
Covid-19 und die psychologischen Herausforderungen für ältere Menschen
Autor: Univ.-Doz. Dr. Gerald Gatterer
Institut für Alternsforschung
Sigmund Freud Privat
Universität Wien
E-Mail: gerald@gatterer.at
Covid-19 stellt für alle Menschen eine große Herausforderung durch die notwendige Anpassung an eine neue Lebenssituation dar. Besonders gilt dies für alte und polymorbide Menschen, die besonders gefährdet sind, aber trotzdem Lebensqualität und Freiheit behalten wollen.
Covid-19 und ältere Menschen
Covid-19 ist aktuell die größte Herausforderung für alte Menschen, da es darum geht, sich an neue Lebensbedingungen anzupassen. Psychologisch gesehen erfolgt die Bewältigung einer Krise nach folgendem Muster. Nach der Wahrnehmung der aktuellen Problemsituation erfolgt deren subjektive Analyse und emotionale Bewertung unter Bezugnahme auf aus früheren Erfahrungen gelernte Bewältigungsmuster. Darauf bauen die kognitive Auseinandersetzung, Reflexion und Neubewertung der Situation sowie der Einsatz von Lösungsstrategien und deren Erprobung auf, um sich an diese Situation möglichst gut anzupassen. Ziele sind eine Verbesserung der Lebensqualität und eine Verminderung negativer emotionaler Reaktionen.
Bei diesem Prozess kommt es aber gerade bei älteren Menschen öfter zu größeren Problemen, da sie einerseits zur Risikogruppe gehören, andererseits aber ihre Lebensqualität oft von sozialen Kontakten mit der Familie oder Freunden abhängt. Das gilt besonders für allein lebende ältere Menschen und solche in Heimen.1, 2 Bei diesen Neuorientierungsprozessen sind gelernte Muster aus der Biografie ein wesentlicher Faktor. Dazu gehören die Bewertung von Risiko und echter Gefahr, die oft von den Persönlichkeitsstrukturen beeinflusst wird, ebenso wie die automatisierte emotionale Reaktion auf solch ein Ereignis, die Akzeptanz von „neuen“ oft nicht völlig einsichtigen Verordnungen und Gesetzen, die Einschränkung der Freiheit und die Neudefinition von Beziehungen und Lebensqualität unter diesen veränderten Bedingungen, sodass ein größtmögliches Maß an „Normalität“ des Lebens erzielt wird.
Psychologische Prozesse der Verarbeitung
Die Einschätzung einer Veränderung als Risiko oder Gefahr hängt von vielen gelernten Faktoren ab. Prinzipiell ist unser Leben immer „riskant“ und der adäquate Umgang mit Risiko bedeutet „positive“ Lebenszufriedenheit ohne überschießende negative emotionale Reaktionen wie Angst, Unsicherheit, Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Depressivität. Aber auch Ärger/Aggression, Auflehnung, zwanghaftes Kontrollverhalten bzw. „Verschwörungstheorien“ helfen kurzfristig eine Krise zu bewältigen. Bei Covid-19 ergibt sich psychologisch für ältere Menschen die Problematik, dass sie als Risikogruppe eingestuft wurden und es für sie somit gefährlich ist, vom Virus infiziert zu werden, andererseits aber auch Junge betroffen sind und auch sehr alte Menschen keine oder nur geringe Symptome zeigen, obwohl sie positiv sind. Das erschwert die „objektive“ Einschätzung der Gefahr, sodass vermehrt emotionale Reaktionen als Kompensation eingesetzt werden.
Ähnliches gilt für die Konsequenzen der Pandemie. Es kommt zu einer Einschätzung der Einschränkungen der Freiheit und Lebensqualität im Vergleich zur dadurch gewonnenen Sicherheit. Ist diese Einschätzung aus der subjektiven Sicht zu Ungunsten der Lebensqualität, erzeugt dies kognitive Dissonanz, also ein Gefühl von Spannung und Unzufriedenheit infolge fehlender Einsicht über die getroffenen Maßnahmen. An psychologischen Theorien können als Erklärungen für die dabei entstehenden emotionalen Reaktionen auch das Modell der „gelernten Hilflosigkeit“ und ein Verlust an positiven Verstärkern zur Erklärung von Depressivität und Verzweiflung herangezogen werden. Die Frustrations-/Aggressionshypothese, gekoppelt mit kognitiven Prozessen der Auflehnung und des Widerstandes führt hingegen zu aktiveren Verarbeitungsmustern, die vor Depressivität kurzfristig schützen können, aber oft negative soziale Konsequenzen (z.B. Problem bei der Einhaltung von Vorschriften) haben. Probleme ergeben sich auch durch persönlichkeitsspezifische Aspekte. So können kognitive und emotionale Schemata wie etwa „Autonomie, Verlassenheit, soziale Isolation oder auch Leistung“ aktiviert werden, die oft aus der Kindheit stammen bzw. durch den Alterungsprozess und Gebrechlichkeit entstanden sind.3
So reagieren Menschen mit einem starken Autonomieschema vermehrt mit Widerstand, wenn ihre Freiheit eingeschränkt wird, wohingegen Menschen mit Verlassenheitsschema bzw. sozialem Isolationsschema stärker depressive Reaktionen zeigen und sich einsam fühlen. Leistungsorientierte Menschen flüchten hingegen oft in einen Aktionismus. Ein Problem stellen auch die Grundbedürfnisse von älteren Menschen dar. Menschen, die Entbehrungen gewohnt sind und nicht viel zum Glücklichsein benötigen, leiden weniger stark unter der Krise als solche, die viele Grundbedürfnisse befriedigen müssen, um zufrieden zu sein. Hier kann es auch zu kompensatorischen Mustern wie Sucht kommen.
Bei älteren Menschen, vor allem solchen mit einer Demenz, ergibt sich bei diesem Anpassungsprozess oft auch ein kognitives Problem, da im Alter die Fähigkeit zur Neuanpassung vermindert ist, sodass vermehrt auf automatisierte Reaktionen zurückgegriffen wird. Besonders gilt dies für Menschen mit Demenz, die schneller emotional reagieren.
Beziehungen in Zeiten von Covid-19
Beziehungen sind in Zeiten von Covid-19 einer starken Belastung ausgesetzt. Das hängt jedoch auch von den dominanten Beziehungsstilen ab.4 So sind Menschen mit einem eher „funktionalen Beziehungsstil“, der auf die Befriedigung der Primärbedürfnisse ausgerichtet ist, weniger beeinträchtigt, wenn diese erfüllt sind. Bindungsorientierte Menschen, die sich lieben, leiden ebenfalls weniger unter den Einschränkungen, da sie ja gerne zusammen sind. In Austauschbeziehungen, die stark nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip funktionieren, gibt es häufiger Konflikte, da in der Beziehung meist abgewogen wird, wer mehr getan hat. Rollenspezifische Beziehungen funktionieren dann, wenn die Rollen beibehalten werden können, es gibt aber Probleme, wenn durch die Pandemie diese Rollen behindert werden, z.B. die Rolle Großeltern leben. Emotionale Beziehungstypen entwickeln in dieser Situation oft eine emotionale Problematik. Ärger, Konflikte, aber auch Spaß miteinander können hier entstehen. Im schlechtesten Fall zerbrechen solche Beziehungen an so einer Krise, da man vor dem Partner/der Partnerin nicht flüchten kann. Ich-orientierte Beziehungstypen leben ihre Macht über die Partner aus, da sich die Welt nach ihnen drehen sollte. Objektbeziehungstypen mit geringer emotionaler Repräsentanz leben meist so weiter wie vorher, da die Beziehung schon immer durch wenig Interaktion und Kommunikation geprägt war. Probleme können sich hier dadurch ergeben, dass bei zu geringen „Fluchtmöglichkeiten“, z.B. durch zu kleine Wohnräume, zu viel Kontakt entsteht. Dependente Beziehungstypen versuchen aus Angst, verlassen zu werden, und um Konflikte zu vermeiden, „optimal“ zu funktionieren. Gerade in Krisensituationen treten diese Beziehungstypen stärker zum Vorschein, da alternative Beziehungsmuster z.B. Treffen von Freunden, Kindern oder auch (sexuelle) Außenbeziehungen, die partnerschaftliche Konflikte vermindern, durch Covid-19 herabgesetzt sind. Auch in Heimen und in der häuslichen Betreuung durch pflegende Angehörige oder 24-Stunden-Hilfe kommen diese Muster stark zum Tragen. So sehen Ich-orientierte Beziehungstypen die Einschränkungen der Freiheit nicht ein. Dadurch ergeben sich oft Konflikte mit dem Betreuungspersonal bzw. bei Menschen mit Demenz „Stationsflüchtigkeit“. Betreuende Angehörige sind dadurch auch schneller überlastet, da andere Beziehungen und Unterstützungen erschwert sind (vgl. Erhebung Volkshilfe, www.volkshilfe.at). Aber auch das Zusammenleben zwischen den Generationen ist stark behindert. Soll man Oma und Opa jetzt durch die Vermeidung sozialer Kontakte schützen oder wird das von diesen als mangelnde Liebe wahrgenommen? Oft sehen junge Menschen auch nicht ein, warum sie aufgrund der „Risikogruppe“ alte Menschen auf die eigenen Freiheiten verzichten sollen.
Psychologische und psychotherapeutische Konsequenzen
Covid-19 ist ein Virus, mit dem wir Menschen umgehen lernen müssen. Ältere Menschen haben ein erhöhtes Risiko, zu erkranken, trotzdem sollte Panik vermieden werden, da dadurch automatisierte emotionale Bewältigungsprozesse aktiviert werden, die eine rationale Problemlösung erschweren.
Ältere Menschen sind zwar stärker gefährdet, sie wollen aber auch leben und nicht nur „geschützt“ werden und dabei vereinsamen. Covid-19 bedeutet die Anpassung des Lebens an diese neue Situation, aber nicht das Ende des Lebens und der Welt. Lebenslust und Lebensfreude hängen nicht von den objektiven Faktoren ab, sondern von deren individueller Bewältigung durch den Menschen selbst. Das Leben ist immer Veränderung und Anpassung an neue Umweltgegebenheiten und Lebenssituationen. Der Einsatz technologischer Hilfsmittel ist auch bei älteren Menschen hilfreich.
Bei der Lösung von Konflikten kann folgendes Vorgehen helfen5, 6
Grundvoraussetzung ist wertschätzende Interaktion und Kommunikation, um auftretende Probleme möglichst objektiv und entemotionalisiert zu erfassen. Welche psychologischen Faktoren spielen eine Rolle und führen zu der aktuellen emotionalen Reaktion? Wer ist betroffen? Welche Beziehungsmuster und Rollenbilder bzw. gelernten Verhaltensweisen führen dazu?
Darauf baut die Problemlösung auf. Gibt es Auslöser, die leicht verändert werden können? So können z.B. fehlende soziale Kontakte durch technische Hilfsmittel (Smartphone; Skype) ausgeglichen werden. Wichtig sind hier Flexibilität und auch das Ausprobieren von neuen Möglichkeiten; z.B. funktioniert Skype oder ein anderes Telekommunikationssystem auch bei Menschen mit Demenz.7 Sie brauchen nur Unterstützung. Ist das Problem primär emotional, müssen vermehrt biografische Elemente berücksichtigt werden. Liegt das Problem bei den Helfern bzw. Betreuern und deren emotionaler Reaktion, ist Supervision wichtig.
Psychologische bzw. psychotherapeutische Unterstützung ist oft ein wesentlicher Faktor und sollte gerade in Zeiten von Krisen genützt werden. Ziel ist die Erarbeitung „praktischer“ Lösungsstrategien, da nur diese sich auch umsetzen lassen. Diese beinhalten das Aufgreifen von ungenutzten Möglichkeiten, positiv Denken trotz Krisen, die Akzeptanz von Dingen und Vorschriften, die aktuell notwendig sind, sowie ein wertschätzender Umgang mit anderen Menschen.
Literatur:
1 Gatterer G: Der ältere Mensch und „Corona“ – aus der Sicht von Psychologie/Psychotherapie. Pflegewissenschaft/Sonderausgabe: Die Corona-Pandemie. Hpsmedia 2020, Hungen 2 Plangger B et al.: The effects of social isolation among elderly people in nursing homes in Austria during the Covid-19 pandemic. Submitted in: General Psychiatry 2020 3 Gatterer G, Blokesch R: Need oriented schemata and schema-therapy in old aged people (Abstract); Symposia EFPA19 and EFPA30. Facing the challenges of ageing populations – contributions from geropsychology. 2017 (Org.: Ferring D. EFPA-SC Geropsychology). European Congress of Psychology, Amsterdam 2017 4 Gatterer G.: Liebe, Partnerschaft und Sexualität im Alter. Psychologie in Österreich 2018c; 4: 292-9 5 Gatterer G: Umgang mit Krisen bei Demenz. Pflege Professionell. Das Fachmagazin 2018a; 16: 73-8 6 Gatterer G: (2018b). Demenzerkrankte in der Krise. Möglichkeiten der Deeskalation. In: ÖGERN (Hrsg.): Psychiatrische Notfälle im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit. Schriftreihe Ethik und Recht in der Notfallmedizin. Bd. 5. 2018a. 107-16 7 Gatterer G: Ältere Menschen und moderne Technologien. Psychologische Aspekte. In: Plechaty M, Lang F (Hrsg.): Ältere Menschen in der Mediengesellschaft. Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. 2015. 72-80
Das könnte Sie auch interessieren:
Psychotherapie der chronischen insomnischen Störung: Stand der Forschung und aktuelle Entwicklungen
Die chronische insomnische Störung ist durch Beschwerden zu gestörtem Schlaf und eine damit verbundene reduzierte Leistungsfähigkeit charakterisiert. Die kognitive Verhaltenstherapie der ...
Machine Learning zur Verbesserung der Versorgung ausländischer Patient:innen
Die zunehmende Diversität aufgrund von Migration bringt spezifische Herausforderungen hinsichtlich Kommunikation, kultureller Deutung von Symptomen sowie institutioneller Strukturen mit ...
Selbsthilfe als Ergänzung zur psychiatrischen Versorgung
Gesundheitsbezogene Selbsthilfe stellt ein komplementäres Versorgungsangebot entlang der Gesundheitspfade dar. Daher sollten Fachkräfte anhand von Behandlungsempfehlungen beurteilen, ob ...