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Aufholbedarf in Sachen Selbstvertrauen

„Wir brauchen uns nicht zu verstecken – wir sind Zukunftsgestalter“

Der Bedarf an plastisch-chirurgischen Eingriffen ist gestiegen. Ein Grund dafür ist die demografische Entwicklung mit einem deutlich höheren Bedarf auch an rekonstruktiven Eingriffen. Univ.-Prof. Dr. Lars-Peter Kamolz im Gespräch mit JATROS über ein Fach mit Charme und Zukunft, nicht zuletzt aufgrund seiner Vielseitigkeit.

Univ.-Prof. Dr. Lars-Peter Kamolz, Vorstand der Universitätsklinik für Chirurgie und Leiter der Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie an der Medizinischen Universität Graz, hat die letzten zwei Jahre in seiner Funktion als Präsident die Österreichische Gesellschaft für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie (ÖGPÄRC) geprägt.

Worauf sind Sie in Ihrer Funktion als Präsident besonders stolz?

L.-P. Kamolz: Ich habe mich bemüht, das Fach nach außen hin in seiner Gesamtheit zu repräsentieren, und das ist mir, glaube ich, gelungen. Bildhaft ist die plastische Chirurgie als Tempel mit seinen vier Säulen auf dem Fundament der permanenten Forschung und Lehre zu verstehen: Handchirurgie, Verbrennungschirurgie, rekonstruktive und ästhetische Chirurgie sind die wichtigen Säulen und Lehre und Forschung sind die Grundlage für die nächste Generation und somit für die Zukunft unseres Faches.

Wo ist die ÖGPÄRC im internationalen Vergleich besser? Wo haben wir Aufholbedarf?

L.-P. Kamolz: Die ÖGPÄRC spielt in der höchsten Liga mit. Wir müssen den internationalen Vergleich nicht scheuen. Forschungsmäßig sind wir ganz weit vorne. Um für Graz zu sprechen: Auch die Ausbildung ist sehr gut, die Assistenten lernen das Fach in seiner gesamten Breite kennen. Die Ausbildung in Österreich ist sicher breiter als in anderen Ländern. Wir brauchen uns nicht verstecken, in einigen Bereichen sind wir Zukunftsgestalter.

Wie hat sich das Fach der plastischen Chirurgie in den letzten drei bis fünf Jahren entwickelt?

L.-P. Kamolz:Die Covid-Zeit hat natürlich auch in der plastischen Chirurgie ihre Spuren hinterlassen. So hat sich das OP-Spektrum komplett geändert: Wir hatten deutlich weniger körperformende Eingriffe, jedoch signifikant mehr Not- und dringliche Fälle während der Pandemie zu versorgen. Wir dokumentierten und dokumentieren auch heute noch deutlich mehr akute und komplexere rekonstruktive Eingriffe. Bei planbaren Operationen hat sich die Wartezeit verlängert. Bei uns als universitäres Zentrum sind die Operationszahlen in der Gesamtheit sogar gestiegen.

Aufgrund des mittlerweile überall bestehenden Pflegekräftemangels waren wir sehr stark gefordert, Prozesse und Abläufe zu verändern, um alle akuten und dringlichen Operationen vornehmen zu können, natürlich v.a. zulasten von elektiven Eingriffen. Wir konnten zwar die Anzahl tagesklinischer Eingriffe erhöhen, dennoch benötigen wir weiterhin zusätzliche stationäre Betten; immerhin betreuen wir heute deutlich mehr Patienten und kränkere Patienten als noch vor fünf Jahren. Sehr positiv für unser Fach ist, dass wir nicht über Nachwuchsprobleme klagen müssen. Die Begeisterung für die plastische Chirurgie ist ungebrochen groß, die Kollegen interessieren sich für dieses interessante und vielseitige Fach, das viele Möglichkeiten offenlässt, sich auch nach der Ausbildung weiterzuentwickeln und auch im niedergelassenen Bereich seinen Platz zu finden.

Aufholbedarf haben wir in punctn Selbstvertrauen. Wir stellen unser Licht zu sehr unter den Scheffel, weil wir eine deutlich kleinere Community sind als andere. In Wirklichkeit sind wir nicht nur sehr gut unterwegs, sondern in einigen Bereichen deutlich besser. Wir können auf international anerkannte Koryphäen aus den eigenen Reihen in allen Bereichen sehr stolz sein.

Wie schwer ist es, eine Ausbildungsstelle zu bekommen? Was raten Sie hier den jungen Kolleginnen und Kollegen?

L.-P. Kamolz: Die Nachfrage nach Ausbildungsstellen ist sehr groß. Ich glaube aber, dass man sich nicht von aktuellen Zahlen beeinflussen oder von seinem Weg abhalten lassen sollte. Wenn jemand der Überzeugung ist, das ist sein Fach, dann soll er das weiterverfolgen. Wir empfehlen, zuerst wissenschaftlich zu arbeiten und/oder ins Ausland zu gehen. Je mehr Qualifikationen die Bewerber vorweisen können, desto besser und desto einfacher bekommen sie eine Stelle. Wichtig ist, möglichst früh bereits bei seinem zukünftigen Arbeitgeber anzudocken.

Wie hat sich das Interesse für die verschiedenen Bereiche der plastischen Chirurgie verändert?

L.-P. Kamolz: In Graz sind alle Bereiche der plastischen Chirurgie, also die Verbrennungschirurgie, die rekonstruktive Chirurgie, die Hand- und Nervenchirurgie sowie die ästhetische Chirurgie, vertreten und werden gelehrt. Als Universitätsklinik sind wir stark forschungsorientiert und haben dadurch eine andere Selektion.

Die Kollegen sind heute merklich zielorientierter und wissen konkret, wo sie hin wollen. Für einige hat die Ästhetik deutlich an Bedeutung gewonnen, wobei nicht nur die Verdienstmöglichkeiten diese Entscheidung mittragen, sondern Work-Life-Balance im Mittelpunkt steht. Die Babyboomer-Generation lebt, um zu arbeiten, die junge Generation geht viel gesünder mit diesem Thema um.

Hier an der Abteilung gibt es etliche Kollegen, die aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse mit reduzierten Prozentsätzen arbeiten: 50%, 86%, 100%, alles ist vertreten. Doch diese Diversität macht es wieder spannend. Solange es planbar bleibt, spricht nichts gegen eine Reduktion des Beschäftigungsausmaßes. Die Menschen sind heute deutlich flexibler, das macht es komplexer, aber nicht unmöglich. Früher hat sich kaum jemand getraut zu fragen, wann man auf Urlaub gehen darf, heute fragt selbst der Jüngste bei seiner Einstellung gleich danach. Die Zeiten haben sich einfach geändert – aber das ist auch gut so.

Verlagert sich die plastische Chirurgie weg vom stationären in den ambulanten und niedergelassenen Bereich?

L.-P. Kamolz: Sie verlagert sich nicht nur in den ambulanten, sondern v.a. auch in den tageschirurgischen Bereich; gleichzeitig ist aber auch der Bedarf an komplexer plastischer Chirurgie und damit auch der Bedarf an Normalstationsbetten und ICU-Betten gestiegen. Die Menschen werden älter, sie haben mehr Nebenerkrankungen und brauchen gleichzeitig mehr medizinische Betreuung. Es besteht somit ein vermehrter Bedarf an komplexen rekonstruktiven, inkl. komplexer handchirurgischer, Operationen. Persönlich glaube ich, dass vor allem der Bedarf an rekonstruktiver Chirurgie weiter steigen wird.

Wie ist die Kooperation mit den angrenzenden Fächern wie Dermatologie, Orthopädie & Traumatologie, Neurochirurgie, Gefäßchirurgie und Gynäkologie?

L.-P. Kamolz: Naturgemäß sehen wir viele Überschneidungen mit anderen chirurgischen Fächern. Plastische Chirurgie ist ein interdisziplinäres Fach. Unser Einzugsgebiet ist sehr groß und über Jahre wurden Kooperationen mit vielen Landeskrankenhäusern in der Steiermark und in den angrenzenden Bundesländern aufgebaut. Sie stehen und fallen mit der Qualität der Zusammenarbeit und mit dem Charakter der einzelnen Player. Wenn es funktioniert, gibt es schöne und bereichernde Kooperationen.

Woran wird gerade intensiv geforscht?

L.-P. Kamolz: In der Grundlagenforschung ist die regenerative Medizin ein Thema: von 3D-Druck bis zu zellbasierten Therapien, Entwicklung neuer Verbandsmaterialien u.v.m. Klinisch wird natürlich das gesamte Spektrum der modernen plastischen Chirurgie beforscht.

Ist die künstliche Intelligenz (KI) ein Thema in der plastischen Chirurgie?

L.-P. Kamolz: Natürlich, KI ist aus dem Bereich der plastischen Chirurgie nicht mehr wegzudenken. KI spielt überall eine Rolle, wo man mit großen Datenmengen konfrontiert ist, beispielsweise im Rahmen von „Decision support“-Systemen, also entscheidungsunterstützend im Behandlungsablauf oder auch in organisatorischen Bereichen.

Nehmen Sie beispielsweise den typischen Entlassungsbrief – dieser wird mithilfe von KI in Zukunft automatisch generiert werden, indem die KI auf die Patientendaten der elektronischen Krankenakte zugreifen wird. Der Arzt überprüft lediglich abschließend den Entwurf und gibt ihn frei. In der plastischen Chirurgie kann KI auf verschiedene Weise genutzt werden.

ChatGPT gibt folgende Antwort: „Zum Beispiel kann KI-basierte Bildanalyse-Software verwendet werden, um präzise Messungen von Gesichtsmerkmalen durchzuführen und so die Planung von Operationen zu unterstützen. Auch können KI-Algorithmen eingesetzt werden, um die Ergebnisse von Operationen vorherzusagen und so die Patientenberatung zu verbessern.

Natürlich muss der Anwender von KI ein Grundwissen besitzen, um die Vorschläge zu überprüfen, man kann KI als Grundgerüst verwenden, das weiter überarbeitet wird.

Welche sind die Herausforderungen in den nächsten Jahren?

L.-P. Kamolz: Eine Herausforderung wird sein, das Fach in seiner gesamten Breite zu erhalten. Ich finde es besonders wichtig, dass die Gesellschaft ihre Einheit behält und sich nicht – wie in einigen anderen Ländern – die ästhetischen von den rekonstruktiven Chirurgen abspalten. Ich würde mir zudem wünschen, dass die vorhandenen Abteilungen gestärkt werden. Wir brauchen keine zusätzlichen Abteilungen, doch die bestehenden sollten je nach Bedürfnis weiter ausgebaut werden.

Gerade die Vielseitigkeit der plastischen Chirurgie macht den Reiz aus. Das Leben kann sich wandeln und ebenso die persönlichen Vorlieben. Und gerade das macht den Charme des Faches aus. Jeder kann etwas finden, um sich selbst zu verwirklichen.

Wir danken für das Gespräch!
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