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Ein Leitfaden für die Praxis

Erfassung von Alltagsfunktionen bei der Demenz

Welche Bedeutung haben die Probleme älterer Menschen bei der Bewältigung ihres Alltags und wie sind sie medizinisch zu bewerten?

Erfassung von Alltagsfunktionen: wozu?

Viele alte Menschen beobachten eine Minderung ihrer Gedächtnis- und Alltagsfunktionen (ADL = „activities of daily living“; Tab. 1) und suchen daher den Arzt mit der Frage nach einer beginnenden Demenzerkrankung auf. Durch eine fachgerechte Demenzdiagnostik kann festgestellt werden, woher die beobachteten Symptome stammen. Als Ursache kommen benigne (physiologische) Altersveränderungen, eine Demenzvorstufe (sog. MCI = „mild cognitive impairment“), eine bereits manifeste Demenz oder körperliche Erkrankungen (z.B. Arthrose, Herz-, Lungen-, Stoffwechselerkrankung, Frailty, Unfallfolge, andere) infrage.

Tab. 1: Alltagsfunktionen (ADL = „activities of daily living“)

Die klinische Untersuchung bleibt neben der zerebralen Bildgebung und der Erfassung von Biomarkern (z.B. Amyloid, Tau) ein wichtiger Teil der Demenzdiagnostik. Sie befasst sich mit der Frage nach kognitiven und Alltagskompetenzen. Eine Minderung von Alltagstauglichkeit bedeutet für Patient:innen einen Verlust von Selbstständigkeit und Lebensqualität sowie den Bedarf an Unterstützung, ggf. auch Pflege. Für Angehörige bedeutet der ADL-Verlust Belastung („caregiver burden“), für das Sozialsystem Kosten (Pflegegeld, Pflegeheim). Darüber hinaus ist der Verlust von ADL ein wichtiges diagnostisches Einschlusskriterium bei Demenz und MCI (Tab. 2). Der Erfassung der funktionellen Alltagskapazität im Alter kommt somit mehrfache Bedeutung zu.

Tab. 2: Funktionseinbußen im Alter

Alltagsfunktionen beim alten Menschen

Normales Altern geht mit einem langsamen Verlust von IADL (instrumentelle Alltagsfunktionen) einher. Umfang und Tempo dieses Abbaus sind individuell variabel und hängen von der kognitiven Reserve, dem langjährigen Anforderungs- und Tätigkeitsprofil, sozialen und psychischen Faktoren, chronischen Erkrankungen und der Fitness einer Person ab. Der ADL-Verlust ist bei hirngesunden alten Menschen meist über lange Zeit kompensierbar.

Zahlreiche Studien belegen, dass bei Personen mit MCI (leichter neurokognitiver Störung) die Basis-Alltagsfunktionen meist erhalten sind; bei komplexen Alltagsleistungen wie z.B. dem Umgang mit Geld, der Erledigung von Amtswegen, der Organisation von Unternehmungen, dem Autofahren oder dem Einhalten eines Medikationsschemas bestehen jedoch bereits Einschränkungen. Erste IADL-Einbußen sind beim MCI u.U. bereits 4–10 Jahre vor der Demenzdiagnose feststellbar. Ein zunehmender Verlust von Alltagsfunktionen wird bei Personen mit MCI als Prädiktor für eine demenzielle Entwicklung angesehen.

Patient:innen mit einer Demenz leiden unter einem progredienten, schweren Verlust von Alltagsleistungen, der in mittleren und späten Stadien auch Basisfunktionen betrifft und zur Pflegebedürftigkeit führt. Das ADL-Defizit der Demenz hängt vom Krankheitsstadium, der Psychopathologie (z.B. Apathie, Verwirrtheit) und der Ätiologie ab und geht meist mit dem kognitiven Defizit einher (vor allem mit Störungen von Gedächtnis und exekutiven Funktionen). Bei der Alzheimererkrankung korreliert der Verlust von Alltagsfunktionen mit Biomarkern (Nachweis von Amyloid, Tau) und dem Ausmaß der Neurodegeneration.

Alltagsfunktionen:wie erfassen?

Messverfahren für die Einschätzung von Alltagsfunktionen werden z.B. in der neurologischen Rehabilitation und Versicherungsmedizin seit Langem verwendet. Für den Bereich der Demenz existiert zu den ADL umfangreiches Wissen aus Forschung und Praxis. In der Klinik werden drei Formen des ADL-Assessments verwendet (siehe auch Tab. 3).

Tab. 3: Vor- und Nachteile von Messverfahren der ADL

Selbstbeurteilung

Hier schätzt die untersuchte Person ihre Alltagsfähigkeit selbst ein. Wegen der häufig eingeschränkten Krankheitsselbstwahrnehmung von Demenzpatient:innen (mangelnde Awareness) sind diese Resultate oft unverlässlich bzw. nur im Kontext mit zusätzlichen Informationsquellen verwertbar.

Fremd(Proxy)beurteilung

Das sind die am häufigsten verwendeten Messverfahren. Die Qualität der Proxyeinschätzung hängt wesentlich vom konkreten Wissen des Caregivers über den Patienten („knowledgable caregiver“) und von seiner Einbindung in die Betreuung ab (durchgehende Anwesenheit vs. Telefonkontakt, Zeitpflege vs. Familienangehörige mit jahrelangem Kontakt). Die Beurteilung wird ferner beeinflusst durch das Ausmaß der Caregiver-Belastung und die Qualität der persönlichen Beziehung. Häufig wird die Alltagsfähigkeit durch Angehörige oder Pfleger:innen über- oder unterschätzt (Caregiver-Bias). Durch die sogenannte Diskrepanzbeurteilung (Vergleich Selbst- mit Proxyeinschätzung) wird sichtbar, wie realistisch Patienten die Auswirkung der Erkrankung auf ihre Alltagsfunktionen einschätzen. Als Beispiel für ein modernes, klinisch gut anwendbares IADL-Fremdbeurteilungsverfahren ist das Amsterdam IADL Questionnaire zu nennen (siehe Infobox).

Performanzbasierte Einschätzung

Hier werden einfache oder mehrschrittige Aktivitäten am Untersuchungsort naturalistisch simuliert, also z.B. Routinetätigkeiten in Haushalt und Küche, die Verwaltung eines Bankkontos, das Bezahlen von Rechnungen oder die Anwendung eines Medikationsschemas. Diese Methode erlaubt es, Konzept, Initiation, Durchführung sowie allfällige Fehlleistungen und Selbstkorrekturen eines Probanden direkt und objektiv zu beurteilen, ist aber aufwendig.

Fazit für die Praxis

Take-Home-message

Haben ältere Menschen Schwierigkeiten, den Alltag zu meistern, so kann das neben dem Bestehen einer Demenzerkrankung auch andere Ursachen haben. Untersuchungsverfahren zur Erfassung von Alltagsfunktionen sind wichtige, einfach anwendbare diagnostische Hilfen bei der Demenzabklärung. Sie geben auch Auskunft über die Selbstständigkeit und den Pflegebedarf älterer Personen.

Kritisch ist anzumerken, dass nur wenige Messverfahren von ADL gute psychometrische Eigenschaften haben (z.B. Validierung, Normen, Cut-off-Wert, Test-Retest-, Interrater-Reliabilität etc.). ADL-Funktionen sind stark sozial, kulturell und historisch geprägt und deshalb bei Gesunden breit gestreut. Messfehler können entstehen, weil manche ADL-Questionnaires nicht an das Geschlecht, das Vorleben und die prämorbiden Fertigkeiten des Patienten angepasst sind. Für eine sachgerechte Beurteilung ist es nötig, eine ätiologische Unterscheidung (körperlich vs. kognitiv bedingt, Konzept- vs. Antriebs- vs. Durchführungsstörung) zu treffen. Schwierig sind vor allem alleinstehende Patient:innen zu beurteilen, bei denen keine fundierte Fremdanamnese verfügbar ist. Verglichen mit anderen biologischen Messverfahren sind Tests zur Erfassung von ADL klinische Schätzverfahren ohne absoluten Informationswert. Für die Beurteilung von Demenzpatient:innen sind sie trotzdem unersetzlich. Sie stellen eine einfache, leicht durchführbare und billige Möglichkeit dar, Alltagsbehinderung, Verlust von Autonomie, Krankheitsverlauf, „caregiver burden“ und Pflegeaufwand bei der Demenz zu ermitteln. ADL-Verluste stellen ferner einen möglichen prädiktiven Wert für das spätere Eintreten einer Demenz dar und sind wichtige Grundlagen für die Diagnose eines MCI oder einer Demenz. Ferner zeigt die fachgerechte Analyse der Fehler und Bedingungen des Auftretens des ADL-Defizits wertvolle Hilfsstrategien für die Pflege auf.

beim Verfasser

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