
Exergames in der Neurorehabilitation
Autorin:
Dr. Barbara Seebacher, MSc
Abteilung für Rehabilitationsforschung
REHA Zentrum Münster
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Innsbruck
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Exergames sind videospielbasierte Fitnesstrainings, die seit den 1980er-Jahren im Einsatz sind, um das Klischee von Videospielen als sitzende, ungesunde Aktivität herauszufordern. Ziel von Exergames ist seit jeher, Bewegung und Spaß zu verknüpfen, um Menschen zur Bewegung zu motivieren und die Adhärenz zu steigern. In den letzten beiden Dekaden werden Exergames zunehmend auch in der Neurorehabilitation verwendet.
Keypoints
-
Exergames sind mittlerweile ein etablierter Behandlungsansatz als Ergänzung zur konventionellen Therapie in der Neurorehabilitation.
-
Mittels des spielbasierten Ansatzes kann ein herausforderndes, ziel- und aufgabenorientiertes, repetitives, variables, motivierendes, in der Schwierigkeit anpassbares und intensives Training für Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen angeboten werden.
-
Systematische Reviews und Metaanalysen wiesen die Wirkung von Exergames in der Neurorehabilitation auf das motorische Lernen und die motorischen sowie kognitiven Funktionen nach.
-
Die Entwicklung nutzerzentrierter Exergames für Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen und deren Evaluierung in qualitativ hochwertigen, groß angelegten Studien sind teilweise noch ausständig.
Neurorehabilitation ist ein komplexer medizinischer Prozess, der darauf abzielt, die Regeneration des Nervensystems zu unterstützen, Störungen der Funktion und Aktivität zu minimieren oder zu kompensieren, ein höchstmögliches Maß an Unabhängigkeit im täglichen Leben sowie sozialer Partizipation betroffener Patient*innen zu erreichen.1 Die moderne Neurorehabilitation beinhaltet gezielte, individualisierte Behandlungsstrategien und sollte herausfordernd, spezifisch, ziel- und aufgabenorientiert, repetitiv, variabel, motivierend, in der Schwierigkeit anpassbar und intensiv sein.2 Therapeut*innen des multidisziplinären Teams leiten sensomotorische und kognitive Aktivitäten mit einem externen Aufmerksamkeitsfokus an, fördern die Autonomie und positive Erwartungshaltung von Patient*innen und geben gezieltes Feedback, um deren Neuroplastizität und motorisches Lernen anzuregen.3
Was bewirken Exergames?
Der Einsatz spielerischer Elemente kann zudem sowohl die Motivation als auch die Adhärenz von Patient*innen fördern. In der Literatur werden Spiele als freiwillige, unterhaltsame, vergnügliche und oft fantasievolle Aktivitäten charakterisiert, die einen Wechsel von Spannung und Entspannung aufweisen, oft anhand von Regeln ablaufen und allein bzw. kooperativ oder konkurrierend mit anderen durchgeführt werden.4 Das große Potenzial von Spielen, Menschen zu motivieren und zu aktivieren, kann in der neurologischen Rehabilitation in Form von sogenannten „Exergames“, auch „Serious Games“, genutzt werden.5 Dieser Begriff setzt sich aus den Wörtern „Exercise“ oder „Exertion“ und „Videogame“ zusammen und kann als videospielbasiertes physisches und kognitives Training verstanden werden. Videospielbasierte Übungsprogramme sind in der Neurorehabilitation mittlerweile etabliert und werden in Kombination mit einem roboterunterstützten Training oder als isolierte Add-on-Maßnahme zur konventionellen Therapie verwendet.
Exergames integrieren zudem die sogenannte Gamification, um das Training ansprechender zu gestalten.5 Unter Gamification wird dabei der Einsatz spielerischer Elemente in einem spielfremden Kontext wie der Neurorehabilitation verstanden. Mittlerweile wurden zahlreiche Aspekte der Gamification identifiziert,6–8 von denen eine Auswahl in Abbildung 1 dargestellt ist. Rezente Studien demonstrierten die Überlegenheit von Exergames unter Einsatz von Gamification im Vergleich zu solchen ohne Gamification bei Patient*innen nach einem Schlaganfall.5
Künstliche Welten
Exergames nutzen die Interaktion der Nutzerin/des Nutzers mit dem Videospielszenario in einer virtuellen oder gemischten Realität, um einen sitzenden Lebensstil zu verändern, die allgemeine Fitness zu steigern oder aber spezifische Funktionen zu trainieren.5,9 Von einer gemischten Realität spricht man, wenn eine virtuelle, künstliche und eine augmentierte, erweiterte Realität miteinander kombiniert werden. Der Vorteil dieser künstlichen Welten ist die Möglichkeit einzutauchen. Je höher der Grad des Eintauchens, der Immersion, ist, desto engagierter sind üblicherweise Nutzer*innen eines Spiels und desto motivierender und vergnüglicher wird die künstliche Umgebung erlebt.
Wenn sich die motorischen und kognitiven Fähigkeiten von Patient*innen und die Herausforderungen des Spiels decken und sich ein Gefühl der Kontrolle über die Spielabläufe entwickelt, wird ein Flow-Zustand erzeugt, der Raum und Zeit vergessen lässt.10–12 Flow entsteht nur dann, wenn die Ziele und Regeln des Spiels klar und bewältigbar sind und ein unmittelbares Feedback dabei unterstützt, besser zu werden. Flow erhöht die Attraktivität und Effektivität von Exergames, weil die körperliche Aktivität und das Bewusstsein der Nutzerin/des Nutzers über die Situation gleichermaßen miteinander verschmelzen.12 Ein tiefes Eintauchen in die Welt des Exergames wird primär durch die gerichtete Aufmerksamkeit auf die Aktivität im Spiel ermöglicht und führt zum Verlust eines realen Zeitbezugs – die Dauer des Trainings wird als wesentlich kürzer eingeschätzt. Charakteristisch für Flow-Aktivitäten ist, dass diese als bereichernd empfunden werden und daher um ihrer selbst willen durchgeführt werden.12
Das Gamedesign-Konzept
Wie in der konventionellen Neurorehabilitation ist ein optimales Niveau an Herausforderung und Variabilität im Trainingsprogramm unverzichtbar, um die Motivation zu erhalten. Exergames mit attraktivem Design sollten daher Überraschungsmomente, Hürden und Möglichkeiten, soziale Interaktion, Wettbewerb und Belohnungen beinhalten. Studien demonstrierten, dass das Misslingen von Aufgaben und erneute Versuche, die letztlich von Erfolg gekrönt sind, für ein Erleben von Freude und Zufriedenheit mit der eigenen Leistung erforderlich sind.11
Ein holistisches Gamedesign sollte dabei die Ebenen des menschlichen Körpers und Geists, der Bewegungserfassung und Anpassung des Spiels an die Leistung der Spielerin/des Spielers sowie des Gameszenarios berücksichtigen.13 Motivationssteigernd ist auch die Verwendung eines Narrativs bzw. einer Geschichte, welche die einzelnen Aktivitäten des Exergames in spannender und konstruktiver Weise miteinander verbindet und durch die Nutzerin/den Nutzer direkt beeinflussbar ist. Als Narrativ kann jede sinnvolle, zusammenhängende Geschichte bezeichnet werden, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, Informationen hinsichtlich des Spielszenarios und der Charaktere übermittelt, unbeantwortete Fragen und ungelöste Konflikte aufwirft und Lösungen anbietet.14 Narrative können somit dazu dienen, die Immersion von Nutzer*innen im Spiel zu vertiefen.6
Relevante Studien wiesen nach, dass die Konzeption der Übungen selbst und deren Sinnhaftigkeit für die Patientin/den Patienten von entscheidender Bedeutung sind, um eine korrekte Durchführung, Adhärenz und motorisches Lernen zu gewährleisten. Übungen, deren Durchführung kein Vergnügen bereitet, sind weniger effektiv.11 Etablierte Literatur zum motorischen Lernen zeigte in eindrücklicher Weise, wie relevant die intrinsische Motivation und die Unterstützung der Autonomie der/des Lernenden durch die Behandlerin/den Behandler sind.3 Analog dazu sollten Belohnungen in Exergames primär dazu eingesetzt werden, die intrinsische Motivation und Autonomie von Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen zu fördern.11
Häufig werden zielgerichtete motorische Aktivitäten geübt, die sich an Aktivitäten des täglichen Lebens orientieren15 und damit eine hohe ökologische Validität aufweisen.16 Eine hohe ökologische Validität bedeutet eine gute Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Alltag. Beispiele dafür sind das Einsammeln von Gegenständen im Spiel, wie etwas Äpfelpflücken, oder gangbezogene Aktivitäten. Sogenanntes Dual-Task-Training eignet sich auch sehr gut für Exergames, welches eine Kombination zweier motorischer bzw. einer motorischen und einer kognitiven Aufgabe beinhaltet.9
Die Interaktion mit dem Game findet über grobmotorische Körperbewegungen der Nutzer*innen bzw. Patient*innen statt, sodass der menschliche Körper gleichermaßen als Spielcontroller dient. Motorische Aktivitäten der Patient*innen werden mit Bewegungstrackingsystemen wie z.B. inertialen Messeinheiten (z.B. bestehend aus Akzelerometern, Gyroskop und Magnetoskop) erfasst. Die Bewegungserfassung in Echtzeit ermöglicht ein unmittelbares Feedback für die Nutzerin/den Nutzer, welches motivierend ist, die Selbstwirksamkeitserwartung steigert und das Lernen anregt.11 Feedback kann visuell, auditiv oder haptisch, idealerweise aber kombiniert sein und eine explizite Evaluierung der Leistung darstellen bzw. automatisiert ablaufen.11
Klinische Perspektive und Wirksamkeit von Exergames
Aus klinischer Sicht ist die Supervision durch Physio- oder Ergotherapeut*innen relevant, um adäquate Spiele und Schwierigkeitsgrade für Patient*innen zu selektieren und Hinweise zur optimalen Nutzung geben zu können. Hier zeigte sich, dass trotz nachgewiesenen Nutzens gewisse Herausforderungen hinsichtlich der Verwendung von Exergames auf der Seite der Behandler*innen und Patient*innen vorhanden sein können (Tab. 1). Manche Exergames können mit einem geräteunterstützten Training oder einem Sturzsicherungssystem gekoppelt werden, um beispielsweise ein Gleichgewichtstraining an der individuellen Leistungsgrenze zu ermöglichen.5 Somit können Exergames als Ergänzung zur konventionellen Neurorehabilitation betrachtet werden. In späteren Phasen der Rehabilitation könnten leicht zu bedienende, kommerzielle Exergames auch für ein Heimtraining eingesetzt werden, allerdings bedarf es hier weiterer Forschung zur Sicherheit und Effektivität gerade bei stärker beeinträchtigten Patient*innen.15
Systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen beschrieben bisher mehrheitlich eine geringe bis moderate Qualität und ein moderates bis hohes Biasrisiko von Studien zur Wirksamkeit von Exergames bei Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen. Eingeschlossene Studien sind oft Machbarkeits- oder Pilotstudien bzw. klinisch kontrollierte oder randomisierte kontrollierte Studien mit geringen Fallzahlen.15,17,18 Die Ergebnisse rezenter Metaanalysen zeigten signifikante Effekte von Exergame-basiertem Training auf die Balance, funktionelle Mobilität und Unabhängigkeit,19 Armfunktion und Aktivitäten des täglichen Lebens bei Patient*innen nach einem Schlaganfall, vor allem bei vollständiger Immersion in einer virtuellen Umgebung.20
Eine weitere Metaanalyse untersuchte die Wirksamkeit von Exergames auf die kognitiven Funktionen von Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen unterschiedlicher Genese und fand signifikant verbesserte Exekutiv- und visuospatiale Funktionen, aber keine signifikanten Unterschiede der Aufmerksamkeit und globalen kognitiven Funktion im Vergleich zu einer alternativen oder keiner Intervention.17 Eine höhere Therapiefrequenz war mit einem signifikant besseren Outcome hinsichtlich der Balance in einer gemischten neurologischen Population assoziiert.18
Sowohl in Studien als auch in der klinischen Praxis werden aufgrund ihrer geringen Kosten und einfachen Handhabung nach wie vor primär kommerzielle Exergames verwendet. Studien empfahlen hingegen die Entwicklung von nutzerzentrierten Exergames, welche klinisch identifizierbare Beeinträchtigungen und Bedürfnisse von Patient*innen nach einem Schlaganfall,21 mit Multipler Sklerose22 und Parkinsonsyndrom23 einbeziehen und spezifisch adressieren. Aktuell besteht ein Bedarf, weitere geeignete nutzerzentrierte Exergames für Patient*innen mit neurologischen Erkrankungen zu entwickeln und zu validieren. Hierzu bedarf es noch groß angelegter Studien hoher Qualität.
Literatur:
1 Khan F et al.: J Neurol 2017; 264: 603-15 2 Maier M et al.: Front Syst Neurosci 2019; 13: 74 3 Wulf G, Lewthwaite R: Psychon Bull Rev 2016; 23: 1382-414 4 Hanne-Behnke G: Klinisch orientierte Psychomotorik. München: Richard Pflaum, 2001 5 Tosto-Mancuso J et al.: Curr Neurol Neurosci Rep 2022; 22: 183-95 6 Lu AS: Games Health J 2015; 4: 19-24 7 Edwards EA et al.: BMJ Open 2016; 6: e012447 8 Schmidt-Kraepelin M et al.: JMIR Mhealth Uhealth 2020; 8: e19280 9 Costa MTS et al.: Clin Pract Epidemiol Ment Health 2019; 15: 15-20 10 Csikszentmihalyi M: Flow: The Psychology of Optimal Experience. New York: Harper & Row, 1990 11 Lyons EJ: Games Health J 2015; 4: 12-8 12 Sinclair J et al.: GRAPHITE 2007; 289-95 13 Schättin A et al.: JMIR Serious Games 2021; 9: e22826 14 Hinyard LJ, Kreuter MW: Health Educ Behav 2007; 34: 777-92 15 Barry G et al.: J Neuroeng Rehabil 2014; 11: 33 16 Parsons TD: Front Hum Neurosci 2015; 9: 660 17 Mura G et al.: Eur J Phys Rehabil Med 2018; 54: 450-62 18 Prosperini L et al.: J Neurol 2021; 268: 3223-37 19 Chan KGF et al.: J Adv Nurs 2022; 78: 929-46 20 Jin M et al.: Clin Rehabil 2022; 36: 573-96 21 Tobler-Ammann BC et al.: JMIR Serious Games 2017; 5: e18 22 Taylor MJD, Griffin M: Mult Scler J 2014; 21: 355-71 23 Barry G et al.: J Neuroeng Rehabil 2014; 11: 33
Das könnte Sie auch interessieren:
Menschen mit Demenz: Was beeinflusst deren Überleben nach Diagnosestellung?
Verschiedenste Faktoren beeinflussen die Überlebenszeit nach einer Demenzdiagnose. Das Wissen um Risikofaktoren zum Zeitpunkt der Diagnose einer Demenzerkrankung oder in deren Verlauf ...
Alzheimer: Was gibt es Neues in der Biomarker-Entwicklung?
Schätzungen zufolge leben in Österreich 115000 bis 130000 Menschen mit einer Form der Demenz. Eine Zahl, die sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln wird.1 Antikörper-Wirkstoffe könnten in der ...
Kappa-FLC zur Prognoseabschätzung
Der Kappa-freie-Leichtketten-Index korreliert nicht nur mit der kurzfristigen Krankheitsaktivität bei Multipler Sklerose, sodass er auch als Marker zur Langzeitprognose der ...