
Neuropsychiatrische Phänomene des Long-Covid-Syndroms
Autor:
Priv.-Doz. Dr. Michael Rainer
Zentrum für psychische Gesundheit
Wien
E-Mail: praxis@mrainer.at
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
80% der stationär und ca. 30% der zu Hause von einer Covid-19-Infektion Genesenen klagen über anhaltende und wiederkehrende Beschwerden. Bei circa zwei Dritteln der Long-Covid-19-Patienten kommt es zu neuropsychiatrischen Symptomen. Diese können durch inflammatorische Gewebsschäden, durch Reaktivierung bereits vorbestehender Erkrankungen oder durch „somatopsychische“ Reaktionsbildungen als Folgen längerer körperlicher Belastungen verursacht sein.
Keypoints
-
Bei ca. 10–20% der Long-Covid-19-Patienten bleiben mittelfristige bis langzeitige Symptome über 6 Monate und länger bestehen.
-
Indikatoren für ein höheres Risiko für neuropsychiatrische Phänomene sind: schwere akute Covid-19-Erkrankung, hohe Komorbiditätsrate, weibliches Geschlecht, neuropsychiatrische Krankheitsanamnese und erhöhte Inflammationsmarker.
-
Persistierende Symptome resultieren oftmals durch direkte Gewebsschäden nach Inflammation, die sich mit anderen Mechanismen, wie z.B. prämorbiden kognitiven Störungen, addieren oder potenzieren können und dadurch sogar die Demenzschwelle unterschreiten können.
-
Pacing ist die wichtigste Strategie im Krankheitsmanagement und bedeutet, im eigenen „Energiekorridor“ zu bleiben und das Tempo anzupassen.
Die WHO erklärte vor 2,5 Jahren die Covid-19-Pandemie zum welweiten Notfall. Die neuropsychiatrischen Manifestationen der akuten Covid-19-Infektion sind Bewusstseinsveränderungen, Hyposmie, Delir, Enzephalitis, Vertigo, Epilepsie, ischämische Apoplexie, Parästhesien, Agitation, Angststörungen, Depression und Long-Covid-Syndrome. Die Leitlinienempfehlung des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) definiert „Long Covid“ als gesundheitliche Beschwerden, die jenseits der akuten Krankheitsphase einer SARS-CoV-2-Infektion von 4 Wochen fortbestehen oder auch neu auftreten. Als „Post-Covid-Syndrom“ werden Beschwerden bezeichnet, die noch mehr als 12 Wochen nach Beginn der SARS-CoV-2-Infektion vorhanden sind und nicht anderweitig erklärt werden können. Das Robert Koch-Institut in Deutschland schließt sich dieser Definition an. Nach der WHO erholen sich die meisten Menschen von einer Covid-19-Infektion, jedoch gibt es ausreichend Evidenz, dass ca. 10–20% mittelfristige bis langzeitige Symptome nach der akuten Infektion beibehalten. Tabelle 1 zeigt die Prävalenz der häufigsten Long- und Post-Covid-Symptome nach der WHO 2021, wobei Fatigue mit 51 und 47% dominiert.
Ein systematischer Review und eine Metaanalyse von James B. Badenoch von 2022 dokumentierten, dass neuropsychiatrische Symptome nach einer Covid-19-Infektion häufig auftreten und oftmals persistierend sind.1 Schlafstörungen und Fatigue kommen bei einem von vier Patienten vor. Angststörungen, posttraumatische Stresserkrankungen und kognitive Beeinträchtigungen sind ebenso häufig anzutreffen. Sensomotorische Unsicherheiten, Benommenheit und Schwindel kommen weniger häufig, aber oftmals lang anhaltend vor. In den meisten Studien wird allerdings nicht berichtet, ob die neuropsychiatrischen Symptome neu auftraten oder ein Rückfall von präexistierenden psychischen Erkrankungen waren. Evidenz besteht, dass eine Covid-19-Infektion innerhalb der ersten sechs Monate zu einem erhöhten Risiko für eine klinische neuropsychiatrische Diagnose führt, wie z.B. Insomnie, Stimmungs- und Angststörungen sowie psychotische Erkrankungen und Demenz.2
Abb. 1: Persistierende Long-Covid-Symptome nach 7 Monaten in einer internationalen Kohortenstudie (modifiziert nach Davis HE et al., 2021)12
Ein höheres Risiko für die Entwicklung von neuropsychiatrischen Symptomen weisen Patienten mit folgenden Merkmalen auf: schwere akute Covid-19-Erkrankung, weibliches Geschlecht, hohe Anzahl begleitender Komorbiditäten, neuropsychiatrische Krankheitsanamnese und erhöhte Inflammationsmarker.3 Auf die indirekten Effekte der Covid-19-Pandemie mit sozialer Isolation und höherer Verunsicherung bezüglich Wiedererlangung der Gesundheit, finanziellen Belastungen und sozialer Reintegration und deren Aggravation von neuropsychiatrischen Symptomen wurde immer wieder hingewiesen.
Übereinstimmung gibt es in unterschiedlichen Studien, dass eine signifikante basale systemische Inflammation die Schwere der depressiven Psychopathologie und das Risiko für PTSD nach 3 Monaten wesentlich beeinflusst. Nach 3 Monaten litten von 226 Covid-19-Infizierten 78% an einem Defizit mindestens einer kognitiven Funktion. Die psychomotorische Funktion war bei 57%, die exekutiven Funktionen bei 50%, die Informations-Prozess-Verarbeitung bei 33%, die verbale Flüssigkeit bei 32%, das Arbeitsgedächtnis bei 24% und das Wortgedächtnis bei 10% gestört.4 Die kognitive Funktionsstörung war mit der Ausprägung der depressiven Symptomatik assoziiert. In einer 1-Jahres Follow-up-Studie mit 171 Covid-19-Patienten wurden folgende neuropsychiatrische Symptome dokumentiert: Fatigue bei 48%, Gedächtnisstörungen bei 32,2%, Cephalea bei 15,8%, Parästhesien bei 7%. Die semantische verbale Flüssigkeit war bei 32,7%, verbales Gedächtnis und Lernfunktion bei 20,5%, Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen bei 12,3% und Worterinnerung bei 7,6% gestört.5 Circa die Hälfte der Covid-19-Patienten leidet auch noch Monate nach der akuten Infektion an Schlafstörungen, wobei sich diese im Lauf der Zeit verbesserten und eine bidirektionale Beziehung aufwiesen. Schlafstörungen waren ein wichtiger kausaler Faktor für die Manifestation anderer neuropsychiatrischer Erkrankungen. Höheres Alter und ein höherer BMI waren mit vermehrter Fatigue und Muskelschwäche verbunden.
Angststörungen, Depressionen und kognitive Beeinträchtigungen haben meist multifaktorielle somatische, funktionale oder psychosoziale Ursachen wie Stressreaktionen und die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse.
Es existieren fünf Covid-19-bedingte Stressantworten (Abb. 2). Dafür wurde eine eigene Stressskala entwickelt, um Personen mit erhöhtem Risiko für Pandemie-bedingte psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen.13
Pathophysiologische Mechanismen für die Entwicklung von Long Covid
SARS-CoV-2 besitzt ein neuroinvasives Potenzial. Ein retrograder Transport des viralen Antigens entlang der Axone des Nervus olfactorius oder des Nervus vagus oder die Überwindung der Blut-Hirn-Schranke durch das virale Spike(S)-Protein konnten im Tierversuch dokumentiert werden. SARS-CoV-2 kann auch durch das Andocken seiner Spike-Proteine am „angiotensin I converting enzyme 2“ (ACE2), das an Neuronen, Gliazellen und Endothelzellen vorkommt, direkt ins ZNS gelangen. Dies führt zu einer starken Immunantwort, wobei Makrophagen signifikante Mengen an Zytokinen freisetzen. Diese sind TH-1-Zytokine, wie z.B. IL-1ß, IL-6, Interferon gamma, „tumor necrosis factor alpha“ (TNF) und TH-2-Zytokine, wie z.B. IL-4, IL-10, IL-1-Rezeptor-Antagonisten. IL-6 ist hauptverantwortlich für die unregulierte inflammatorische Antwort auf SARS-CoV-2. Die Affektion des Nervus vagus kann zu autonomer Dysregulation, gestörter zerebraler Autoregulation und ZNS-Hypoxie führen.6 Der Zytokinsturm resultiert in gestörter Blut-Hirn-Schranken-Funktion und erhöhter Permeabilität. Virus-infizierte Leukozyten können ins ZNS eindringen und zu einer Mikroglia- und Astrozyten-Aktivierung führen, die ihrerseits apoptotische Kaskaden und Demyelinisierungen triggern können. Die intrazelluläre inflammatorische Response auf die SARS-CoV-2-Infektion induziert lysosomale, mitochondriale und endoplasmatische Retikulum-Dysfunktionen. Eine neurodegenerative Kaskade wird durch Proteinfehlfaltungen und intrazelluläre Proteinakkumulation verursacht.
Die neuropsychiatrischen Phänomene erklären sich durch die protrahierten inflammatorischen, metabolischen und degenerativen Prozesse, die v.a. in ACE2-angereicherten Hirnarealen ablaufen. Dies sind der somatosensorische Kortex bis zum hinteren orbitalen Gyrus, der Temporallappen, der Thalamus und Hypothalamus, der Hirnstamm und zerebelläre Regionen.7 Läsionen von serotonergen Bahnen und eine Dysbalance von Acetylcholin, Dopamin und Histamin erklären die zahlreichen neuropsychiatrischen Phänomene.8 Persistierende Symptome resultieren oftmals durch direkte Gewebsschäden nach Inflammation, die sich mit anderen Mechanismen, wie z.B. prämorbiden kognitiven Störungen, addieren oder potenzieren können und dadurch sogar die Demenzschwelle unterschreiten können.9
Therapie
Long-Covid-Ambulanzen oder Spezialordinationen sollten diagnostisch proaktiv zur frühzeitigen Identifizierung von Long-Covid-Erkrankungen vorgehen. Es sind bisher keine speziellen Medikamente zur Behandlung von Long Covid zugelassen. Die meisten neuropsychiatrischen Symptome wie Insomnie, Fatigue, kognitive Beeinträchtigungen, Angststörungen, PTSD und Depression sprechen auf eine Kombinationstherapie aus Psychopharmakotherapie, rehabilitativen Maßnahmen, kognitivem Training und Psychotherapie relativ gut an. Therapieversuche mit Kortikosteroiden während der Akutphase steigerten, die Gabe von i.v. Immunglobulinen senkte das Risiko für Fatigue und Muskelschwäche nach 1 Jahr.10 Niedrig dosiertes Naltrexon wurde in Therapieversuchen gegen ein „chronic fatigue syndrome“ und beim chronischen Schmerz eingesetzt.11 Die eigene Leistungsfähigkeit wird oftmals überschätzt, und deshalb sollten die täglichen Anforderungen und Therapieziele in kleinere, zu schaffende Einheiten unterteilt werden. Prioritäten und Superioritäten sollten gesetzt werden und die schwierigsten Aufgaben über die Woche verteilt werden.
Literatur:
1 Badenoch JB et al.: Persistent neuropsychiatric symptoms after COVID-19: a systematic review and meta-analysis. Brain Commun 2021; 4(1) 2 Taquet M et al.: 6-month neurological and psychiatric outcomes in 236379 survivors of COVID-19: a retrospective cohort study using electronic health records. Lancet Psychiatry 2021; 8(5): 416-27 3 Efstathiou V et al.: Long COVID and neuropsychiatric manifestations (Review). Exp Ther Med 2022; 23: 363 4 Mazza MG et al.: Persistent psychopathology and neurocognitive impairment in COVID-19 survivors: effect of inflammatory biomarkers at three-month follow-up. Brain Behav Immun 2021; 94: 138-47. doi: 10.1016/j.bbi.2021.02.021 5 Méndez R et al.: Long-term neuropsychiatric outcomes in COVID-19 survivors: a 1-year longitudinal study. J Intern Med 2022; 291: 247-51 6 Najjar S et al.: Central nervous system complications associated with SARS-CoV-2 infection: integrative concepts of pathophysiology and case reports. J Neuroinflammation 2020; 17(231) 7 Guedj E et al.: 18F-FDG brain PET hypometabolism in patients with long COVID. Eur J Nucl Med Mol Imaging 2021; 48: 2823-33 8 Attademo L, Bernardini F: Are dopamine and serotonin involved in COVID-19 pathophysiology? Eur J Psychiatry 2021; 35: 62-3 9 Evans R et al.: Physical, cognitive, and mental health impacts of COVID-19 following hospitalisation—a multi-centre prospective cohort study. Lancet Respir Med 2021; 9: 1275-87 10 Huang L et al.: 1-year outcomes in hospital survivors with COVID-19: a longitudinal cohort study. Lancet 2021; 398: 747-58 11 Bolton MJ et al.: Low-dose naltrexon as a treatment for chronic fatigue syndrome. BMJ Case Rep 2020; 13: e232502 12 Davis HE et al.: Characterizing long COVID in an international cohort: 7 months of symptoms and their impact. EClinicalMedicine 2021; 38: 101019 13 Taylor S et al.: Development of initial validation of the COVID Stress Scales. J Anxiety Disord 2021; 72: 102232
Das könnte Sie auch interessieren:
Menschen mit Demenz: Was beeinflusst deren Überleben nach Diagnosestellung?
Verschiedenste Faktoren beeinflussen die Überlebenszeit nach einer Demenzdiagnose. Das Wissen um Risikofaktoren zum Zeitpunkt der Diagnose einer Demenzerkrankung oder in deren Verlauf ...
Alzheimer: Was gibt es Neues in der Biomarker-Entwicklung?
Schätzungen zufolge leben in Österreich 115000 bis 130000 Menschen mit einer Form der Demenz. Eine Zahl, die sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln wird.1 Antikörper-Wirkstoffe könnten in der ...
Kappa-FLC zur Prognoseabschätzung
Der Kappa-freie-Leichtketten-Index korreliert nicht nur mit der kurzfristigen Krankheitsaktivität bei Multipler Sklerose, sodass er auch als Marker zur Langzeitprognose der ...