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Gestern, heute, morgen

„Früher gab es eine einzige MS-Therapie, jetzt sind es über sechzehn“

Wer heute eine MS-Diagnose gestellt bekommt, hat eine deutlich bessere Prognose als noch vor wenigen Jahren. Das liegt neben dem breiten Therapieangebot auch an der flächendeckenden Versorgung in Österreich. Ob diese auch in Zeiten der Covid-19-Pandemie den Ansprüchen gerecht wird, besprechen wir mit Prof. Barbara Kornek, Präsidentin der MS-Gesellschaft Wien.

Frau Professor Kornek, wie herausfordernd waren die vergangenen Jahre inmitten der Pandemie für MS-Patienten?

B. Kornek: Gerade im ersten Jahr war die kontinuierliche Betreuung der MS-Betroffenen erschwert. Zu Beginn der Pandemie war die Unsicherheit unter den Patienten und Ärzten sehr groß. Wir konnten nicht einschätzen, wie groß das Risiko für MS-Patienten ist, einen schweren Covid-19-Verlauf zu erleiden. Deshalb gab es unter den Ärzten die Tendenz, weniger hochwirksame Medikamente zu verschreiben, aus Sorge, dass diese immunsuppressiven Medikamente einen schweren Verlauf bedingen. Das hat sich dann im zweiten Jahr, als mehr Daten vorhanden waren, wieder geändert. Sie zeigten, dass die Covid-Erkrankung bei Patienten mit MS in der Regel nicht schwerer verläuft − bis auf ein etwas höheres Risiko bei einzelnen immunsuppressiven Medikamenten.

Das Zweite ist, dass die Betreuung mit mehr Hürden verbunden war als vor der Pandemie. Für die Patienten war es schwieriger ins Krankenhaus zu kommen und auch Rehabilitationseinrichtungen waren zwischenzeitlich gesperrt. Zudem haben sich viele Patienten nicht getraut ins Krankenhaus zu gehen, aus Angst, sich dort zu infizieren. Einige sind noch bis heute sehr isoliert.

Haben sich in dieser Zeit spezielle Angebote für MS-Patienten etabliert?

B. Kornek: Die MS-Gesellschaft Wien hat sehr schnell auf Online-Veranstaltungen gewechselt. Zum Beispiel bei unserem zweimal jährlich stattfindenden Symposium für Menschen mit MS, ihre Angehörigen und Interessierte. Darüber hinaus haben wir aktuelle Informationen zu Covid-19 und zur Impfung in Form von Beiträgen und Webinars angeboten sowie Online-Beratungen. Und natürlich gibt es auch in Krankenhäusern die Möglichkeit für „telefonische Visiten“. Wir haben uns in dieser Zeit alle umgestellt.

Welche positiven Veränderungen sollten wir in die Zukunft mitnehmen?

B. Kornek: Die „remote connection“ ist sicherlich hilfreich. Zwar fordert die Betreuung von neurologischen Patienten per se ein Face-to-Face-Meeting, aber sich zwischen den Terminen per E-Mail oder Telefon auszutauschen, ist für die Patienten sehr angenehm.

Wie genau kann man die Risiken einer Covid-19-Impfung bei Vorliegen einer MS abschätzen?

B. Kornek: Weltweit gibt es mittlerweile zahlreiche großangelegte Studien zur Covid-19-Impfung bei MS. Auch wir in Österreich haben zwei großangelegte Impfstudien veröffentlicht, eine unter der Leitung des Kollegen Bsteh und eine unter meiner Leitung. Wir haben daher ausreichend Daten zur Covid-19-Impfung bei MS, um sagen zu können: Die Impfung ist gut verträglich und löst keine Schübe aus. Und zudem ist sie auch bei MS-Patienten wirksam, mit Ausnahme von zwei Medikamenten, die für die MS-Therapie eingesetzt werden. Dabei handelt es sich um eine B-Zell-depletierende Therapie und einen Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator, durch die die Impfwirksamkeit herabgesetzt ist. Diese Daten sind über alle Altersgruppen und geografischen Regionen konsistent, sodass wir die Wirkung und Nebenwirkung der Impfung ausreichend einschätzen können. Aber natürlich ist jede weitere Studie ein Gewinn.

Welche gesundheitspolitischen Anliegen bezüglich der Versorgung von MS-Patienten müssen dringend geklärt werden?

B. Kornek: Ein sehr großes akutes Anliegen ist, dass von der PVA derzeit kaum Anträge für stationäre Rehabilitationen bewilligt werden. Ich weiß nicht, ob das mit der Pandemie zusammenhängt oder nicht. Wir beobachten jedoch zunehmend Einschränkungen. Dazu kommt, dass viele Rehabilitationszentren während der Pandemie geschlossen waren und sich mittlerweile natürlich ein Rückstau an Reha-Aufenthalten gebildet hat. Das ist ein großes Problem, denn die Versorgung durch den Arzt oder im Krankenhaus ist immer nur ein Teil der ganzen Behandlung.

Wie hat sich die Situation abseits der Pandemie entwickelt − gab es in den letzten Jahren Schlüsselmomente, in denen sich die Therapiemöglichkeiten wesentlich verändert haben?

B. Kornek: Ich betreue seit 1997 MS-Patienten, also schon 25 Jahre lang. In dieser Zeit hat sich wirklich viel verändert. Zum damaligen Zeitpunkt gab es eine einzige zugelassene MS-Therapie, jetzt sind es über sechzehn. Und wir haben viele Erkenntnisse gewonnen. Wir wissen jetzt, dass man eine gute Langzeitprognose erreichen kann, wenn die Multiple Sklerose früh und effektiv behandelt wird. Es gibt auch Daten, die zeigen, dass sich mit jedem Jahr die Prognose bei einer Diagnosestellung verbessert. Das heißt, dass eine Person, die heute eine MS-Diagnose gestellt bekommt, eine deutlich bessere Prognose hat, als jemand, der seine MS-Diagnose 2000 bekommen hat. Für diesen Menschen bedeutet das in erster Linie eine gute Lebensqualität und dass weniger bleibende Behinderung erwartet wird. Zusätzlich können wir die MS mit den aktuellen Diagnosekriterien früher diagnostizieren. Insgesamt ist Multiple Sklerose also zu einer gut behandelbaren Erkrankung geworden, wobei es natürlich auch Ausnahmen gibt.

Auch beim Thema Schwangerschaft hat sich vieles verändert …

B. Kornek: Wir wissen durch zahlreiche Registerdaten, dass Frauen mit MS auch schwanger werden können und man ihnen nicht von einer Schwangerschaft abraten muss, wie das früher der Fall war. Wir wissen, welche Medikamente man nicht in der Schwangerschaft verwenden darf und können besser vorausplanen, welche Medikamente wir wann geben, damit trotz Schwangerschaft kein Schub auftritt.

Welche therapeutischen Optionen dürfen wir in Zukunft erwarten − was gibt es in der Pipeline?

B. Kornek: Ein großes und noch ungelöstes Problem ist die Behandlung der progredienten Multiplen Sklerose. Das gilt für die primär progrediente Verlaufsform ebenso wie für Patienten in einem fortgeschrittenen Stadium im Sinne einer sekundär progredienten Multiplen Sklerose. Die Progression ohne entzündliche Aktivität − damit sind Schübe und MR-Aktivität gemeint – ist nach wie vor schwer zu behandeln. Hier gibt es laufende Studien zu neuen Therapieansätzen, unter anderem den BTK-Inhibitoren. Sie zielen auf die Mikroglia und könnten womöglich die progressive Komponente der MS besser behandelbar machen.

Wie steht es um nichtmedikamentöse Maßnahmen?

B. Kornek: Hier gilt nach wie vor, dass Vorbeugung die wirksamste Intervention ist. Die medikamentöse Therapie ist immer nur ein Teil der Behandlung. Sie ist aufgrund der Natur der Erkrankung auch notwendig, aber es gibt unzählige nichtmedikamentöse Erweiterungen. Dazu zählen die physikalische Therapie, Bewegung, Ernährung, Kraftaufbau, Gleichgewichtstraining, antispastische Therapie usw.

Wie ist die gesundheitliche Versorgung in Österreich verglichen mit anderen Ländern?

B. Kornek: Die Awareness, was Multiple Sklerose betrifft, ist in Österreich nicht so gering. Wir sind daher, was unser medizinisches System betrifft, in einer verhältnismäßig günstigen Situation. Die Dichte an Neurologen ist hoch und wir haben ein gut etabliertes Netz an MS-Spezialisten und MS-Zentren. Diese fungieren auch als Qualitätssicherung, da immunsuppressive und immunmodulatorische Medikamente, die für die MS-Therapie zugelassen sind, bei uns nur von spezialisierten MS-Behandlern verordnet werden dürfen und in ein MS-Therapie-Register eingetragen werden müssen. Diese Versorgung ist im ländlichen Bereich sicher ausbaufähig, aber ich denke, dass von unseren 13000 bis 15000 MS-Patienten jeder einen Arzt findet, der Erfahrung und Wissen im Bereich der MS-Therapie hat. So gesehen sind wir in Österreich in einer privilegierten Position.

Was wünschen sich Mediziner, um ihre MS-Patienten optimal versorgen zu können?

B. Kornek: Die Punkte, an denen unser System ein wenig scheitert, sind gewisse unflexible Vorgaben. Zum Beispiel, dass manche Therapien nur stationär verabreicht werden dürfen. Gewisse Therapien könnte man auch tagesklinisch verabreichen, was für die Patienten einfacher wäre.

Der zweite wichtige Punkt ist die konsequente Rehabilitation und ambulante physikalische Therapie. Denn ein Therapieblock mit einer Stunde pro Woche in der Gruppe ist häufig zu wenig. Da müssen die Patienten schon sehr viel Eigenmotivation aufbringen. Der wichtigste Appell ist daher, dass Anträge auf stationäre Rehabilitation bewilligt werden sollten, denn von konsequenter neurologischer Rehabilitation können MS-Betroffene sehr profitieren.

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