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30. HIV Glasgow 2022

Integrierte Versorgung für eine alternde Population von Menschen, die mit HIV leben

Die Lebenserwartung von Menschen, die mit HIV leben, ist sehr hoch, auch infizieren sich zunehmend Personen in mittlerem Alter mit HIV. Beides führt zu einer alternden Population von Menschen, die mit HIV leben. Diese Population hat aufgrund des Alters viele zusätzliche Bedürfnisse auf biologischer, psychischer und sozialer Ebene, wie auch Daten aus Österreich zeigen. Das bringt große Herausforderungen für eine umfassende Versorgung von Menschen mit HIV.

Keypoints

  • Medizinische, pflegerische, therapeutische und soziale Versorgung von Menschen, die mit HIV leben, muss die Patient*innen mit ihren biologischen, psychischen und sozialen Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellen und nicht die Erkrankung.

  • Integrierte Versorgung stärkt persönliche Gesundheitsressourcen, reduziert Gesundheitsbarrieren und berücksichtigt alle Dimensionen: Gesundheitsförderung, Prävention, Kuration, Rehabilitation und ggf. Palliativversorgung.

  • Menschen, die mit HIV leben, haben oft Komorbiditäten, die öfter und früher auftreten als in der Allgemeinbevölkerung.

  • Psychische und soziale Herausforderungen wie „common mental disorders“, Substanzgebrauch, Arbeit, Stigma und Diskriminierung prädizieren oft Outcomes wie Adhärenz zur antiretroviralen Therapie und müssen deshalb in der Versorgung ebenfalls berücksichtigt werden.

Seit Beginn der HIV-Pandemie und vor allem seit Einführung der antiretroviralen Therapie haben sich die Lebenserwartung und die Lebensqualität von Menschen, die mit HIV leben („people living with HIV“; PLWHIV), deutlich erhöht. HIV wird als eine chronische Erkrankung angesehen, bei der die Lebenserwartung annähernd der der Allgemeinbevölkerung entspricht. Außerdem hat sich der Altersmedian in Bezug auf die HIV-Erstdiagnose in die Altersspanne von 40–43 Jahren verlagert. Diese beiden Faktoren führen dazu, dass PLWHIV immer älter werden, mit allen Herausforderungen an die medizinische, pflegerische, therapeutische und soziale Versorgung, die eine alternde Bevölkerung mit sich bringt.1 Dieszusätzlich zur ohnehin schon relativ aufwendigen medizinischen Versorgung, die darauf abzielt, das Virus in Schach zu halten, inklusive der präventiven Check-ups. Viele der altersbedingten Erkrankungen treten bei PLWHIV im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger und/oder früher auf. Hinzu kommen noch biologische, psychische und soziale Bedürfnisse von PLWHIV, die durch das Virus selbst, durch die antiretrovirale Therapie, durch den Lebensstil von PLWHIV oder durch die Reaktion der Gesellschaft auf die Erkrankung verursacht sind, die die Versorgung von Menschen, die mit HIV leben, besonders herausfordernd macht.

Biologische Bedürfnisse

HIV wird als ein Modell für beschleunigtes oder akzentuiertes Altern diskutiert.2 HIV-assoziierte Nicht-Aids-Erkrankungen (HANA) und chronische nichtinfektiöse Erkrankungen erlangen bei PLWHIV zunehmend an Bedeutung. Gebrechlichkeit („frailty“), ein Syndrom, das vor allem in der Geriatrie von großer Bedeutung ist, kommt bei PLWHIV bereits im mittleren Alter vor. Mitverantwortlich dafür werden die immunmodulatorische Wirkung des Virus, chronische Inflammation, die antiretrovirale Therapie und HANA gemacht. Jedenfalls führt Frailty gerade bei PLWHIV zu erhöhter Vulnerabilität und verstärkt das Risiko für negative Folgen wie Beeinträchtigungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens.3

Vor allem sind es aber kardiovaskuläre Erkrankungen und kardiovaskuläre Ereignisse, die bei PLWHIV deutlich häufiger und früher vorkommen als in der Allgemeinbevölkerung.4Eine Studie bei in Wien versorgten PLWHIV mit einem mittleren Alter von 42,1 Jahren zeigte eine Prävalenz von Dyslipidämie von 72%, 8% litten an Hypertonie, die Prävalenz von Diabetes mellitus betrug 2% und die von Insulinresistenz 50%.5 In einer Subpopulation von 360 Personen, die acht Jahre später nochmals untersucht wurde, stieg die Prävalenz von Hypertonie von 11% auf 20% (p<0,001). Die Prävalenz von Typ-2-Diabetes mellitus stieg von 3% auf 5% (p=0,039) und die von Dyslipidämie sank von 77% auf 71% (p=0,042).6 Die Reduktion der Prävalenz von Dyslipidämie war großteils durch die Umstellung der antiretroviralen Therapie erklärbar.7 Darüber hinaus zeigt sich bei PLWHIV eine etwa viermal höhere Prävalenz von Osteopenie und Osteoporose.1

Psychische Bedürfnisse

PLWHIV sind deutlich häufiger von psychischen Problemen betroffen als die Allgemeinbevölkerung. Eine systematische Untersuchung aus Großbritannien hat gezeigt, dass die Prävalenz von Depressionen bei PLWHIV bei 17–47% liegt, verglichen mit einer Prävalenz von 2–5% in der Allgemeinbevölkerung. Die Prävalenz von Angststörungen betrug 22–49%, verglichen mit 4–5% der Allgemeinbevölkerung. Von Schlafstörungen waren 61% und von Suizidgedanken 31% der PLWHIV betroffen (verglichen mit 10% bzw. 1% der Allgemeinbevölkerung).8 Auch Substanzgebrauch scheint bei PLWHIV sehr häufig zu sein. Eine Untersuchung bei PLWHIV in Österreich und Deutschland zeigte eine Prävalenz des Zigarettenrauchens von 49,4%, mit einer sehr ausgeprägten Nikotinabhängigkeitsrate, allerdings auch einer sehr hohen Bereitschaft zur Änderung des Rauchverhaltens.9 In der Wiener Kohorte sank der Anteil der Raucher*innen von 42,6% zu Studienbeginn auf 37,1% bei der Nachuntersuchung acht Jahre später (p=0,007).6

Die Häufigkeit des Konsums illegaler Drogen war bei PLWHIV in Wien mit 60,5% besonders hoch, wobei viele der Drogen konsumierenden PLWHIV gleich mehrere verschiedene Substanzen konsumierten.10 Die beschriebenen „common mental disorders“ und Substanzgebrauch bei PLWHIV haben auch Auswirkungen auf die Therapie bzw. die Adhärenz zur antiretroviralen Medikation11, deshalb müssen sie in der Versorgung von PLWHIV mitberücksichtigt werden.

Soziale Bedürfnisse

Stigmatisierung, Diskriminierung und Vorurteile gegenüber PLWHIV sind nach wie vor weitverbreitet. Angst vor Offenlegung der Erkrankung, Scham und Verlegenheit sowie negative vorausgegangene Erfahrungen mit Gesundheitsdienstleistungen beeinflussen die Versorgung von PLWHIV negativ.12 Zusätzlich ist die Arbeitssituation bei PLWHIV häufig schlecht, ein großer Anteil von PLWHIV ist arbeitslos,13 häufig aufgrund des sozialen Stigmas, das mit HIV verbunden ist,mit allen gesundheitlichen und sozialen negativen Konsequenzen, die Arbeitslosigkeit mit sich bringt.

Integrierte Versorgung bei PLWHIV

Integrierte Versorgung ist ein Konzept der umfassenden kontinuierlichen Versorgung, bei der die Patient*innen mit all ihren individuellen subjektiven Bedürfnissen und objektiven Bedarfen (und nicht die Erkrankung) im Fokus stehen und bei der Gesundheitsressourcen gesteigert und gleichzeitig Gesundheitsbarrieren abgebaut werden (Abb. 1). In der integrierten Versorgung werden standardisierte Prozesse durch interdisziplinäre Teams durchgeführt, welche durch standardisierte und idealerweise sektorenübergreifende Informationssysteme unterstützt werden. Performance-Monitoring, Organisationskultur, Steuerungsstrukturen und Finanzierungsmanagement werden bei der integrierten Versorgung ebenfalls berücksichtigt.14

Abb. 1: Biologische, psychische und soziale Bedürfnisse und Bedarfe von Menschen, die mit HIV leben, Betreuung in einem interdisziplinären Team und integrierte Versorgung

Für PLWHIV ist ein gutes persönliches Verhältnis zu Gesundheitsanbieter*innen besonders wichtig. Weitere Anforderungen an das Versorgungssystem aufseiten der PLWHIV sind gutes Fachwissen der HIV-Spezialist*innen, eine kontinuierliche Versorgung, Zugang zu hochqualitativer Information und Unterstützung. Eine gute Koordination zwischen HIV-Spezialist*innen und anderen Gesundheitsanbieter*innen sowie sozialen Diensten ist somit unabdingbar, ebenso wie die aktive Einbindung der PLWHIV in alle Entscheidungsprozesse.15 Auch eine Untersuchung aus Österreich zeigte, dass sich Miteinbeziehung von PLWHIV in Entscheidungsprozesse bezüglich der Versorgung in vielerlei Hinsicht günstig auswirkt, insbesondere auch auf die Adhärenz zurantiretroviralen Therapie.16

Fazit

Um die Versorgung in Österreich für eine alternde Population von PLWHIV fit machen zu können und alle biologischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse zu integrieren, braucht es Veränderungen in vielerlei Hinsicht. Integrierte Versorgung könnte viele dieser Aspekte erfüllen.

1 Calcagno A, et al.: Ageing with HIV: a multidisciplinary review. Infection 2015; 43(5): 509-22 2 Pathai S et al.: Is HIV a model of accelerated or accentuated aging? J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2014; 69(7): 833-42 3 Brothers TD et al.: Frailty in people aging with human immunodeficiency virus (HIV) infection. J Infect Dis 2014; 210(8): 1170-9 4 Bhatia R et al.: Accelerated aging and human immunodeficiency virus infection: emerging challenges of growing older in the era of successful antiretroviral therapy. J Neurovirol 2012; 18(4): 247-55 5 Schulte-Hermann K et al.: Impaired lipid profile and insulin resistance in a cohort of Austrian HIV patients. J Infect Chemother 2016; 22(4): 248-53 6 Dorner TE et al.: Eight-year trends in cardio-vascular risk factors in people living with HIV: A plea for more person-centered care in this often overlooked ageing population: ICIC 2023. IJIC 2023 7 Dorner TE et al.: Prevalence of dyslipidaemia and diabetes mellitus in people living with HIV and possible association with antiretroviral regimen: an 8 year follow-up study. J Int AIDS Soc 2022; 25(S6): e26009 8 Chaponda M et al.: Systematic review of the prevalence of psychiatric illness and sleep disturbance as co-morbidities of HIV infection in the UK. Int J STD AIDS 2018; 29(7): 704-13 9 Brath H et al.: Prevalence and correlates of smoking and readiness to quit smoking in people living with HIV in Austria and Germany. PLoS One 2016; 11(2): e0150553 10 Grabovac I et al.: Prevalence and associations of illicit drug and polydrug use in people living with HIV in Vienna. Sci Rep 2018; 8(1): 8046 11 Nel A, Kagee A: Common mental health problems and antiretroviral therapy adherence. AIDS Care 2011; 23(11): 1360-5 12 Stockton MA et al.: A scoping review of the role of HIV-related stigma and discrimination in noncommunicable disease care. PLoS One 2018; 13(6): e0199602 13 Annequin M et al., VESPA2 Study Group: Has the employment status of people living with HIV changed since the early 2000s? AIDS 2015; 29(12): 1537-47 14 Martínez-González NA et al.: Integrated care programmes for adults with chronic conditions: a meta-review. Int J Qual Health Care 2014; 26(5): 561-70 15 Cooper V et al.: Which aspects of health care are most valued by people living with HIV in high-income countries? A systematic review. BMC Health Serv Res 2016; 16(1): 677 16 Beichler H et al.: Involvement, perception, and understanding as determinants for patient-physician relationship and their association with adherence: A questionnaire survey among people living with HIV and antiretroviral therapy in Austria. Int J Environ Res Public Health 2022; 19(16): 10314

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