
Zuweisungsdiagnose „unkontrollierte Zuckungen“
Autorin:
Dr. Beatrice Heim, PhD
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Innsbruck
E-Mail: beatrice.heim@i-med.ac.at
Das Glukosetransporter-Typ 1-Defizienz-Syndrom (GluT1-DS) ist eine seltene Erkrankung, die durch pathogene Varianten im SLC2A1-Gen verursacht wird. Es kann neben einem frühkindlichen Epilepsiesyndrom mit Entwicklungsstörung, Mikrozephalie und einer komplexen Bewegungsstörung auch zu paroxysmalen Bewegungsstörungen führen. Die Erkrankung wird in den meisten Fällen autosomal-dominant vererbt, wobei 90% der Fälle durch pathogene De-novo-Varianten entstehen. Eine ketogene Diät kann therapeutisch eingesetzt werden, um den Glukosestoffwechselweg zu umgehen und Ketone als alternative Energiequelle zu nutzen.
Fallvignette
An unserer Klinik stellte sich ein 33-jähriger Mann vor, der über etwa seit seinem 12. Lebensjahr bestehende Symptome mit attackenartigen, unwillkürlichen, nicht unterdrückbaren „Verkrampfungen“ und „Bewegungen“ im Bereich der unteren Extremitäten berichtete. Diese „Attacken“ würden wenige Minuten bis zu über eine Stunde dauern und teilweise mehrmals pro Woche auftreten. Abgesehen von diesen „Attacken“ habe er keine Beschwerden oder sonstigen Erkrankungen. Vor Beginn der Symptome sei er völlig gesund gewesen, mit einer unauffälligen motorischen und kognitiven Entwicklung in der Kindheit und Jugend.
Auf Nachfrage berichtet er, dass diese „Attacken“ gehäuft auftreten würden, wenn er hungrig sei bzw. nichts gegessen habe oder sich körperlich angestrengt habe. Kurze, plötzliche Bewegungen wie zum Beispiel Aufstehen aus dem Sitzen oder das Trinken koffeinhalter Getränke habe er nicht als Auslöser identifizieren können. Er selbst bemerke keine Verbesserung der Symptome durch Schlaf, auch keine abendliche Zunahme der Beschwerden, und auch migräneartige Symptome kenne er nicht. Anamnestisch erfolgte als Kind eine Abklärung in seinem Heimatland. Hier wurde laut dem Patienten jedoch keine Ursache für die Symptome gefunden. Familienanamnestisch war zu erheben, dass der Vater des Patienten an einer unklassifizierten Epilepsie leide. Der Patient trinkt keinen Alkohol und hat mit dem Rauchen ca. 6 Monate vor Vorstellung an unserer Abteilung aufgehört. Seine 5 Monate alte Tochter sei gesund und würde sich bisher normal entwickeln. Bisher erfolgten mehrere Therapieversuche, welche jedoch keine Besserung der Symptome bewirkten: Carbamazepin, L-Dopa (bis 400mg/d), Levetiracetam, Lamotrigin, Benzodiazepine.
Weiterführende Untersuchungen und Diagnose
In der klinisch-neurologischen Untersuchung in unserer Ambulanz zeigte sich ein unauffälliger neurologischer Status, die beschriebene Bewegungsstörung war nicht provozierbar. Es erfolgte eine stationäre Aufnahme an unserer Video-EEG-Monitoring-Einheit mit dem klinischen Verdacht auf eine paroxysmale belastungsinduzierte Dyskinesie im Rahmen eines Glukosetransporter-Typ-1-Defizienz-Syndroms.
Während der gesamten Ableitedauer wurden keine epileptischen Anfälle abgeleitet, klinisch zeigte sich nach körperlicher Betätigung jedoch die vom Patienten beschriebene Bewegungsstörung mit einer Dystonie und Choreoathetose der unteren Extremitäten. Es erfolgte die Durchführung einer genetischen Testung, in welcher sich eine heterozygote Missense-Variante auf dem SLC2A1-Gen zeigte, die die Verdachtsdiagnose bestätigte.
Das GluT1-Defizienz-Syndrom
Das klassische Glukosetransporter-Typ- 1-Defizienz-Syndrom (GluT1-DS) bezeichnet ein 1991 von De Vivo1 beschriebenes Krankheitsbild mit im Säuglingsalter beginnender Epilepsie und epileptischer Enzephalopathie, schwerer Entwicklungsstörung, erworbener Mikrozephalie sowie einer Bewegungsstörung mit Muskeltonusstörung (muskuläre Hypotonie oder Rigidospastik), Ataxie, Dystonie oder Chorea. Die Epilepsie beginnt beim klassischen GLUT1-DS in 90% der Fälle innerhalb der ersten beiden Lebensjahre und kann verschiedene Arten von epileptischen Anfällen hervorrufen. Das phänotypische Spektrum des GLUT1-DS hat sich in den letzten Jahren erweitert und umfasst auch paroxysmale nichtepileptische Manifestationen mit intermittierender Ataxie, Choreoathetose und Dystonie,2,3 welche häufig durch Fasten, Fieber oder Infektionen verstärkt werden.
Betroffene Personen mit paroxysmalen belastungsinduzierten Dyskinesien unterscheiden sich klinisch von denjenigen mit „klassischem“ GLUT1-DS, da bei den meisten eine neurologische Untersuchung im interiktalen Zustand unauffällig ist und sie einen normalen Kopfumfang aufweisen.4
Ursächlich für das GLUT1-DS sind pathogene Varianten im SLC2A1-Gen, das auf dem kurzen Arm von Chromosom 1 liegt und für den Glukosetransporter 1 (GLUT1) codiert. GLUT1 ist ein Membranprotein, das den Transport von Glukose über die Blut-Hirn-Schranke ermöglicht. Der Großteil der Mutationen im SLC2A1-Gen ist heterozygot, wobei etwa 90% der Fälle durch pathogene De-novo-Varianten entstehen. In den meisten Fällen erfolgt die Vererbung autosomal-dominant. Eine Korrelation zwischen Genotyp und Phänotyp ist ersichtlich. Pathogene Missense-Varianten manifestieren sich in einem milden bis moderaten Phänotyp, während komplette Gendeletionen besonders schwere klinische Verläufe zur Folge haben. Die Diagnose des GLUT1-DS kann anhand einer Hypoglykorrhachie (erniedrigte Glukosekonzentration im Liquor, <60mg/dl) bei normaler Blutglukosekonzentration nach vierstündigem Fasten oder durch den Nachweis einer pathogenen Mutation im SLC2A1-Gen gestellt werden.
Therapeutisch können durch eine ketogene Diät eine Anfallskontrolle und Verbesserung der paroxysmalen Symptome erzielt werden.
Quelle:
Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag der Autorin bei der ÖGN-Jahrestagung 2024.
Literatur:
1 De Vivo DC et al.: Defective glucose transport across the blood-brain barrier as a cause of persistent hypoglycorrhachia, seizures, and developmental delay. N Engl J Med 1991; 325(10): 703-9 2 Chinnery PF: Defining neurogenetic phenotypes (or how to compare needles in haystacks). Brain 2010; 133(Pt 3): 649-51 3 Leen WG et al.: Glucose transporter-1 deficiency syndrome: the expanding clinical and genetic spectrum of a treatable disorder. Brain 2010; 133(Pt 3): 655-70 4 Zorzi G et al.: Paroxysmal movement disorders in GLUT1 deficiency syndrome. Neurology 2008; 71(2): 146-8
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