
Prävention neurologischer Erkrankungen – ein evidenzbasierter Überblick über Chancen, Maßnahmen und Herausforderungen
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder
Abteilungsvorstand I Universitätsklinik für Geriatrie der PMU
Uniklinikum Salzburg
E-Mail: b.iglseder@salk.at
Demenz, Schlaganfall, Parkinson und andere neurodegenerative oder vaskulär bedingte Erkrankungen nehmen mit steigendem Lebensalter zu. Neurologische Erkrankungen stellen weltweit eine zunehmende Herausforderung für Gesundheits- und Sozialsysteme dar. 43% der Weltbevölkerung, 3,4 Milliarden Menschen, leiden an neurologischen Erkrankungen oder deren Folgeerscheinungen. Das verursacht insgesamt 443 Millionen „disability-adjusted life years“ (DALYs). Gleichzeitig gibt es wachsende Evidenz, dass diesen Erkrankungen durch gezielte präventive Maßnahmen begegnet werden kann. Beispielsweise können bis zu 45% des Demenzrisikos durch die Beeinflussung von 14 Risikofaktoren modifiziert werden (Abb. 1).
Abb. 1: Risikofaktoren für kognitiven Abbau über die Lebensphasen (nach Livingston G et al.: Dementia prevention, intervention, and care: 2024 report of the Lancet standing Commission. Lancet 2024; 404[10452]: 572-628)
Der Beitrag gibt einen Überblick über zentrale Risikofaktoren und aktuelle Studienergebnisse zur Prävention neurologischer Erkrankungen.
Vaskuläre Risikofaktoren als zentrales Ziel der Prävention
Zahlreiche Studien belegen, dass vaskuläre Risikofaktoren – insbesondere Hypertonie, Vorhofflimmern, Diabetes mellitus, Adipositas, Dyslipidämie, Rauchen und Alkohol – stark mit neurologischen Folgeerkrankungen wie Schlaganfall und Demenz assoziiert sind.
Hypertonie ist einer der bedeutendsten beeinflussbaren Risikofaktoren. Bereits ein systolischer Blutdruck von >130mmHg im mittleren Lebensalter erhöht das Risiko für das Auftreten einer Demenz um >34%. Eine antihypertensive Behandlung kann dieses Risiko um bis zu 21% senken.
Das Schlaganfallrisiko steigt bereits ab einem Blutdruck von 115/75mmHg linear an, auch im höheren Lebensalter. Jede Reduktion des systolischen Blutdrucks um 10mmHg kann das Schlaganfallrisiko bei älteren Menschen (60–79 Jahre) um ein Drittel reduzieren.
Vorhofflimmern (VHF) ist als wesentlicher Risikofaktor für mindestens 20% der ischämischen Schlaganfälle ursächlich und bedingt auch ein um etwa 30% erhöhtes Demenzrisiko. Die orale Antikoagulation (OAK) reduziert sowohl das Risiko für ischämische Schlaganfälle als auch Demenz um bis zu 60%. Vorhofflimmern ist mit einer Prävalenz von 1–2% der Bevölkerung eine häufige Erkrankung, mit dem Alter steigt die Prävalenz bei den 80-Jährigen auf bis zu 15%.
Diabetes mellitus Typ 2 erhöht laut einer Metaanalyse das Risiko für Demenz um etwa 60%, das Risiko für eine vaskuläre Demenz ist insbesondere bei Frauen deutlich erhöht. Zusätzlich erhöht Diabetes das Schlaganfallrisiko um den Faktor 1,5–2,0, wobei das Risiko mit der Krankheitsdauer zunimmt. Mehrere Mechanismen spielen eine Rolle für das erhöhte Risiko, darunter Atherosklerose der großen Arterien, Erkrankungen der kleinen Hirngefäße und kardiale Embolie. Darüber hinaus haben Menschen mit Diabetes nach einem Schlaganfall eine ungünstigere Prognose und ein höheres Rezidivrisiko. Ein konsequentes Diabetesmanagement wird als essenziell angesehen, wobei es wenige Daten gibt, die einen Benefit robust belegen. In diesem Kontext ist die Bedeutung des Vermeidens von Hypoglykämien hervorzuheben, die ebenfalls zu einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und Demenz beitragen. Die diabetische Polyneuropathie ist eine häufige Folgeerscheinung der Erkrankung und beeinträchtigt durch Schmerzen, Gangstörungen und erhöhtes Sturzrisiko vielfältig die Lebensqualität der Betroffenen.
Adipositas ist nur bei gleichzeitigem Vorliegen eines metabolischen Syndroms mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko verbunden. Der Zusammenhang mit einem erhöhten Demenzrisiko ist nicht eindeutig: Zwar lassen sich bei adipösen Menschen Zeichen der Neuroinflammation nachweisen, dennoch scheint im höheren Lebensalter Übergewicht mit einem geringeren Demenzrisiko assoziiert, Untergewicht (BMI<20) im jüngeren und mittleren Lebensalter wurde dagegen mit einem erhöhten Demenzrisiko in Verbindung gebracht.
Störungen des Fettstoffwechsels sind ebenfalls bedeutsam, die Erhöhung von LDL-Cholesterin (Hypercholesterinämie) ist ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung einer Atherosklerose und somit der Bildung von Blutgerinnseln und Schlaganfällen. Statine reduzieren das Schlaganfallrisiko und zeigen in rezenten Studien auch potenziell protektive Effekte gegenüber Demenz, wenngleich hier noch keine endgültige Aussage getroffen werden kann.
Rauchen und erhöhter Alkoholkonsum verschlechtern die vaskuläre Gesundheit erheblich. Studien zeigen, dass beide Faktoren dosisabhängig das Risiko für Schlaganfälle und kognitiven Abbau (inkl. Alzheimerdemenz) signifikant erhöhen.
Körperliche Aktivität – Bewegung schützt das Gehirn
Regelmäßige Bewegung zählt zu den effektivsten nichtmedikamentösen Präventionsmaßnahmen. Eine rezente Metaanalyse zeigt, dass körperliche Aktivität das Demenzrisiko insgesamt um 20% senken kann, das Risiko für Alzheimerkrankheit um 14%, für vaskuläre Demenz um 21%. Auch das Schlaganfallrisiko lässt sich durch regelmäßige Bewegung signifikant um bis zu 42% reduzieren.
Die neurobiologischen Effekte körperlicher Aktivität sind gut belegt: Sie fördert Neurogenese, synaptische Plastizität, Kurzzeit- und Langzeitpotenzierung, erhöht Dendritenlänge und -komplexität sowie die Dichte dendritischer Dorne. Die Konzentration synaptischer Proteine wie Synapsin und Synaptophysin steigt, neurotrophe Wachstumsfaktoren werden vermehrt produziert und Amyloid-β-Werte im Gehirn nehmen ab.
Der Einfluss der Ernährung
Ernährung hat ebenfalls Einfluss auf das Risiko neurologischer Erkrankungen. Besonders im Fokus steht die mediterrane Diät, die reich an Obst, Gemüse, Fisch, Olivenöl und Vollkornprodukten ist. Mehrere systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zeigen eine Reduktion des Risikos für Morbus Alzheimer und Parkinson. Neurobiologisch konnten positive Auswirkungen mediterraner Diät auf Merkmale der Alzheimererkrankung nachgewiesen werden. Mediterrane Diät ist auch mit einer bis zu 18% geringeren Schlaganfall-Inzidenz vergesellschaftet. Der Zusammenhang zwischen Ernährungsstil, Diabetes und metabolischem Syndrom ist hinreichend belegt. Studiendaten belegen ähnlich positive Effekte für die „Dietary approach to stop hypertension“ (DASH)-Diät und die „Mediterranean-DASH intervention for neurodegenerative delay“(MIND)-Diät. Das präventive Potenzial ist also vielversprechend, ernährungstherapeutische Maßnahmen sollten daher integraler Bestandteil jeder Präventionsstrategie sein.
Kognitive Reserve, Bildung und soziale Einbindung
Die kognitive Reserve spielt eine wesentliche Rolle in der Prävention von Demenzerkrankungen. Man versteht darunter die Fähigkeit des Gehirns, Schäden zu tolerieren, die durch Alterung, Alzheimererkrankung oder andere Ursachen von Demenz entstehen. Je höher die kognitive Reserve, desto geringer ist das Risiko, dass eine Person bei Vorliegen einer neuropathologischen Schädigung klinische Symptome einer Demenz entwickelt. Die kognitive Reserve wird durch geistig stimulierende und soziale Aktivitäten erhöht, welche die Neuroplastizität fördern und damit kognitive Funktionen verbessern. Diese Aktivitäten müssen allerdings lebenslang aufrechterhalten werden, um eine kognitive Reserve für die gesamte Lebensspanne aufzubauen. Eine qualitätsvolle Ausbildung in jungen Jahren trägt zu einer hohen kognitiven Reserve bei.
Auch psychosoziale Faktoren sind entscheidend: Soziale Isolation erhöht das Demenzrisiko signifikant. Depressionen im mittleren oder höheren Alter gehen mit einem höheren Risiko für kognitive Einschränkungen einher. Ob eine antidepressive Behandlung zu einer Reduktion dieses Risikos führt, kann aktuell nicht eindeutig beantwortet werden. Entsprechend wichtig sind Maßnahmen zur sozialen Integration und Teilhabe älterer Menschen.
Beeinträchtigungen von Hör- und Sehvermögen sind im höheren Lebensalter häufig und tragen ebenfalls zu einem erhöhten Demenzrisiko bei, einerseits durch direkte neurobiologische Veränderungen, andererseits durch sozialen Rückzug. Neben der Behandlung definierter Erkrankungen (z.B. Katarakt) stellt die zeitgerechte Verordnung von Hilfsmitteln eine einfache Interventionsmöglichkeit dar.
Infektionen, neurologische Folgen und das Potenzial von Impfungen
Die Impfungen gegen FSME, Meningokokken, Pneumokokken und Haemophilus influenzae tragen relevant zum Senken des Risikos der dadurch bedingten Meningoenzephalitiden bei.
Ein bis dato unterschätzter Risikofaktor sind Infektionen, die nicht primär das Gehirn und seine Häute betreffen: Es mehren sich Publikationen, die einen Zusammenhang zwischen bestimmten Infektionserkrankungen und neurologischen Erkrankungen aufzeigen. Besonders hervorgehoben wird die Rolle von Herpes zoster: Neben einem erhöhtem Risiko für Schlaganfälle bestehen auch Assoziationen eines erhöhten Risikos für Demenz und Parkin- son. Die Herpes-zoster-Impfung verhindert nicht nur Komplikationen wie eine Post-Zoster-Neuralgie (PZN), sondern verringert potenziell das Risiko für Demenz und Schlaganfälle. Auch Atemweginfektionen, einschließlich Influenza, werden mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko in Verbindung gebracht. Mehrere aktuelle Publikationen weisen darauf hin, dass eine Influenzaimpfung das Schlaganfallrisiko um bis zu 18% verringert. In einer rezenten Fall-Kontroll-Studie wurde Influenza mit der Diagnose einer Parkinsonkrankheit mehr als 10 Jahre nach der Infektion in Verbindung gebracht. Diese Beobachtungsdaten deuten auf einen Zusammenhang zwischen Influenza und der Parkinsonkrankheit hin, belegen jedoch keine Kausalität. Die Impfungen gegen Influenza und Varicella zoster tragen somit wahrscheinlich zur neurologischen Prävention bei – insbesondere bei älteren Menschen oder Personen mit Risikoprofil. Ob auch die neurologischen Komplikationen von SARS-CoV-2 durch die Impfung reduziert werden, lässt sich aktuell nicht eindeutig beurteilen.
Umweltfaktoren und neurologische Gesundheit
Luftverschmutzung scheint ebenfalls einen Einfluss auf das Risiko für kognitiven Abbau zu haben, insbesondere bei Langzeitbelastung mit Feinstaub, Kohlenmonoxid und Stickoxiden. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung umweltpolitischer Maßnahmen im präventiven Kontext. Eine Verbesserung der Luftqualität kann einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Gesundheit leisten – insbesondere im Hinblick auf das Demenzrisiko.
Public Health: Potenzial und nationale Herausforderungen
Die vorgestellten Daten belegen das Potenzial präventiver Maßnahmen in Hinblick auf das Risiko für neurologische Erkrankungen. Durch Kombination medizinischer, verhaltensbezogener, sozialer und umweltpolitischer Maßnahmen ließe sich ein erheblicher Teil der Krankheitslast reduzieren.
Ein Blick auf die gesunde Lebenserwartung verdeutlicht das Potenzial: In Österreich haben Menschen ab 65 Jahren im Schnitt nur noch 7,4 Jahre in guter Gesundheit – das entspricht lediglich 34,3% der verbleibenden Lebenserwartung. In der Schweiz oder Skandinavien sind es hingegen 14,5 gesunde Jahre – also fast das Doppelte.Diese Differenz ist nicht allein genetisch oder zufällig bedingt, sondern Ausdruck von Präventionspolitik, Versorgungssystemen, Gesundheitskompetenz und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Fazit
Die Prävention neurologischer Erkrankungen erfordert einen holistischen Ansatz. Die Evidenz ist klar: Vaskuläre Risikofaktoren wie Hypertonie, Diabetes und Vorhofflimmern müssen frühzeitig erkannt und konsequent behandelt werden, Tabak- und Alkoholkonsum müssen weiter reduziert werden. Ergänzend sind Lebensstilinterventionen – insbesondere Bewegung, Ernährung, soziale Teilhabe und kognitive Stimulation – unverzichtbare Bestandteile eines modernen Präventionskonzepts. Der Stellenwert von Impfungen gewinnt in diesem Zusammenhang an Bedeutung.
Gesellschaftlich eröffnet sich dadurch nicht nur die Chance auf längere gesunde Lebensjahre, sondern auch auf eine Reduktion der Gesundheitskosten und Pflegebelastung im demografischen Wandel.
Literatur:
beim Verfasser
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