzschrittmacher sind dagegen keine KI. Relative KI (KHK, schwere Hypertonie, Post-Stroke, pulmonale Erkrankungen) erfordern vorg&auml;ngig ein internistisches Konsilium. Zur Praxis der EKT an der PUK berichtete Prof. B&ouml;ker, dass diese seit 2013 auch ambulant erfolgen k&ouml;nne, es werden drei Einzelapplikationen pro Woche als Serie mit bis zu 12 Einzelbehandlungen verabreicht. Insgesamt liegt die Nebenwirkungsrate bei 23 % und umfasst leichte kognitive St&ouml;rungen, kardiovaskul&auml;re NW sowie Kopfschmerzen, Nausea usw. Nur bei 2 % treten ernsthafte NW auf. &laquo;Es ist nicht gerechtfertigt, die EKT nur als letzte Option in der Depressionsbehandlung einzusetzen&raquo;, schloss Prof. B&ouml;ker. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1605_Weblinks_seite17.jpg" alt="" width="1417" height="866" /></p> <h2>Weitere &laquo;Electroceuticals&raquo;</h2> <p>&laquo;Electroceuticals sind Medikamente, deren Wirkstoffe elektrische Impulse sind&raquo;, erkl&auml;rte Prof. Dr. med. Thomas Schl&auml;pfer von der Klinik f&uuml;r Psychiatrie und Psychotherapie am Universit&auml;tsklinikum Bonn den Begriff. Neuromodulierende Interventionen sind die tiefe Hirnstimulation (DBS), die repetitive Magnetstimulation (rTMS) und die Vagusnervstimulation (VNS). Der Einsatz der DBS bei Depressionen basiert auf der Vorstellung, dass neurale Schaltkreise den Affekt bestimmen und frontaler Cortex, Hippocampus, Nucleus accumbens (Anhedonie), Striatum (Belohnung) und Hypothalamus die zentralen Schaltstellen sind. Eine DBS des Nucleus accumbens f&uuml;hrt zu einer deutlichen Verbesserung in der Hamilton Depression Scale &uuml;ber zwei Jahre hinaus. Bisher stimulierte man an drei Orten und kam auf 50 % Responder.<sup>2</sup> In aktuell laufenden Studien (FORESEE, Forebrain Stimulation Depression<sup>3</sup>) wird die Idee verfolgt, einen Schritt tiefer im pr&auml;tektalen Grau zu stimulieren. In einer ersten offenen Studie mit acht hochgradig therapieresistenten Patienten konnte die Re&shy;sponserate auf 87,5 % erh&ouml;ht werden. Zum Stand der Anwendung der &laquo;Electroceuticals&raquo; zeigte Prof. Schl&auml;pfer eine Tabelle (Tab. 1).</p> <h2>Risiken unter Antidepressiva</h2> <p>PD Dr. med. Reinhard Ganz von der Klinik Lengg zeigte auf, dass das Risiko einer prokonvulsiven Wirkung von Antidepressiva (AD) weit &uuml;bersch&auml;tzt wird. Bei geeigneter Wahl des Pr&auml;parates (insbesondere SSRI) und bei einem vorsichtigen therapeutischen Regime sind AD auch bei Epilepsiepatienten gut vertr&auml;glich, sie haben einen dosisabh&auml;ngigen Effekt auf die Anfallsfrequenz, dieser scheint unabh&auml;ngig vom Anfallstyp und unabh&auml;ngig vom antidepressiven Effekt zu sein. &laquo;Eine antidepressive Therapie mit serotonergen oder serotonergen/noradrenergen Antidepressiva hat im therapeutischen Dosisbereich kein klinisch relevantes epileptogenes Potenzial&raquo;, erkl&auml;rte Dr. med. Ganz. Damit st&uuml;nden sehr gute Medikamente zur Verf&uuml;gung, betonte er. <br />F&uuml;r eine Vielzahl von Antikonvulsiva ist ein depressiogener Effekt nachgewiesen: Phenobarbital, Phenytoin, Primidon, Vigabatrin, Tiagabin, Felbamat, Topiramat. Enzyminduktoren wirken &uuml;ber eine Minderung der Fols&auml;urekonzentration depressionsf&ouml;rdernd. Ein Wechsel von Antiepileptika, die ein h&ouml;heres Risiko der Ausl&ouml;sung von depressiven Symptomen haben, hin zu solchen, die stimmungsneutral sind oder sogar einen g&uuml;nstigen Effekt auf die Stimmung haben, sollte bei einer manifesten Depression gepr&uuml;ft werden. Zu den Substanzen, die die Stimmung stabilisieren k&ouml;nnen, z&auml;hlen unter anderem Carbamazepin und Valproat. Lamotrigin und Gabapentin tragen sogar eher zu einer Stimmungsaufhellung bei und kommen f&uuml;r eine medikament&ouml;se Umstellung besonders infrage.<sup>4</sup> <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Neuro_1605_Weblinks_seite18.jpg" alt="" width="1417" height="1004" /></p> <h2>Auf atypische Symptome achten</h2> <p>Symptome einer Depression werden oft als normale Reaktion auf eine chronische Epilepsie angesehen. Psychoreaktive Aspekte seien die Unvorhersehbarkeit der Anf&auml;lle, das Erleben von Kontrollverlust, Erleben von Besch&auml;mung, reale soziale und berufliche Einschr&auml;nkungen und gesellschaftliche Stigmatisierung, f&uuml;hrte Dr. Matthias Schmutz, Psychologe in der Klinik Lengg, an. Affektive St&ouml;rungen von Epilepsiepatienten haben oft atypische Z&uuml;ge, die die Diagnose erschweren. Zus&auml;tzlich stellen die Patienten ihre psychiatrischen Symptome oft aus Angst in den Hintergrund, hierdurch noch st&auml;rker stigmatisiert zu werden. Die Therapie der Depression ist aber sehr wichtig, da die erfolgreiche Behandlung wesentlich auf die Lebensqualit&auml;t Einfluss nimmt und das erh&ouml;hte Suizidrisiko reduzieren kann.<sup>5, 6</sup> <br />Die Formen der Depression werden nach dem Zeitpunkt des Auftretens in pr&auml;iktal, iktal und postiktal eingeteilt. Interiktale depressive Symptome oder Episoden unterscheiden sich oftmals von der &laquo;klassischen&raquo; unipolaren, schweren depressiven Episode, die noch am ehesten erkannt wird. Atypische depressive St&ouml;rungen bei Epilepsie gehen mit Dysphorie, Anergie, Stimmungsschwankungen mit Dysphorie, Freud- und Hoffnungslosigkeit, diffusen Schmerzen, Insomnie, Furcht und Angst einher. Schlafst&ouml;rungen bei Epilepsiepatienten sind h&auml;ufig (65,5 % <sup>7</sup>) und korrespondieren mit weiteren medizinischen Problemen wie &uuml;berm&auml;ssigem Hypnotikagebrauch, AED-Polytherapie und COPD, Asthma und OSAS, worauf Dr. med. Aribert Bauerfeind vom Schlaflabor der Klinik Lengg verwies.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Whooley MA et al: J Gen Intern Med 1997; 12(7): 439-45 <strong>2</strong> Magnezi R et al: Comparison between neurostimulation techniques repetitive transcranial magnetic stimulation vs electroconvulsive therapy for the treatment of resistant depression: patient preference and cost-effectiveness. Patient Prefer Adherence 2016; 10: 1481-7 <strong>3</strong> Bewernick et al: Long-term effects of nucleus accumbens deep brain stimulation in treatment-resistant depression: evidence for sustained efficacy. Neuropsychopharmacology 2012; 37(9): 1975-85 <strong>4</strong> Alper K et al: Seizure incidence in psychopharmacological clinical trials: an analysis of Food and Drug Administration (FDA) summary basis of approval reports. Biol Psychiatry 2007 ; 62(4): 345-54 <strong>5</strong> Kanner AM: Management of psychiatric and neurological comorbidities in epilepsy. Nat Rev Neurol 2016; 12(2): 106-16 <strong>6</strong> Tellez-Zenteno JF et al: Psychiatric comorbidity in epilepsy: a population-based analysis. Epilepsia 2007; 48(12): 2336-44 <strong>7</strong> Yang Kli et al: Severity of self-reported insomnia in adults with epilepsy is related to comorbid medical disorders and depressive symptoms. Epilepsy Behav 2016; 60: 27-32</p> </div> </p>
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