
Genetik der bipolaren affektiven Störung und klinische Anwendungsgebiete
Autorin:
Priv.-Doz. DDr. Susanne Bengesser, Bakk. rer. nat.
Universitätsklinikum für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Medizinische Universität Graz
E-Mail: susanne.bengesser@medunigraz.at
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Die bipolare affektive Störung (BAD) ist durch Stimmungsschwankungen zwischen den Polen Manie und Depression sowie lange andauernde euthyme Stimmungslagen, also Phasen ohne affektive Symptome, gekennzeichnet.
Affektive Störungen sind weit verbreitete Krankheiten, die mit einer verminderten Lebensqualität, einem erhöhten kardiovaskulären Risiko und einer erhöhten Sterblichkeit einhergehen.1,2 Die Lebenszeitprävalenz liegt nach den deutschen S3-Richtlinien für BAD bei etwa 3%, aber die Dunkelziffer ist deutlich höher.3 Obzwar es sehr gut bewährte Stimmungsstabilisatoren und phasenprophylaktische Medikamente, wie etwa Lithium, Valproinsäure oder Atypika3, gibt, spricht ein Großteil der Patienten nicht vollständig auf die derzeit verfügbaren Therapie-Möglichkeiten an3, weshalb personalisierte Medizin mit pharmakogenetischen (PGx) Tests und das Entdecken neuer Drug-Targets und Wirkstoffe durch genetische und allgemein molekularbiologische Forschung notwendig sind.
Das Entschlüsseln des molekularen Bauplans der BAD ist wichtig, um neue Wirkstoffziele zu finden und bereits bestehende Behandlungsstrategien zu verbessern.4,5 Die genetische Forschung hat potente Tools, um molekulare Krankheitsmechanismen zu entschlüsseln, und bereits sehr früh zeigten Zwillings- und Adoptionsstudien die hohe Heritabilität. Die Konkordanzraten von monozygoten Zwillingen liegen bei etwa 80%, was die deutliche polygene genetische Veranlagung für BAD unterstreicht.6
In den letzten Jahrzehnten haben Genetiker Hunderte von potenziellen Kandidatengenen mit den frühen Linkage- und Hypothesen-geleiteten Gen-Assoziations-Studien untersucht, die durch diverse umfassende, bereits veröffentlichte Reviews zusammengefasst werden.4,5 Die ersten Kandidatengen-Ansätze im Bereich BAD konzentrierten sich auf Gene, die an Pfaden beteiligt sind, welche in die wissenschaftlichen Modelle affektiver Störungen passen. Verschiedene Hypothesen-geleitete Gen-Assoziations-Studien untersuchten das serotonerge System (z.B. SERT), das dopaminerge System (z.B. DRD 1–5, DAT1 syn. SLC6A3), Mechanismen des Neurotransmitterabbaus (z.B. MAOA, COMT), das glutamaterge Neurotransmittersystem (z.B. GRM7), das GABAerge Neurotransmittersystem (z.B. GABRBI, GABRB3, GABRB5), Wachstumsfaktoren (z.B. BDNF) und zirkadiane Rhythmen (z.B. ARNTL).4
Obzwar jahrzehntelang Hypothesen-geleitet zahlreiche Kandidatengen-Studien durchgeführt wurden, zeigten sich die Ergebnisse inkonklusiv. Erst die Hypothesen-generierenden, Hypothesen-freien Methoden, mit denen Millionen von durch Arrays genotypisierten Gen-Varianten zwischen Studienteilnehmern mit BAD und Kontrollen ohne psychiatrische Erkrankung verglichen werden, brachten die ersten Durchbrüche in den großen, internationalen GWAS (genomweiten Assoziationsstudien). Die GWAS-Ära brachte bisher die wichtigsten Erkenntnisse in der Psychiatrie-Genetik.
Die rezente, größte, internationale GWAS von der Bipolar Disorder Working Group des PGC (Psychiatric Genomics Consortium) fand in 41917 bipolaren Studienteilnehmern und 371549 Kontrollen 64 genomweit signifikant assoziierte Risikogen-Varianten für die BAD.7 Risikogen-Varianten der BAD inkludieren vor allem Gen-Varianten, welche eine Rolle in der Gehirnentwicklung, der Synaptogenese, den Ionenkanal-Wegen (Kalzium- und Natrium-Kanal-Subeinheiten), den Neurotransmitter-Transportern und Rezeptoren (z.B. Dopaminrezeptoren), der Signaltransduktion und zirkadianen Rhythmik spielen. Erst ein Orchester aus Gen-Varianten, welches wiederum weitere Gene „downstream“ dirigiert, führt zur Prädisposition für die BAD.7,4
Klinische Anwendungsbereiche – pharmakogenetische Untersuchungen und Risikoprädiktion
Die Implementierung von pharmakogenomischen (PGx) Tests in der Psychiatrie steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber die internationale Gesellschaft für psychiatrische Genetik (ISPG) nahm den Mangel an Konsens auf diesem Gebiet wahr und versammelte eine Expertengruppe, um ein narratives Review der PGx-Literatur und Verschreibungsrichtlinien in Bezug auf Psychopharmaka sowie der wichtigsten Überlegungen zur und Einschränkungen der Verwendung von PGx-Tests in der Psychiatrie durchzuführen.
Die Gruppe kam zu dem Schluss, dass die derzeit veröffentlichten Erkenntnisse die Verwendung von PGx-Tests für drei Cytochrom-P450-Gene (CYP2D6, CYP2C19, CYP2C9) unterstützen. Darüber hinaus unterstütze die Literatur das Testen auf humane Leukozyten-Antigen-Gene bei Verwendung von Carbamazepin (HLA-A und HLA-B), Oxcarbazepin (HLA-B) und Phenytoin (HLA-B). Bei Valproat wird bei Verdacht auf eine mitochondriale Störung oder eine Harnstoffzyklusstörung ein Screening auf Varianten in bestimmten Genen (POLG, OTC, CSP1) empfohlen. Obwohl die Hindernisse für die breite, klinische Implementierung von PGx-Tests noch vollständig beseitigt werden müssen, deuten der derzeitige Wissensstand und die Innovation auf diesem Gebiet darauf hin, dass diese Hindernisse bald überwunden werden und PGx-Tests zu einem wichtigen Instrument für die personalisierte Medizin in der Psychiatrie werden8, was zur Reduktion von Nebenwirkungen, zum rascheren Finden des wirksamsten psychopharmakologischen Medikamentes und zur Reduktion von Krankenhausaufenthalten führen wird.
Die PGx-Forschung bleibt auch nicht stehen und bringt fortlaufend neue Erkenntnisse. So erforscht das internationale, renommierte ConLiGen (Consortium on Lithium Genetics) genetische Prädiktoren der Lithium-Response. Unter anderem wurden Assoziationen von „polygenen Risikoscores“ (PRS, „polygenic risk scores“) für Schizophrenie und Depression mit der Lithium-Response untersucht. Zunächst wurde der PRS für Schizophrenie kürzlich in einem großen ConLiGen-GWAS-Datensatz (n=2586 Personen mit BAD und Langzeitbehandlung mit Lithium) bezüglich der Lithium-Response untersucht, wobei Patienten mit einer geringen polygenen, genetischen Belastung für Schizophrenie eine bessere Reaktion auf Lithium zeigten.9 Ebenso war der Lithium-Response-Phänotyp mit Entzündungs- und Immunologie-Pathways verbunden.
15 mit der Lithium-Response assoziierte genetische Varianten gehörten zur HLA(„Human leukocyte antigene“)-Region, dem Antigen-Präsentationsweg und zu entzündlichen Zytokinen, wie etwa TNF (Tumor-Nekrose-Faktor), IL-4 (Interleukin 4) und IFN (Interferon).9 Zudem wurde in der ConLiGen-Kohorte der PRS für Depression untersucht, wobei sich zeigte, dass die Lithium-Reaktion bei bipolaren Patienten mit geringer polygener Belastung für unipolare Depression besser war als bei jenen mit einem hohen PRS für „major depression“.10 Der PRS (quasi ein polygener „genetischer Summenwert“, welcher mit einem speziellen Trait assoziiert ist) ist also ein sinnvolles Forschungs-Tool, um ein pharmakogenetisches Ansprechen auf polygenem Level vorherzusagen. Im klinischen Alltag wird jedoch der PRS noch nicht zur Vorhersage von pharmakologischer Response verwendet. Ebenso werden PRS eindeutig noch nicht zur individuellen Risikoprädiktion von psychiatrischen Erkrankungen und Diagnostik von der internationalen Psychiatrie-Genetik-Gesellschaft empfohlen.
Die PRS sind vielmehr exzellente Tools in der Psychiatrie-Genetik-Forschung, um molekularbiologische Wege der Krankheitsentstehung besser zu verstehen oder auch genetische Response-Mechanismen für Medikamente zu untersuchen. Einen Überblick über die Genetik der bipolaren Störung und Anwendungsbereiche des PRS finden Interessierte im frei zugänglichen Übersichtsartikel „Polygenic risk scores and bipolar disorder“.11
Fazit
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass der bipolaren Erkrankung eine genetische Prädisposition, bestehend aus einem „Kaleidoskop an genetischen Risikogen-Varianten“, zugrunde liegt, welches nur zusammen mit chronischem Stress und akuten Triggern zu Episoden führt. Adaptiert an den „genetischen Bauplan“ wird es in den nächsten Jahrzehnten voraussichtlich individuelle, personalisierte pharmakologische Therapie-Optionen geben, was Nebenwirkungen, Umstellversuche und Krankenhausaufenthaltsdauer deutlich reduzieren wird. Bereits jetzt werden von der ISPG (International Society of Psychiatric Genetics) PGx-Tests für drei Cytochrom-P450-Gene (CYP2D6, CYP2C19, CYP2C9) empfohlen.
Darüber hinaus empfiehlt die ISPG das Testen auf humane Leukozyten-Antigen-Gene bei Verwendung von Carbamazepin (HLA-A und HLA-B), Oxcarbazepin (HLA-B) und Phenytoin (HLA-B). Bei Valproat wird bei Verdacht auf eine mitochondriale Störung oder eine Harnstoffzyklusstörung ein Screening auf Varianten in bestimmten Genen (POLG, OTC, CSP1) empfohlen. Die Kosten für einen PGx-Test entsprechen etwa jenen von einem Krankenhaustag und die Ergebnisse der pharmakogenetischen Testung (z.B. ob ein Patient ein „poor“ oder „rapid CYP2D6 metabolizer“ ist) sind ein ganzes Leben lang anwendbar und sollten meines Erachtens langfristig im klinischen Alltag flächendeckend etabliert werden, um eine moderne personalisierte, psychopharmakologische Therapie in einer modernen Psychiatrie zu gewährleisten.
Literatur:
1 McIntyre RS et al.: Bipolar disorder and metabolic syndrome: an international perspective. J Affect Disord 2010; 126(3): 366-87 2 McIntyre RS et al.: The rate of metabolic syndrome in euthymic Canadian individuals with bipolar I/II disorder. Adv Ther 2010; 27(11): 828-36 3 DGBS e.V. und DGPPN e.V.: S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen. Langversion, 2012. 2012. Available at: http://www.leitlinie-bipolar.de/wp-content/uploads/2016/07/S3_Leitlinie-Bipolar_V1_8.pdf. Accessed 10/2018 4Bengesser S, Reininghaus E: Genetics of Bipolar Disorder. 1st edition. Peter-Lang (ed.). 8. Mai 2013 5 Schulze TG, McMahon FJ: Psychiatric Genetics: a Primer for Clinical and Basic Scientists. 1st edition. Oxford University Press, 4. Mai 2018 6 Rothenhäusler HB: Kompendium Praktische Psychiatrie. 2nd edition. Springer, 8. Mai 2013 7 Mullins N et al., PGC Bipolar Disorder Working Group: Genome-wide association study of over 40,000 bipolar disorder cases provides novel biological insights. Pre-Print verfügbar bei: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.09.17.20187054v1 8 Bousman CA et al.: Review and consensus on pharmacogenomic testing in psychiatry. Phpsy/ 2020-07-0926/20.10.2020/MPS 9 International Consortium on Lithium Genetics (ConLi+Gen) et al.: Association of polygenic score for schizophrenia and HLA antigen and inflammation genes with response to lithium in bipolar affective disorder: a genome-wide association study. JAMA Psychiatry 2018; 75(1): 65-74 10 Amare AT et al.: Polygenic scores for major depressive disorder and depressive symptoms predict response to lithium in patients with bipolar disorder. Available from: https://www.biorxiv.org/content/early/2018/10/26/449363 (accessed on 7th of December 2018); doi: https://doi.org/10.1101/449363 11Bengesser S, Reininghaus E: Polygenic risk scores and bipolar disorder. JPBS 2018; 3(6): 13. doi: 10.20900/jpbs.20180013
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