© Rawpixel iStockphoto

Zur Situation von Patienten mit Muskelerkrankungen

„Das ist nichts Deprimierendes, da kann man unglaublich viel tun!“

Die Aussichten für Patienten mit der Diagnose einer Muskelerkrankung haben sich in den letzten Jahren stark verbessert. Lebensqualität und -erwartung liegen weit höher als noch vor einigen Jahren. Prof. Günther Bernert erklärt die Hintergründe und gibt einen Ausblick, worauf Patienten wie Behandler noch warten (müssen).

Wie viele Menschen mit Muskeldystrophie Duchenne gibt es in Österreich?

G. Bernert: Es existiert in Österreich kein Melderegister für chronische Erkrankungen. Wir können die Zahl nur schätzen und gehen von circa 250 Patienten aus, wobei sich diese Zahl laufend ändert. Durch die Verbesserung der therapeutischen Optionen und des „Langzeitmanagements“ der Patienten werden die Überlebenszeiten immer länger, sodass die absoluten Zahlen der Betroffenen steigen. Gleichzeitig steigt auch die Lebensqualität bezogen auf die jeweiligen Altersgruppen konstant an.

Was bedeutet das konkret für die Patienten?

G. Bernert: Früher, als es Standards wie die nächtliche nicht invasive Beatmung oder die Strategie zur rechtzeitigen Wirbelsäulenfusion zur Stabilisierung einer Skoliose noch nicht gab, litten viel mehr Duchennepatienten unter einer schlechten Lebensqualität als heute. Sie waren beispielsweise nicht in der Lage einen Bildungsweg zu verfolgenund hatten auch wenig Interesse an einem Bildungsabschluss. Mittlerweile beschäftigen sich die Patienten sehr stark mit ihrer Zukunft. Sie wollen aus ihrer Erkrankung und Situation das Bestmögliche machen. Partizipation, solange es geht und in dem Maße, in dem es möglich ist, das ist eines unserer großen Ziele – und dem sind wir in den letzten Jahren deutlich nähergekommen.

Worauf führen Sie die Steigerung der Lebensqualität zurück?

G. Bernert: Die wichtigste Änderung war, dass in allen Zentren, die neuromuskuläre Patienten betreuen, sogenannte Standards of Care, SOCs, etabliert wurden. Das sind Regeln, wie man die Manifestation der Erkrankung bezogen auf unterschiedliche Organsysteme – Herz, Lunge, Skelett etc. – so steuert und mitbetreut, dass die Folgen der Muskelschwäche hintangehalten werden. Die SOCs sind Guidelines, die darauf ausgerichtet sind, alle Umgebungsfaktoren und sekundären und tertiären Faktoren, die durch die Erkrankung entstehen, gezielt zu managen, und zwar prospektiv geplant. Dieser prospektive Aspekt ist unglaublich wichtig.

Und die Umsetzung der SOCs führt zur Steigerung der Lebensqualität?

G. Bernert: Nicht nur! All diese Faktoren, aus denen sich die SOCs zusammensetzen, haben auch dazu geführt, dass sich die Prognose bei Muskeldystrophie Duchenne von einer Lebenserwartung von ca. 15 bis 20 Jahren auf 40 Jahre und zum Teil darüber verlängert hat. Selbst ohne eine gezielte Therapie, die am Grundübel, nämlich dass der Muskel seine Integrität und seine Funktion verliert, ansetzt, führt das sorgfältige Einhalten der SOCs zu diesem großen Gewinn an Lebenszeit.

Wer setzt diese SOCs um?

G. Bernert: SOCs sind ein typisches Thema des Gesundheits- und Case-Managements. Das können die Fachkräfte in den neuromuskulären Zentren am besten. Das ist nicht in jeder klinischen Abteilung und auch nicht im niedergelassenen Bereich möglich. Es braucht hier Zentren, in denen es eine breite Expertise in der Versorgung von Patienten mit Muskelerkrankungen gibt. Das Umsetzen der Maßnahmen sollte dann natürlich am Wohnort der Patienten erfolgen. Dazu brauchen die niedergelassenen Kolleg*innen den Support der Muskelzentren.

Werden Patienten mit Muskelerkrankungen vom Gesundheitssystem ausreichend wahrgenommen?

G. Bernert: Tatsächlich ist es schon so, dass häufigere Erkrankungen stärker wahrgenommen werden. Unsere Aufgabe ist es daher, der Bevölkerung und den Entscheidungsträgern Muskelerkrankungen bewusst zu machen und sie im Bewusstsein der Menschen zu halten. Unsere Botschaft ist: Muskelerkrankungen sind nichts Deprimierendes, man kann unglaublich viel tun!

Was brauchen Patienten mit Muskelerkrankungen im Moment dringend?

G. Bernert: Wir stellen zunehmend fest, dass die Patienten je nach sozialem und Bildungshintergrund mehr oder weniger Schwierigkeiten haben, einen komplexen Betreuungs- und Behandlungsablauf durchzuhalten. Ein gut organisierter Haushalt schafft das Management von unterschiedlichsten Follow-up-Terminen, Kontroll-, Versorgungs- und Testterminen. Es gibt aber auch Haushalte mit schwierigem sozioökonomischem Hintergrund, die haben oftmals einen schlechten Organisationsgrad – da ist manchmal das Chaos Alltag. In diesem Chaos ist ein Kind mit einer Muskelerkrankung leider schlechter betreut als ein Kind in einer anderen Familie.

Wie kann man dem entgegenwirken?

G. Bernert: Hier bräuchte es Menschen, die es bei uns noch nicht als fixe Berufsgruppe gibt: Case Manager*innen. Das sind Betreuer, die eine Art Interface bilden zwischen der Familie, ihren Bedürfnissen, ihren Möglichkeiten oder auch Unmöglichkeiten und den Angeboten, die Spezialambulanzen und klinische Abteilungen oder manche niedergelassene Praxen den Patienten machen können. Das kann eine diplomierte Krankenschwester machen, eine Psychologin, ein Sozialarbeiter oder jemand, der aus dem Gesundheitssystem kommt und Interesse mitbringt. Es sind Menschen, die zwar kein Detailwissen über die Betreuung von Patienten mit Muskelerkrankungen haben, aber vielmehr die Bedürfnisse der Familie erkennen und die Vermittlerrolle übernehmen, die wir in Österreich im Moment dringend brauchen.

Auf welche Therapien warten Ärzte und Patienten gerade?

G. Bernert: Es kommen wahrscheinlich schon relativ bald neue künstliche Cortisonabkömmlinge zur Behandlung der Muskeldystrophie Duchenne auf den Markt, die ein günstigeres Nebenwirkungsprofil haben. „Cortison“ ist zwar in der nicht medizinischen Welt das verrufenste aller Medikamente, aber wir kennen es sehr gut und wissen, wie wir damit umgehen.

Welche Neuerungen gibt es im Bereich der nicht medikamentösen Therapien?

G. Bernert: Wenn Sie sagen nicht medikamentös, dann sprechen wir automatisch über die SOCs. Natürlich wird hier laufend geforscht. Eine zentrale Frage bei Duchenne war schon immer: Schadet Muskeltraining Duchennepatienten, weil es den Zerstörungsprozess der Muskeln, der ohnedies schon läuft, beschleunigt? Die finalen Daten liegen noch nicht vor, aber es scheint so zu sein, dass ein bestimmtes Ausmaß und eine bestimmte Art von Muskeltraining sehr wohl sinnvoll sind. Ebenso beschäftigt uns die Frage des richtigen Zeitpunktes. Bei sehr vielen dieser SOCs oder medikamentösen Ansätzen, die nicht am Problem, sondern an den Folgen ansetzen, wird immer wieder diskutiert: Was ist der ideale Zeitpunkt? In welchem Dosisschema arbeiten wir? Geben wir eventuell schon frühzeitig eine niedrige Dosis, die vielleicht prophylaktisch effektiv ist? Da sind noch einige Fragen offen, die in laufenden Studien erarbeitet werden.

Welche medikamentösen Therapien können Sie Patienten zurzeit anbieten?

G. Bernert: Verfügbare Therapien versuchen, den Fehler, der durch einen Defekt im Dystrophin-Gen entsteht, zu beheben, indem man in das Übersetzen der genetischen Information auf die nächste Stufe, die RNA-Ebene, eingreift. Da gibt es bei Muskeldystrophie Duchenne zwei etablierte Techniken.

In Europa und Asien zugelassen ist ein Medikament, das das Read-through, also das „Überlesen“ des Fehlers in der Erbinformation, ermöglicht. Es wird eine Art Brücke geschaffen, die den Ablesevorgang weiter möglich macht. In den USA sind Medikamente zugelassen, die beim Ablesen ein „Überspringen“ der fehlerhaften Information möglich machen, allerdings um den Preis, dass das Endprodukt nicht komplett ist. Diese bereits zugelassenen und an der Erbinformation ansetzenden Therapien für Muskeldystrophie Duchenne haben jedoch alle den Nachteil, dass sie jeweils nur für definierte Untergruppen von Duchennepatienten angewendet werden können.

Welche medikamentösen Therapien befinden sich gerade in Entwicklung?

G. Bernert: Was uns noch fehlt, ist eine kausale Genersatztherapie, die an der Basis der Erkrankung, also am defekten Gen, direkt angreift, indem es dieses ersetzt. Das Dystrophin-Gen ist aber riesig! Genau das macht es sehr schwer, eine Gentherapie zu entwickeln. Man versucht nun, nur mit Teilen des Gens zu arbeiten. Und da gibt es unterschiedliche Ansätze und so laufen weltweit gerade drei große Phase-III-Studien. Werden diese erfolgreich durchgeführt, ist eine Zulassung in drei bis fünf Jahren denkbar.

Es gibt auch noch andere medikamentöse Therapieansätze, die zurzeit erforscht werden. Einer beispielsweise basiert auf der Hypothese, dass die Bindegewebsvermehrung, die den Muskelabbauprozess begleitet, nicht ein lückenfüllender, passiver Prozess ist, sondern ein quasi sich verselbstständigender aktiver, proliferativer Prozess. Es existieren Substanzen zur Einschränkung der Bindegewebsproliferation bei bestimmten Lungenerkrankungen. Und eine von diesen Substanzen ist gerade bei drei Studien zu Duchenne in Untersuchung. Das ist insofern interessant, als in Europa und den USA große Studien dazu laufen und unsere Klinik darin eingebunden ist.

Back to top