
Späte Diagnosen
Bericht:
Mag. Birgit Leichsenring
HIV-Infektionen, die erst zu einem späten Zeitpunkt im Infektionsverlauf diagnostiziert werden, stellen das Gesundheitssystem, behandelnde Ärzt*innen und Menschen mit HIV vor anhaltende Herausforderung. Auch der DÖAK 2023 griff das Thema der späten Diagnosen mehrfach auf.
Die signifikant nachteiligen Auswirkungen einer späten HIV-Diagnose mit bereits fortgeschrittenem Immundefekt auf die individuelle Langzeitprognose sind hinlänglich bekannt. Zusätzlich hat die untherapierte HIV-Infektion epidemiologische Auswirkungen, da unter effektiver HIV-Therapie eine sexuelle Übertragung ausgeschlossen werden kann. Aus diesen Gründen und in Anbetracht der ausgezeichneten Therapieoptionen müssen frühere Diagnosen oberste Priorität haben.
Abb. 1: In der allgemeinmedizinischen Praxis werden die meisten HIV-Diagnosen gestellt und die meisten Chancen verpasst (modifiziert nach Valbert F et al. 2021)5
Ein anhaltendes Problem
Trotz der Bemühungen erhalten auch in Österreich viele Menschen die HIV-Diagnose spät. In einer aktuellen HIV-Kohortenauswertung hatten 42,6% der Patient*innen eine späte Diagnose mit einer CD4-Zellzahl <350/µl bei Erstdiagnose.1 Europaweit fasst die ECDC das Problem zusammen: Von ca. 106000 neuen HIV-Diagnosen, die 2021 in Europa registriert wurden, hatte mehr als die Hälfte der Personen zum Zeitpunkt der Diagnose eine CD4-Zellzahl <350/µl und bei mehr als einem Drittel lag sie unter 200/µl.2
Neue Konsensus-Definition
Ein Konsensus-Statement zu späten Diagnosen wurde 2010 veröffentlicht und definierte erstmals den Begriff „late presentation“ mit einer CD4-Zellzahl <350/µl oder Aids bei Diagnose. Ende 2022 erfolgte ein Update, welches u.a. folgende Aspekte beinhaltet:3
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Statt „late presentation“ wird der Terminus „late HIV diagnosis“ etabliert. Er wird weiterhin definiert durch die HIV-Erstdiagnose bei einer CD4-Zell-Zahl <350/µl oder Aids-definierender Erkrankung unabhängig vom Immunstatus.
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Neu diagnostizierte rezente HIV-Infektionen (z.B. mit negativem HIV-Test im letzten Jahr) sollten als „not late“ eingeordnet werden. Hintergrund ist eine potenziell falsche Einstufung aufgrund möglichen kurzfristigen CD4-Zell-Abfalls während der Serokonversion.
Projekt zeigt verpasste Chancen auf
Das Projekt „FindHIV“ erfasste Daten zu 706 späten Diagnosen in 40 deutschen HIV-Zentren.4 Ziel war z.B. die Erhebung von Charakteristika der Patient*innen, die zu einer Verzögerung der Diagnose führten. Gleichzeitig identifizierte „FindHIV“ die Anlaufstellen im Gesundheitssystem, an denen diese Patient*innen vorstellig wurden. Die Ergebnisse zeigten die zentrale Rolle der Hausärzt*innen. Hier wurden mit 40,2% die meisten HIV-Diagnosen gestellt. Allerdings wurden hier auch die meisten Chancen verpasst: Bei 56,8% hätte es die Option für eine frühere Diagnose gegeben.5 Anhand der Daten wurde ein Scoring-Tool (Publikation noch ausstehend) entwickelt, welches Nicht-HIV-Expert*innen unterstützen kann, den HIV-Test gezielt anzubieten, damit mehr Menschen von einer früheren Diagnose profitieren können.4
Wiener Umfrage unterstreicht verpasste Chancen
31 Patient*innen der Klinik Favoriten in Wien wurden nach möglichen Gründen für ihre späte HIV-Diagnose gefragt. Die meisten gaben Symptome im Vorfeld der Diagnose an (u.a. Müdigkeit, Gewichtsverlust, Fieber, grippeähnliche Symptome), die auch zum Aufsuchen von Ärzt*innen führten. Die Hauptgründe, warum es nicht früher zu einem HIV-Test kam, waren ein fehlendes Risikobewusstsein für eine mögliche HIV-Infektion vonseiten der Patient*innen und dass vonseiten der Ärzt*innen kein HIV-Test angeboten wurde. Die Studienautor*innen ziehen ebenfalls das klare Fazit, dass es einen enormen Benefit hat, wenn nicht HIV-Mediziner*innen aktiv HIV-Tests anbieten, zumal undiagnostizierte Personen oft mit einer eindeutigen Symptomatik vorstellig werden und sich dadurch eine Chance bietet.6
Literatur:
1 Zangerle et al.: 43. Report of the Austrian HIV Cohort Study 2022. https://www.aidsgesellschaft.at/publikationen/ahivcos/ ; zuletzt aufgerufen am 3.5.2023 2 Presseaussendung ECDC: World AIDS Day 2022: WHO/Europe and ECDC report reveals increasing numbers living with undiagnosed HIV in the Region; https://www.ecdc.europa.eu/en/news-events/hiv-increasing-numbers-living-undiagnosed; zuletzt aufgerufen am 3.5.2023 3 Croxford S et al.: Late diagnosis of HIV: An updated consensus definition. HIV Med 2022; 23(11): 1202-8 4 Schellberg S.: FindHIV. Wo liegen die verpassten Chancen für eine frühere Diagnose? Wie können wir sie nutzen? DÖAK 2023, Bonn; S6B 5 Valbert F et al.: HIV-Epidemiologie in Deutschland: Späte Diagnostik. Dtsch Arztebl 2021; 118 (43): A 1994-8 6 Naegeli M et al.: Reasons for delayed HIV testing in late presenters. DÖAK 2023, Bonn; P81008
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