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Fehlgeburt: viele Missverständnisse

Eine von sieben Schwangerschaften endet mit einer Fehlgeburt. Kürzlich sind drei „Lancet“-Artikel zu dem Thema erschienen. Die Wissenschafter plädieren für ein stufenweises Vorgehen, um den Betroffenen je nach Anzahl der Fehlgeburten individuell am besten helfen zu können.

Rund um das Thema Fehlgeburt würden viele Missverständnisse existieren, kritisierte kürzlich eine internationale Forschergruppe in der Fachzeitschrift „Lancet“:1–3 Fehlgeburten seien selten, sie entstünden durch Heben schwerer Gegenstände oder weil die Frau die Pille genommen habe, und man könne sie gar nicht verhindern. Als Konsequenz würden die betroffenen Frauen oft meinen, sie seien selbst schuld an der Fehlgeburt, und sie erzählen weder Familie noch Freunden davon.

Der Fachzeitschrift war das Thema so wichtig, dass sie die Autoren drei Artikel darüber hat schreiben lassen. „Ich finde es gut, dass ‹Lancet› das Thema so in den Vordergrund gestellt hat“, sagt Prof. Dr. Kurt Hecher, Direktor des Zentrums für Geburtshilfe, Kinder- und Jugendmedizin in der Universitätsklinik Hamburg und seit 35 Jahren Geburtshelfer. „Viel zu lange wurden Fehlgeburten oftmals einfach so hingenommen und es fand zu wenig psychologische Aufarbeitung statt. Was das für ein Trauma für die Frau sein kann, hat manch ein Kollege nicht realisiert.“ Oft wäre den Frauen gesagt worden, der Embryo sei doch noch gar kein richtiges Kind und es habe sicherlich einen Chromosomenschaden gehabt und hätte sowieso nicht lange gelebt. „Dass den Frauen so wenig Empathie entgegengebracht wurde, könne auch mit daran gelegen haben, dass ein Großteil der Geburtshelfer Männer waren und dass das Thema in der Ausbildung nicht genügend thematisiert wurde“, sagt Hecher.

Risiken und Folgen

Fehlgeburt bedeutet definitionsgemäß, dass eine Schwangere ihr Kind vor der 22. Schwangerschaftswoche verliert. Ab der zweiten oder dritten spricht man von einer wiederholten Fehlgeburt. Im ersten der drei Artikel1 haben die Autoren 9 Studien aus Europa und den USA mit insgesamt 4638974 Schwangerschaften analysiert. Knapp jede siebente Schwangerschaft endete in einer Fehlgeburt. Der größte Risikofaktor war das Alter der Frau. Mit über 40 Jahren war die Wahrscheinlichkeit fast 6-mal so hoch. Das liegt vor allem daran, dass mit zunehmendem Alter häufiger Chromosomenstörungen auftreten. Als weitere Risikofaktoren fanden die Forscher unter anderem einen höheren Body-Mass-Index, Rauchen, zu viel Alkohol, Nachtschichten, Krankheiten wie eine latente Hypothyreose, Antiphospholipid-Antikörper, die das Blut leichter gerinnen lassen, anatomische Veränderungen der Gebärmutter oder Infektionen mit Chlamydien oder Herpesviren. Auch ein Alter des Vaters über 40 ging mit einem erhöhten Risiko einher.

<< Der Lebensstil ist nur eine von vielen möglichen Ursachen.>>
K. Hecher, Hamburg

Fehlgeburten können mit diversen Komplikationen einhergehen, etwa Verletzungen von Gebärmutterhals oder Gebärmutterhöhle durch wiederholte Kürettagen. In den Folgeschwangerschaften kann es zu Plazentaproblemen wie vorzeitiger Plazentalösung oder Placenta praevia und zu uterinen Infektionen kommen. Babys können früh oder mit einem zu geringen Gewicht auf die Welt kommen.

Auch langfristig können sich Fehlgeburten auf die Gesundheit der Frau auswirken. So waren Fehlgeburten in der Auswertung der Forscher mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Krankheiten, venöse Thromboembolien und psychische Traumata, etwa posttraumatische Belastungsstörung, Angststörungen oder Depressionen, assoziiert.

Die Unterscheidung zwischen früher (vor der 12. Woche) und später Fehlgeburt (12.–22. Woche) mag für die Eltern völlig egal sein, sagt Dr. Markus Hodel, Chefarzt Geburtshilfe und Fetomaternale Medizin im Kantonsspital Luzern. „Aber die Trennung ist wichtig, denn Ursachen und Behandlung sind völlig unterschiedlich.“

Bei einer frühen Fehlgeburt kommt es zu Störungen der Entwicklung des Embryos, die mit dem Leben nicht vereinbar sind. Der Uterus zieht sich zusammen, es kommt zu einer Abbruchblutung und das kleine Lebewesen wird geboren.

Nur etwa 2–3 von 100 Fehlgeburten passieren in der späten Schwangerschaft. Dies liegt dann häufig an maternalen Problemen, beispielsweise einer Plazenta- oder Zervixinsuffizienz, oder an Krankheiten wie Diabetes, Hypertonie oder Nierenschäden. Zeichen für eine drohende späte Fehlgeburt sind Wehenschmerzen, sehr starke Blutungen mit Blutklumpen und der Verlust von Fruchtwasser.

Empathie gefragt

Die Situation sei jedes Mal furchtbar, sagt Hodel. „Ich weiß, ich muss zu dem Zeitpunkt ein schlagendes Herz erkennen können, aber ich sehe keines. Die Frau schaut mich erwartungsvoll an und will von mir natürlich hören, dass alles in Ordnung ist. Ich versuche, optimistisch zu sein: Vielleicht ist es noch zu früh und kein Herzschlag zu erkennen, weil sich die Frau nicht richtig an den Empfängnistermin erinnern konnte?“ Immer bestellt er die Frau nach ein paar Tagen nochmals zu einem Ultraschall ein. Ist auch dann kein schlagendes Herz zu sehen, erklärt er so einfühlsam wie möglich der Frau das schreckliche Ereignis. „Im ersten Moment kann die Frau das gar nicht annehmen und es kommt sehr schnell die Frage nach dem Warum.“

Frauenarzt Hecher aus Hamburg möchte den Frauen zuallererst das Gefühl nehmen, sie seien schuld an der Fehlgeburt. „Viele machen sich große Vorwürfe, sie hätten sich falsch verhalten oder ungesund gelebt. Der Lebensstil ist aber nur eine von vielen möglichen Ursachen. Selbst wenn die Frau geraucht hat, kann man sich fragen: War wirklich das Rauchen schuld oder hatte das Kind vielleicht zusätzlich einen Chromosomenschaden?“

<< Im ersten Moment kann die Frau das gar nicht annehmen und es kommt sehr schnell die Frage nach dem Warum.>>
M. Hodel, Luzern

Fehlgeburten seien leider immer noch ein Tabuthema, sagt Barbara Stocker Kalberer, Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbandes, die seit mehr als 20 Jahren als Hebamme arbeitet. „Ich wünschte, die Betroffenen könnten offen darüber reden und die Gesellschaft würde nicht so tun, als sei eine Fehlgeburt etwas, was eben mal so passiert.“

Bei einer späten Fehlgeburt muss die Frau das Kind gebären. Danach ist fast immer eine Ausschabung notwendig, um Reste des Embryos und der Plazenta zu entfernen.

Mehr Optionen haben Frauen mit früher Fehlgeburt. Sie können entweder abwarten, bis sie den toten Embryo von alleine gebären, was sich als starke Periodenblutung nach einigen Tagen bis Wochen äußert. Schneller geht es, wenn man dies medikamentös einleitet. Abwarten und Medikamente sind allerdings in bestimmten Fällen nicht möglich, etwa wenn die Frau unter Anämie leidet oder Fieber hat, was auf eine Infektion hinweist. Eine dritte Alternative ist die Ausschabung in Voll- oder Teilnarkose. Manche Frauen fänden es erleichternd, zu wissen, wann genau die Fehlgeburt „vorbei“ ist, um nach vorne blicken zu können, sagt Hodel.

Nach dem Schock über den Tod ihres Kindes brauchen die Eltern Zeit, um Abschied zu nehmen. Hat das geborene Kind schon eine gewisse Größe, schlägt Hebamme Stocker Kalberer den Eltern immer vor, Fotos zu machen. „Das schafft Erinnerungen und hilft, das schreckliche Ereignis zu verarbeiten.“

Prävention

In dem zweiten „Lancet“-Artikel2 haben die Autoren die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Diagnose, Prävention und Therapie von Spontanaborten zusammengefasst. So beschreiben sie zum Beispiel konkret, bei welchen Zeichen im Ultraschall eine Fehlgeburt sehr wahrscheinlich ist und dass man eine drohende Fehlgeburt – erkennbar an Blutungen in der frühen Schwangerschaft – mit Progesteron zu verhindern versuchen kann.

Der dritte Artikel3 handelt von einem Thema, das Geburtshelfer im deutschsprachigen Raum aktuell beschäftigt: welche Abklärungen nach einer Fehlgeburt zu empfehlen sind. Die Autoren schlagen ein stufenweises Vorgehen vor. Nach der ersten Fehlgeburt sollte die Frau informiert werden, wie sie ihre körperliche und seelische Gesundheit für eine nächste Schwangerschaft optimieren kann. Das beinhaltet zum Beispiel Kurse für eine gesunde Psyche, zum Abnehmen oder zum Rauchstopp, aber auch Diabetes- und Blutdruckabklärung und -einstellung durch den Arzt. Nach zwei Fehlgeburten empfehlen die Autoren Tests der Schilddrüsenfunktion und eine Analyse der Blutzellen. Nach der dritten sollte dann eine ausführliche Abklärung erfolgen: genetische Tests, Bluttests auf Antiphospholipid-Antikörper und Ultraschall.

<< Ich wünschte, die Betroffenen könnten offen darüber reden.>>
B. Stocker Kalberer, Strengelbach

„Ich finde dieses stufenweise Vorgehen sehr sinnvoll“, sagt Prof. Dr. Michael von Wolff, Chefarzt Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin am Inselspital Bern. „Es ist nicht notwendig, schon nach der ersten Fehlgeburt das volle Abklärungsprogramm zu starten.“ Zusammen mit Kollegen aus Deutschland und Österreich schreibt er gerade die neue Leitlinie zur frühen Fehlgeburt. Manche der anderen Autoren würden schon nach der zweiten Fehlgeburt eine ausführliche Testung fordern, erzählt er. „Zwei Fehlgeburten können aber noch zufällig sein. Wir dürfen nicht vergessen, dass bei jeder genetischen Testung Auffälligkeiten gefunden werden können, die mit den Aborten möglicherweise gar nichts zu tun haben. Dies kann das Paar unnötig belasten.“

1 Quenby S et al.: Lancet 2021; 397: 1658-67 2 Coomarasamy A et al.: Lancet 2021; 397: 1668-74 3 Coomarasamy A et al.: Lancet 2021; 397: 1675-82

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