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Zur drängenden Versorgungsfrage

Kinder- und Jugendpsychiatrie: Quo vadis?

Flächendeckend, niederschwellig, vernetzt − so sollte die Kinder- und Jugendpsychiatrie ihre Patienten auffangen. Gerade vor dem Hintergrund steigender Erkrankungszahlen müssen wir aber feststellen, dass es bis zu diesem Ideal noch ein weiter Weg ist. Konzepte für eine zukunftsfähige Versorgung gibt es bereits.

Multiple Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass ca. jedes fünfte Kind bzw. jeder fünfte Jugendliche psychische Probleme entwickelt.1–3 Diese Zahlen haben sich während der Covid-19-Pandemie weiter verschärft. In der deutschen COPSY-Studie wurde zu drei Zeitpunkten (Mai/Juni 2020, September/Oktober 2021, Februar 2022) anhand einer Online-Befragung aufgezeigt, dass inzwischen jedes dritte Kind von psychischen Auffälligkeiten betroffen ist. Dabei traten zunehmend behandlungsbedürftige psychische Störungen auf. Darunter vor allem Ängste und depressive Störungen.4

Vielfältige Prävention

Die Notwendigkeit erreichbarer kinder- und jugendpsychiatrischer Versorgung rückt bei diesen Zahlen deutlich in den Vordergrund. Dabei ist nicht nur die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie gefragt, vielmehr bedarf es eines „Continuum of Care“ von Angeboten der Prävention. Dazu gehören zum Beispiel psychoedukative Gruppen, Angebote von niederschwelligen Beratungsterminen, Angebote der ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in Ordinationen bis hin zu teilstationärer und stationärer Versorgung.

Wichtig sind dabei einerseits kinder- und jugendpsychiatrische Angebote in den Bezirken, andererseits möglichst niederschwellige Hilfsangebote an „normalen Orten“ wie in Schulen oder Jugendtreffs, psychosozialen Diensten oder gemeinsamen Ordinationen mit der Pädiatrie. Das soll nicht zuletzt der Angst vor Stigmatisierung bei Besuch eines Kinder- und Jugendpsychiaters vorbeugen.

Multiprofessionelles Hometreatment

Sollte trotz dieses Angebots fallweise eine intensive kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung nötig sein, muss diese nicht immer stationär sein. Auch ein aufsuchendes Angebot im Sinne von Hometreatment mit 4 bis 5 Kontakten pro Woche kann eine Alternative sein. Hometreatment sollte dabei von einem multiprofessionellen Team durchgeführt werden und Einzeltherapiesitzungen, Familientherapiesitzungen, Fachtherapiestunden, erlebnispädagogische Einheiten sowie von der Pflege durchgeführte Einheiten beinhalten. Dadurch erhalten die Kinder und Jugendlichen ein spezialisiertes komplexes Angebot an therapeutischen Leistungen unter Einbezug des familiären und schulischen Umfelds. In verschiedenen Studien wurde nachgewiesen, dass Hometreatment nicht nur für alle Diagnosegruppen eingesetzt werden kann, sondern auch genauso effektiv ist wie eine stationäre Behandlung. Letztendlich kann sich der Einsatz von Hometreatment auch kostensparend auf das Gesundheitssystem auswirken.

Ebenso wichtig wie die Vielfalt an in der Intensität abgestuften, spezialisierten Angeboten ist eine enge Vernetzung von Jugendhilfe und Jugendhilfeangeboten mit den Angeboten der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Denn für eine gute Übertragbarkeit der Behandlungserfolge in den außerklinischen Alltag braucht es nicht selten noch unterstützende flexible Hilfen in den Familien oder niederschwellige therapeutische Angebote, die sich dann idealerweise mit den z.B. medikamentösen Kontrollen in einer Bestellambulanz oder Ordination vernetzen.

Insofern sollte die Antwort auf die eingangs gestellte Frage „Kinder- und Jugendpsychiatrie: Quo vadis?“ lauten: in Richtung einer frühen, fachspezifischen, breit gefächerten, regional erreichbaren Versorgung. Diese soll sich von der ambulanten Betreuung über teilstationäre Angebote und Hometreatment bis hin zur stationären Aufnahme erstrecken und eine gute Vernetzung an den Schnittstellen beinhalten. Denn nicht alle belasteten Kinder benötigen direkt ein intensives kinder- und jugendpsychiatrisches Angebot, oft reichen niederschwellige individualisierte Angebote aus, wenn diese frühzeitig und differenziert angenommen werden können.

1 Hölling H et al.: Psychische Auffälligkeiten und psychosoziale Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren in Deutschland – Prävalenz und zeitliche Trends zu 2 Erhebungszeitpunkten (2003–2006 und 2009–2012). Bundesgesundheitsbl 2014; 57: 807-19 2 Barkmann C, Schulte-Markwort M: Prevalence of emotional and behavioural disorders in German children and adolescents: a meta-analysis. J Epidemiol Community Health 2010; 66: 194-203 3 Merikangas KR et al.: Prevalence and treatment of mental disorders among US children in the 2001–2004 NHANES. Pediatrics 2010; 125(1): 75-81 4 Ravens-Sieberer U et al.: Child and adolescent mental health during the COVID-19 pandemic: results of the three-wave longitudinal COPSY study. 2022; online abrufbar unter https://ssrn.com/abstract=4024489

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