
„Nicht zu lange zuwarten mit den Überweisungen!“
Unser Gesprächspartner:
Univ.-Prof. Dr. Walter Pirker
Abteilung für Neurologie, Klinik Ottakring, Wien
Unsere Gesprächspartnerin:
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager
Neurologische Abteilung mit Department
Akutgeriatrie, Klinik Donaustadt, Wien
Das Interview führte
Dr. Gabriele Senti
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Wie aktiv ist die österreichische Parkinsonforschung? Welche neuen Behandlungsmethoden gibt es? Nach welchen Symptomen sollte man die Patient*innen explizit fragen und wann ist eine Zuweisung an ein spezialisiertes Zentrum sinnvoll? – Beim Symposium der Österreichischen Parkinsongesellschaft (ÖPG) zum Weltparkinsontag trafen wir den Präsidenten Prof. Walter Pirker und Vizepräsidentin Doz. Regina Katzenschlager zum Gespräch.
Im Vergleich zu anderen Erkrankungen – wie Migräne oder Multiple Sklerose – war es um Morbus Parkinson recht ruhig in der letzten Zeit, oder?
W. Pirker: Das stimmt. Vor allem die Neuroimmunologie hat in den letzten 20Jahren einen Aufschwung erlebt, da sind so viele neue Medikamente auf den Markt gekommen. Und genauso gibt es beim Kopfschmerz viel Neues. Um die Medikamentenentwicklung beim Morbus Parkinson war es in den letzten 10Jahren etwas stiller. Allerdings muss man auch sagen, dass es schwer war, einzelne Substanzen am österreichischen Markt zu platzieren, weil die Erstattungsstrategie des Dachverbands sehr restriktiv ist. Das letzte Parkinsonmedikament, das dazugekommen ist, ist der COMT-Hemmer Opicapon, der eine sehr wertvolle Ergänzung in der Therapie motorischer Fluktuationen ist. Aber davor gab es längere Zeit keine neuen Substanzen. Safinamid wird in Österreich leider nicht erstattet. Neu ist die Pumpe mit der Dopa-Entacapon-Kombination. Was bald kommen wird, sind subkutane Dopa-Präparationen. Das wird sicher Interesse wecken. Aber das, worauf wir in Wahrheit hinarbeiten, sind natürlich krankheitsmodifizierende Therapien. Das ist es, was in unserem Behandlungsarmamentarium heute einfach fehlt.
Werden die neuen subkutanen Präparationen als Depot funktionieren?
W. Pirker: Es wird eine Dauerinfusion sein. Genauso wie das intrajejunale Dopa oder das Apomorphin werden diese neuen subkutanen Dopa-Präparationen als Dauertherapie über eine Pumpe laufen. Die Studien waren so angelegt, dass man diese Substanzen als 24-Stunden-Therapie verabreicht.
Sind diese Pumpen für eine bestimmte Gruppe von Patienten gedacht?
W. Pirker: Wie für alle anderen geräteunterstützten Therapien gilt: Das sind Therapien für Menschen, bei denen motorische Komplikationen, also Fluktuationen und Dyskinesien, durch orale Therapiemaßnahmen nicht ausreichend kontrollierbar sind.
Ist die Forschungsszene zu Morbus Parkinson in Österreich sehr aktiv oder konzentriert man sich da eher auf das Ausland?
W. Pirker: In Anbetracht dessen, dass Österreich ein vergleichsweise kleines Land ist, gibt es doch sehr viel wissenschaftliche Aktivität. Das hat Tradition: In Österreich wurde in den 1960er-Jahren erstmals L-Dopa in der Parkinsontherapie erfolgreich eingesetzt und später gab es große Arbeitsgruppen, die sehr intensiv geforscht haben. Im Rahmen unseres Symposiums haben wir zum Beispiel Prof. Kurt Jellinger geehrt, der einer der renommiertesten Neuropathologen im Bereich der Neurodegeneration und des Morbus Parkinson ist. Ich möchte auch daran erinnern, dass die Innsbrucker Arbeitsgruppe unter Prof. Werner Poewe über 20 Jahre hochaktiv in der Medikamentenentwicklung ebenso wie in der Erforschung von Grundlagen der Parkinsonkrankheit war und sehr viel zur Charakterisierung der Prodromalphase und zu diagnostischen Kriterien beigetragen hat. In Innsbruck gibt es jetzt wieder ein sehr großes Projekt („Gesund Altern Tirol“), in dessen Rahmen der Aspekt der Prodromalphase der Parkinsonkrankheit näher untersucht werden soll. Ganz grundlegende Arbeiten sind auch in Wien gemacht worden: Mein persönlicher Lehrer, Prof. Thomas Brücke, war einer der Ersten weltweit, der das Dopamin-Transporter-Imaging angewendet hat. Mit Prof. Alexander Zimprich, der ja einer der wesentlichen Entdecker von zwei wichtigen Parkinsongenen ist, haben wir auch eine sehr starke neurogenetische Arbeitsgruppe in Österreich. Das sind ganz entscheidende Grundlagen, die möglicherweise zu neuen Therapien führen werden. Wir stehen vor Studien mit LRRK-2-Kinase-Hemmern. Das ist sowohl für Patienten, die diese Mutation haben, von Interesse als auch möglicherweise für den sporadisch auftretenden Morbus Parkinson.
Für die Größe des Landes ist also der Beitrag der österreichischen Parkinsonologie durchaus beachtlich.
Bei Morbus Alzheimer sagt man ja, dass Umwelt- und Lebensstilfaktoren eine Rolle spielen, sodass man hier auch präventive Ansätze verfolgen kann. Ist das bei Morbus Parkinson auch so?
W. Pirker: Ganz sicher. Man weiß, dass gewisse Umweltschadstoffe wie Pestizide oder Luftschadstoffe das Risiko erhöhen. Es gibt auch einen Umweltfaktor, der einen schützenden Effekt hat: das Nikotin. Raucher haben ein reduziertes Parkinsonrisiko. Das ist jetzt nicht als Aufforderung zum Rauchen zu verstehen, aber Nikotin dürfte als Reinsubstanz einen protektiven Effekt haben. Die Entwicklung medikamentöser Nikotinsubstanzen wäre ein möglicher Ansatz, um das Voranschreiten der Erkrankung zu hemmen. Aber der größte Risikofaktor für alle neurodegenerativen Erkrankungen ist einfach das Alter. Im Endeffekt sind diese Erkrankungen nicht zu verhindern: Sie sind der Preis des Älterwerdens in unserer hochentwickelten Gesellschaft.
Aber es gibt ja auch junge Parkinsonpatienten. Ist bei diesen der Verlauf der Erkrankung anders?
W. Pirker: Es gibt vereinzelt junge Parkinsonpatienten mit Beginn der Krankheit unter 40, im Einzelfall sogar unter 30 Jahren. Ich habe sogar Patienten unter 20 gesehen. Das sind dann aber meist Patienten mit einer monogenen Erkrankung, d.h. mit einer direkt vererbten, meist autosomal rezessiven Erkrankung. Es gibt eine Sondergruppe der Parkinsonerkrankung, bei der Gene involviert sind, die für mitochondriale Proteine kodieren. Der Prototyp ist die Parkin-Mutation, die vor 25 Jahren entdeckt wurde. Patienten mit Parkin-Mutation haben eher einen rein motorischen Parkinsontyp mit einem sehr guten Ansprechen auf Dopaminersatz. Sie haben selten schwere Spätkomplikationen. Sie entwickeln zwar Fluktuationen und Dyskinesien, wie das junge Patienten generell tun, aber sie haben auch im fortgeschrittenen Stadium wenig nichtmotorische Symptome. Neben der Parkin-Mutation gibt es noch andere Genmutationen, die eine Sondergruppe unter den Parkinsonerkrankungen bilden.
Ist „shared decision making“ bei Morbus Parkinson ein Thema?
W. Pirker: Ganz sicher. Jede Therapieentscheidung muss gemeinsam mit dem Patienten oder der Patientin getroffen werden. Natürlich wissen wir aus unserer klinischen Erfahrung und aus Studien, was im speziellen Fall gut wäre und was nicht. Aber die Entscheidungen müssen letztendlich gemeinsam getroffen werden. Das gilt vor allem bei den geräteunterstützten Therapien. Da ist es für uns als ärztliche Betreuer besonders wichtig, dass wir die Betroffenen ohne jegliches Bias über alle Möglichkeiten aufklären, die für sie infrage kommen, sei es Pumpe, intrajejunales Dopa, subkutanes Apomorphin oder tiefe Hirnstimulation. Die Präferenzen des Patienten sind ganz entscheidend. Die Apomorphinpumpe ist ein reversibles Verfahren und hat den niedrigsten Invasivitätsgrad. Damit kann man gut beginnen, während ein neurochirurgisches Verfahren natürlich ganz andere Risiken mit sich bringt. Das ist schon eine sehr fundamentale Entscheidung, ob man sich einer stereotaktischen Operation oder einer tiefen Hirnstimulation unterzieht.
Sind die Patienten eher zurückhaltend, wenn es um Geräte und technische Unterstützung geht?
R. Katzenschlager: Ja. Auf der einen Seite merken wir, dass auch die zuweisenden Neurolog*innen oft noch zurückhaltend sind, denn es gibt mehr Betroffene, die von einer dieser geräteunterstützten Therapien profitieren würden, als Patienten, die sie tatsächlich schon bekommen. Auf der anderen Seite kann sich der Entscheidungsprozess auch bei den Betroffenen manchmal über Monate oder sogar Jahre erstrecken. Das hängt sehr von der Persönlichkeit ab. Es gibt mittlerweile Hinweise aus der wissenschaftlichen Literatur, dass risikofreudige Personen sich eher für die tiefe Hirnstimulation entscheiden, weniger risikofreudige für eine der Pumpen. Wobei man aber sagen muss, dass nur ein ganz kleiner Teil der Patienten wirklich für alle Methoden geeignet wäre. Die Pumpen sind für einen viel größeren Anteil an Betroffenen eine Option als die tiefe Hirnstimulation, weil es viel weniger Ausschlussgründe gibt. Für die tiefe Hirnstimulation muss man kognitiv intakt sein, ein gutes Gleichgewicht haben – zumindest in den Phasen, in denen die Medikamente gut wirken – und es gibt auch eine Altersgrenze von ca. 70 bis 75 Jahren. Wer diese Kriterien nicht erfüllt, dem können wir die tiefe Hirnstimulation ohnehin nicht anbieten. Für die Pumpen gelten diese Einschränkungen nicht. Es könnten viel mehr Betroffene – auch ältere – eine bessere Lebensqualität erreichen, wenn man ihnen die Pumpe nahebringt. Oft sind mehrere Informationsschritte dafür notwendig.
Wann ist der beste Zeitpunkt für die Zuweisung an ein spezialisiertes Zentrum?
R. Katzenschlager: Eine „rote Flagge“ für niedergelassene Neurolog*innen sollte sein, wenn die Betroffenen Wirkungsschwankungen haben, oft auch mit Überbewegungen in den guten Phasen, die man mit Anpassungen der oralen Medikation nicht in den Griff bekommt, und wenn dadurch die Lebensqualität leidet. Das ist eine Patientengruppe, der wir mit gerätegestützten Therapien grundsätzlich helfen können. Für einen Teil der Betroffenen sind die Pumpen oder die tiefe Hirnstimulation die beste Wahl.
Und dann gibt es natürlich noch andere Komplikationen im Rahmen der Parkinsonkrankheit, bei denen ebenfalls eine Zuweisung an spezialisierte Zentren sinnvoll ist, z.B. wenn neuropsychiatrische Symptome auftreten: Halluzinationen oder auch Impulskontrollstörungen, die gerade jüngere Patient*innen betreffen. Da kann man mit Medikamenten, manchmal sogar mit Reduktionen oder Umstellungen helfen.
Wenn Sie von Symptomen oder Wirkungsschwankungen sprechen: Sind diese noch immer „self-reported“ oder gibt es Apps zur Erfassung von Symptomen?
R. Katzenschlager: Eine kontinuierliche automatisierte oder gerätebasierte Erfassung der aktuellen Beweglichkeit wird in Österreich hauptsächlich nur im Rahmen von Studien eingesetzt, in der klinischen Praxis eigentlich nicht. Das heißt, wir beziehen uns darauf, was die Patienten selbst berichten. Das hängt natürlich auch von der Qualität der Fragestellung ab. Das nach wie vor am meisten verwendete Instrument ist das Tagebuch, in das man für jede halbe Stunde einträgt, ob die Medikamente wirken, d.h., ob man in einem On-Zustand mit oder ohne störende Überbewegungen war oder in einem Off-Zustand. Allerdings können manche Patienten das aus kognitiven Gründen gar nicht ausfüllen. Mit einer sehr genauen Anamneseerhebung – wenn man wirklich genau nach dem Tagesablauf fragt, auch die Nacht miteinbezieht und nach der Beweglichkeit im Tagesverlauf fragt – kann man schon annähernd einschätzen, ob schwere Schwankungen vorhanden sind.
Befragt man auch die Angehörigen?
R. Katzenschlager: Ja. Gerade Überbewegungen werden von den Angehörigen meist früher bemerkt als von den Betroffenen. Häufig besteht auch eine gewisse Diskrepanz in der Wahrnehmung der Schwere: Die Betroffenen mit Überbewegungen fühlen sich oft lockerer und besser, als wenn sie in einem Off-Zustand sind. Von der Familie wird es genau umgekehrt wahrgenommen, weil die Überbewegungen von den Angehörigen als störender empfunden werden als von den Betroffenen selbst. Die Patient*innen leiden eher unter den Off-Phasen, weil diese sehr oft von nichtmotorischen Symptomen begleitet sind, die sehr belastend sein können: Angst, Verzweiflung, Schmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, vernebeltes Denken und manchmal echte Hoffnungslosigkeit – also sehr unangenehme Symptome, die man aber nicht sieht, sodass man denken könnte, der Zustand ist gar nicht so schlecht. In Wirklichkeit sind die nichtmotorischen Off-Symptome manchmal schwerwiegender als etwa Zittern oder Langsamkeit.
Gibt es Symptome, nach denen man explizit fragen muss, weil der Patient nicht gerne darüber spricht oder sie vielleicht gar nicht mit Parkinson in Verbindung bringt?
R. Katzenschlager: Das ist der Grund, warum eine ordentliche Untersuchung und Befassung mit einem Parkinsonpatienten so lange dauern. Es bringen viele Menschen manche Symptome nicht in Verbindung mit ihrer Krankheit. Dazu gehören die Stuhlverstopfung, die man sehr leicht behandeln kann, oder Schlafstörungen. Traumschlafverhaltensstörungen bemerkt der Betroffene nur, wenn er aus dem Bett fällt. Wenn es einen Partner gibt, muss man aktiv fragen, ob der Patient oder die Patientin im Schlaf spricht, ruft, schreit, Bewegungen macht. Das ist etwas, das man auch behandeln sollte, weil es zu Verletzungen führen kann. Und dann gibt es noch den großen Bereich der sexuellen Funktionsstörungen, die selten aktiv angesprochen werden.
Impulskontrollstörungen sind nach neuen Erkenntnissen sehr häufig. Das bedeutet, wir sollten wirklich jedes Mal danach fragen: nicht nur, wenn ein jüngerer Patient neu auf einen Dopaminagonisten eingestellt ist, sondern im Verlauf immer wieder. Das sind Dinge wie impulsartiges Geldausgeben, Essen, Glücksspiel oder Hypersexualität. Übersteigertes Sexualverhalten kann große Probleme machen, auch rechtliche. Diese Impulskontrollstörungen rechzeitig zu erkennen, liegt in der Verantwortung von uns als Behandelnde.
Sind Parkinsonpatienten gut organisiert?
R. Katzenschlager: Ja, es gibt auf Bundesländerebene große, gut organisierte Selbsthilfegruppen. Die Behandelnden sollten öfter auf diese Angebote aufmerksam machen. Es gibt sehr viele Informationsveranstaltungen, psychologische Beratung, Vermittlung von Physiotherapie, Aktivitäten wie Turnen, Schwimmen, Tanzen oder Ausflüge und natürlich auch Treffen für die Angehörigen. Das Gespräch und der Informationsaustausch haben einen hohen Stellenwert. Das sind sehr wertvolle Ergänzungen zur Therapie.
Welche Take-Home-Message möchten Sie unseren Leser*innen mitgeben?
R. Katzenschlager: Meine Hauptbotschaft an Ihre Leserschaft ist: Nicht zu lange zuwarten mit den Überweisungen an ein spezialisiertes Zentrum! Denn es dauert sehr lange, um sich ein umfassendes Bild von all den motorischen und nichtmotorischen Problemen der Betroffenen zu machen. Es ist in einer Kassenordination ab einem gewissen Punkt fast nicht zu schaffen, wirklich alle Aspekte genau abzufragen und mit den Angehörigen die Therapien zu organisieren: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie usw. Und vor allem ist es für spezialisierte Zentren leichter, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, zu dem man an eine der gerätegestützten Therapien denken muss. Denn ab diesem Zeitpunkt kann es immer noch dauern, bis der Patient sich entschieden hat. Vielleicht will er die Pumpen vorher sehen. Vielleicht will er mit jemandem sprechen, der so etwas schon hat. Sobald der Morbus Parkinson schwer einzustellen ist und die Lebensqualität beeinträchtigt ist, lieber überweisen!