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Selbstverantwortung für ein gesundes Altern mit HIV

Adhärenz-Patient:innensprechstunde in der Klinik Favoriten

Die Adhärenz-Sprechstunde besteht seit etlichen Jahren in der Klinik Favoriten. Dort werden Menschen mit einer HIV-Infektion von mir als HIV-Schwerpunkt-Apothekerin beraten.

Keypoints

  • Menschen mit HIV-Infektion zeigen generell eine schlechtere gesundheitsbezogene Lebensqualität.

  • Die HIV-Sprechstunde ist darauf ausgerichtet, die Lebensqualität jeder Patientin bzw. jedes Patienten zu steigern.

  • In der HIV-Sprechstunde stehen sowohl die physische als auch die emotionale, die mentale sowie die spirituelle Gesundheit im Fokus.

In den letzten Jahren hatte die Adhärenz-Patient:innensprechstunde ihren Schwerpunkt auf ChemSex-Aspekte gelegt, wobei Ansätze und Tools von David Stuart verwendet wurden, die als eine große erste Hilfe in der Beratung von ChemSex-User:innen angesehen wurden. Inzwischen haben sich gut ausgebildete Beratungsstätten mit psychotherapeutischem Behandlungsansatz entwickelt, die diese Beratung übernommen haben.

Derzeit fokussiert die Sprechstunde auf die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit einer ART. Sie sind erfolgreich behandelt, mit einer nicht nachweisbaren Viruslast und einem gestärkten Immunsystem. Doch wie Michael Sabranski in der ELBE-Studie beschrieb, ist die Lebensqualität teilweise verringert durch Symptome wie Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Traurigkeit, Depression oder Veränderungen im körperlichen Erscheinungsbild (z.B. Gewichtszunahme, Hautprobleme).1Dazu kommen Komorbiditäten, insbesondere Herzkreislauferkrankungen. Viele Mensche, die mit einer HIV-Infektion leben (PLHIV), zeigten in der ELBE-Studie eine schlechtere gesundheitsbezogene Lebensqualität („health-related quality of life“; HRQoL) als die allgemeine Bevölkerung, trotz erfolgreicher Behandlung mit ART. Da der Grad der symptombedingten Belastung sehr hoch war, empfiehlt der Autor, die mentale und körperliche Gesundheit als Bestandteil in die laufende HIV-Behandlung zu integrieren.1 Dieses Statement unterstützt die neue Ausrichtung der Patient:innensprechstunde, die darin besteht, die Lebensqualität jeder einzelnen Patientin bzw. jedes einzelnen Patienten individuell zu betrachten und zu steigern, wie es auch UNAIDS als 4. Ziel definierte.2

Was ist Lebensqualität?

Das Konzept der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist ein multidimensionales Konstrukt aus physischen, psychischen, kognitiven, emotionalen, spirituellen und sozialen Faktoren. Dies schließt deutlich mehr ein als lediglich Aussagen zum individuellen Gesundheitszustand. Wesentliche Orientierung ist hierbei die subjektive Wahrnehmung durch die Patientin bzw. den Patienten.3

Die Lebensqualität jeder bzw. jedes Einzelnen kann aber nur gesteigert werden, wenn Menschen ein Gefühl von Selbstverantwortung bezüglich ihrer Gesundheit spüren. Ein erster Schritt ist es deshalb, in Gesprächen deutlich zu machen, dass es an der eigenen Verantwortung liegt, wie gesund man später im Alter erscheint.

Giovanni Guaraldi verdeutlicht mit seiner Arbeit über „fragility“, wie divers das Altern ausfallen kann.4 Während viele ältere PLHIV (OPLWH) eine gute körperliche und geistige Leistungsfähigkeit haben, sind andere gebrechlich und benötigenUnterstützung. Dies liegt an zufälligen Mechanismen des Alterns, aber auch an der Umgebung und den Verhaltensweisen. Starke Raucher:innen, Menschen mit nichtaktiver Lebensweise und solche mit niedrigem sozioökonomischem Status haben ein höheres Risiko für Gebrechlichkeit.4 Des Weiteren unterstützen einige Studien die Annahme eines HIV-bedingt verstärkten Alterungsprozesses und zeigen eine Verbindung von HIV mit chronischen Entzündungen und Immunaktivierung auf.

In der AGEhIV-Studie mit 94 OPLWH mit Viruslast unter der Nachweisgrenze und 95 Kontrollpersonen wurden ein erhöhter sCD14-Wert und eine Aktivierung der CD4+-T-Zellen mit kürzeren Telomeren und vermehrten regulatorischen T-Zellen gefunden. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Immunfunktion trotz wirksamer ART durch das HI-Virus beeinflusst wird. Die Immunaktivierung kann durch Faktoren wie z.B. anhaltende HIV-Virus-Replikation auf niedrigem Niveau (bei wirksamer ART), durch virale Koinfektionen, durch oxidierte Lipide oder durch mikrobielle Translokation beeinflusst werden.5 Diese Studie macht deutlich, dass es generell sinnvoll ist, entzündungshemmende Faktoren in den Alltag zu integrieren, um die Lebensqualität zu erhöhen.

Die Sprechstunde betrachtet viererlei Aspekte der Gesundheit, um auf Verbesserung der Lebensqualität hinzuarbeiten:

  1. Physische Gesundheit: Medikamenteneinnahme, Ernährung, Bewegung, Entspannung

  2. Emotionale Gesundheit: emotionale Regulierung, Kommunikation, soziale Kontakte

  3. Mentale Gesundheit: Denkstil, Bewusstsein, Fokus

  4. Spirituelle Gesundheit: Visionen, das „Warum“ im Leben

1. Physische Gesundheit

Die Beratung hinsichtlich physischer Gesundheit nimmt für mich als Apothekerin den größten Raum ein. Neben dem Interaktions-Check der Medikamente und Supplements werden negative Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsmangel identifiziert.

Hier bieten sich kleine Veränderungen im Ernährungsalltag an, wie z.B. ein grüner Smoothie in der Früh, auf einfache Weise frisch kochen als Alternative zur Fertigsuppe, buntes Gemüse, entzündungshemmende Früchte, wie z.B. Heidelbeeren, oder ein Latte macchiato mit Gewürzen wie Kurkuma bzw. Zitronenwasser mit Ingwer und Gurke. Im Gespräch über die gesunde Ernährung tauchen auch Supplements auf, die Patient:innen im Gespräch mit der Ärztin bzw. dem Arzt nicht erwähnt hätten, weil sie nicht explizit zur Therapie gehören.

Im Wissen um die gesundheitlichen Vorteile von Sport können bei Bewegungsmangel oder Bewegungseinschränkungen Anregungen zur Bewegung motivierend sein, wie z.B. Treppen steigen, Fahrradfahren, Spaziergang mit Hund oder Aktivierung von Hobbys mit physischer Belastung. Interessant wären hier Kooperationen mit Sportmediziner:innen, um auch kranke Menschen zu der richtigen Dosis Sport zu motivieren.5

Des Weiteren sind für manche Patient:innen Mikronährstoffe interessant, um potenziell mangelnde Konzentrationen dieser Nährstoffe aufzufüllen. Die Palette an Mikronährstoffen, die genommen wird, ist groß. Wichtig ist, dass Patient:innen das Interaktionspotenzial mit der ART kennen und für die Auswahl der Supplements Qualitätskriterien an die Hand bekommen. Aber auch ein potenzieller Vitamin-B12-Mangel aufgrund einer langfristigen Einnahme von Medikamenten, wie z.B. eines PPI, wurde letztens erfragt.

Schlafmangel ist ebenfalls ein komplexes Thema und muss mit Fachärzt:innen näheruntersucht werden. Bei leichten Schlafschwierigkeiten sind vielleicht pflanzliche Schlafmittel wie z.B. Baldrian oder Entspannungsübungen wie Achtsamkeitstraining, Yoga, Einschlafmusik oder Meditationen interessant.

Im Zuge der Angst vor Stigmatisierung ist immer wieder mit Patient:innen zu besprechen, welche Fachärzt:innen empfehlenswert sind.

2. Emotionale Gesundheit

Hier geht es um Emotionen, wie sie z.B. bei der täglichen Einnahme der HIV-Medikamente auftreten können, aber auch um Konflikte im Beruf oder Herausforderungen bei der Abgrenzung,um einen stressfreien Alltag zu erleben.

Ein großes Thema sind die sozialen Kontakte und wer von der HIV-Infektion wissen sollte. Hier gibt es viele Modelle, wie man damit umgeht. Jede hat ihre Berechtigung. Mit welchen Menschen fühlt man sich gut und mit welchen nicht?

Ein junger Patient erörterte die Frage, welche Art der Sexualität seiner eigenen Persönlichkeit entspricht. Vor einer ganz besonderen Herausforderung stehen HIV-positive heterosexuelle Männer, die sich eine Partnerschaft wünschen. Hier besteht generell viel Scham und Angst vor Zurückweisung. Wenn Vertrauen aufgebaut ist, wird den Patienten mit komplexeren Themen ein:e Psychotherapeut:in empfohlen.

Freude hilft beim Entspannen. Hier ist es sinnvoll, über Hobbys zu sprechen. Wichtig ist, dass trotz HIV-Infektion Lebensvorstellungen, Träume und Ideen weiter gelebt werden.7

3. Mentale Gesundheit

Fragen zur mentalen Gesundheit und Bewältigungsstrategien spielen eine Rolle in der Sprechstunde. Ein Aspekt ist, wie optimistisch oder pessimistisch die Diagnose aufgenommen wird. Aus der Beratungserfahrung von über 20 Jahren ist diesen Menschen mitzugeben, dass mit einer positiven,annehmenden Einstellung schwierige Situationen leichter gemeistert werden können. Andere Patient:innen setzen sich mit ihren Ängsten auseinander und finden Techniken, dieser Stimme nicht so viel Gehör zu verschaffen. Sie kann man nur bestärken, den Weg weiterzugehen trotz der Angst, die sie spüren und die sie lähmen möchte.

4. Spirituelle Gesundheit

Die Annahme einer HIV-Diagnose ist in meiner Wahrnehmung bei manchen Menschen, vor allem im heterosexuellen Bereich, ein schwieriger Prozess. Hier wird oft auf Beten und Spiritualität zurückgegriffen. Manche Patient:innen schreiben ein Dankbarkeits-Tagebuch, um aus dem negativen angstvollen Gedankenstrudel herauszukommen. Andere nutzen die Natur, um Kraft zu schöpfen. Es werden Menschen gesucht, die den Weg,„HIV-positiv zu sein“, schon gegangen sind, um aus deren Erfahrungen den eigenen Weg zu finden. Andere nutzen ihren Weg, um ein Vorbild für andere zu werden.

Die Autorin dankt der Firma Gilead für die Unterstützung der Adhärenz-Sprechstunde „Patinka“ in der Klinik Favoriten, Wien.

Machen Sie mit!

Um ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse unserer Patient:innen zu erlangen, ihre Lebensqualität zu erfassen und damit neue Versorgungsmodelle zu entwickeln, bin ich auf der Suche nach Zentren, die ihren Patient:innen einen Fragebogen zur Lebensqualität inklusive Bewegung, Ernährung und mentaler Gesundheit zur Verfügung stellen würden. Dieser Fragebogen wird zentral ausgewertet.

Bei Interesse melden Sie sich bitte unter: lme@patinka.info

1 Sabranski M et al.: Physical and mental health in HIV-infected patients with virological success and long-term exposure to antiretroviral therapy. AIDS Care 2021; 33: 453-61 2 United Nations Secretary: General calls for a greater focus on ending inequalities to end AIDS. www.unaids.org/en/resources/presscentre/pressreleaseandstatementarchive/2021/april/20210430_unsg-report-ending-aids ; zuletzt aufgerufen am 9.10.2023 3 Robert-Koch-Institut: www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/G/Gesundheitsbezogene_Lebensqualitaet/Gesundheitsbezogene_Lebensqualitaet_node.html ; zuletzt aufgerufen am 9.10.2023 4 Guaraldi G et al.: Altern von Menschen mit HIV. InXFo Newsletter Juli 2023 5 Cobos JV et al.: T-Cell activation independently associates with immune senescence in hiv-infected recipients of long-term antiretroviral treatment. J Infect Dis 2016; 214: 216-25 6 Lopez J et al.: The effect of exercise training on disease progression, fitness, quality of life, and mental health in people living with HIV on antiretroviral therapy: a systematic review. J Clin Transl Res 2015; 30; 1: 129-39 7 Kohl M: Power auf Dauer: Das Geheimnis für mehr Energie, Achtsamkeit und Erfolg. Wiley Verlag 2019; ISBN: 978-3-527-50980-5

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