
Einsatz von Botulinumtoxin in der Frauenheilkunde
Autorin:
Univ.-Prof. Dr. Barbara Bodner-Adler, MBA, MSc.
Leiterin der Ambulanz für Urogynäkologie & Beckenbodenchirugie
Abteilung für Allgemeine Gynäkologie und gynäkologische Onkologie
Universitätsklinik für Frauenheilkunde
Medizinische Universität Wien
Seit 2011 ist Botulinumtoxin-A (Botox®) von der Food and Drug Administration und der Europäischen Arzneimittel-Agentur für die Behandlung der neurogenen (Querschnitt, MS) und seit 2013 der idiopathischen Detrusorüberaktivität zugelassen.
Historischer Abriss
Botulinumtoxin-A wurde erstmals 1822 vom deutschen Amtsarzt Kerner beschrieben, es fiel damals im Rahmen von 155 Fällen von Wurstvergiftungen auf. 1870 wurde diese Art der Vergiftung von Müller als „Botulismus“ bezeichnet und 1895 konnte der Mikrobiologe Van Ermengem den dafür verantwortlichen Erreger identifizieren.
Definition überaktive Blase/ „overactive bladder“ (OAB)
Die überaktive Blase (OAB, für engl. „overactive bladder syndrome“) ist definiert als schwer unterdrückbarer, imperativer Harndrang, der typischerweise von Frequency und Nykturie begleitet wird (ICS 2002). Bei Auftreten von Inkontinenz spricht man von OAB „wet“, ansonsten von OAB „dry“. Eine idiopathische OAB liegt erst nach Ausschluss oder Therapie von Erkrankungen vor, die OAB-ähnliche Symptome verursachen können. Von therapierefraktärer OAB sprechen wir bei ausbleibender oder unzureichender Besserung trotz ausgeschöpfter medikamentöser Therapie mit Anticholinergika oder Beta-3-Sympathomimetika, Verhaltenstherapie und physikalischen Therapien, bei nicht tolerierbaren medikamentösen Nebenwirkungen oder Kontraindikationen für die medikamentöse Therapie.
Botulinumtoxin-A (Botox®)
Botulinumtoxin ist ein Sammelbegriff für mehrere sehr ähnliche neurotoxische Proteine. Es ist das potenteste natürliche Gift und wird vom Bakterium Clostridium botulinum unter Sauerstoffabschluss gebildet.
Wirkungsmechanismus
Botulinumtoxin hemmt die Erregungsübertragung von Nervenzellen auf andere Zellen, wobei die betroffenen Nervenendigungen kein Acetylcholin mehr freisetzen können. Besonders betroffen sind die Synapsen der Muskelzellen mit dem Ziel der vorübergehenden Muskelschwäche bis Lähmung (reversibler Chemodenervierungsprozess an der Harnblase). Aus dem Wirkungsmechanismus ergeben sich die klassischen Indikationen für den Einsatz von Onabotulinumtoxin (Botox®).
Indikationen
Indikationen für den Einsatz von Botulinumtoxin umfassen:
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therapieresistente OAB mit urodynamisch nachgewiesener Detrusorüberaktivität
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therapieresistente hypersensible, hypokapazitive Harnblase mit persistierender Frequency und Nykturie
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Behandlung der Harninkontinenz infolge neurogener Detrusorhyperaktivität in Zusammenhang mit einer neurologischen Erkrankung (wie z.B. Rücken-marksverletzung, Multiple Sklerose) bei Erwachsenen
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nicht tolerierbare Anticholinergika-bedingte Nebenwirkungen
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Kontraindikationen einer Anticholinergikatherapie
Kontraindikationen für eine Onabotulinumtoxin-Behandlung:
Folgende Punkte stellen eine Kontraindikation für den Einsatz von Botulinumtoxin dar:
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bekannte Überempfindlichkeit gegenüber Botulinumtoxin Typ A oder einem der Hilfsstoffe
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unbehandelter florider Harnwegsinfekt
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akute Harnretention, die nicht routinemäßig katheterisiert wird
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wenn Patientinnen nicht in der Lage sind, gegebenenfalls nach der Behandlung einen Katheter zu verwenden
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Radiozystitis
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maligne Blasentumoren
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Schwangerschaft und Stillzeit
Weltweit existieren 6 verschiedene Botulinumtoxin-A-Präparate, welche nicht bioäquivalent und in unterschiedliche Dosierungen vorhanden sind. Seit über 10 Jahren ist das Präparat Botox® für die neurogene und idiopathische DÜA zugelassen. Trotz des langjährigen Einsatzes gibt es nach wie vor kein standardisiertes Vorgehen in Bezug auf die
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Dosierung (50–200U),
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Verdünnung (1–50ml),
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Anzahl der Injektionspunkte (Anzahl 10–30),
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Injektionstiefe (submukosal – intramuskulär),
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Injektionsstelle (Aussparung des Trigonums/mit Trigonum)
Effektivität & Erfolgsraten
Effektivität und Erfolg sind wissenschaftlich gut belegt, es liegen dazu zahlreiche Studien vor. Für die idiopathische OAB liegen die Erfolgsraten – gemessen an der Reduktion von Inkontinenzepisoden – bei 67 bis 100%. Zur Wirkdauer finden sich in der Literatur unterschiedliche Angaben vfon 6 bis 11 Monaten, wobei im klinischen Alltag allfällige Reinjektionen erst nach etwa 1 1⁄2 Jahren indiziert werden. Re-Injektionen sollten prinzipiell frühestens nach drei Monaten erfolgen, um die Antikörperbildung möglichst gering zu halten.
Dosierung
In einer Dosisfindungsstudie von Brubaker et al. wurden 50, 100, 150, 200 und 300 Units an Onabotulinumtoxin-A bei der idiopathischen OAB gegen Placebo verglichen. Die Daten zeigten eine dosisabhängige Wirkung, wobei allerdings Dosierungen mit Einheiten >150U lediglich mit einer erhöhten Restharnmenge ohne klinisch relevanten Vorteil verbunden waren.
Lokalisation
Immer wieder für Diskussionen sorgt die Lokalisation der Injektion mit der Frage, ob das Trigonum ausgespart werden sollte oder nicht. Eine 2020 publizierte randomisiert kontrollierte Studie (RCT) verglich die Effizienz und Sicherheit zwischen „trigone-involved“ zu „trigone-sparing“ Botox-Injektionen bei Patientinnen mit therapierefraktäter OAB. 103 Patientinnen wurden mit 100U Botox behandelt (52 ohne Trigonum-Injektion und 51 mit Trigonum-Injektion). Die Ergebnisse zeigten keinen Unterschied bezüglich der OAB-Symptome zwischen den beiden Gruppen. Auch ein vesikourethraler Reflux (VUR) konnte nicht nachgewiesen werden.
Injektionstechnik
Die ursprüngliche Injektionstechnik beschreibt die Injektion in den M. detrusor. Einige Studien beschäftigen sich mit der Frage, ob eine suburotheliale Injektion eine vergleichbare Wirkung haben könnte. Kuo et al. verglichen dazu Injektionen in den M. detrusor, suburothelial und in die Blasenbasis. Nach 3 Monaten zeigte sich in allen 3 Gruppen ein ähnlicher therapeutischer Effekt.
Fazit
Bei der überaktiven Blase (OAB) handelt es sich um einen Symptomenkomplex bestehend aus imperativem Harndrang mit oder ohne Inkontinenz, Nykturie und erhöhter Miktionsfrequenz, wobei die idiopathische Form eine Ausschlussdiagnose (nach Ausschluss bestimmter Erkrankungen) ist. In der Therapieplanung der OAB ist eine Stufentherapie vorgesehen, womit Botox 100U erst als Dritt- oder Viert-Linientherapie bei therapieresistenter OAB genannt wird. Postinterventionell ist mindestens ein Drittel der Patienten komplett kontinent und bei 60% kommt es zu einer Reduktion der Beschwerden um mindestens 50%. Die Wirkdauer wird mit sechs bis neun Monaten angegeben. Eine Aufklärung über eine mögliche Notwendigkeit des intermittierenden Selbstkatheterismus (ISK) sowie Restharn(RH)-Kontrollen 2 Wochen nach dem Eingriff sind obligat.
Zusammengefasst ist zu beachten, dass die Interpretation aller Studien und Daten immer mit dem Wissen erfolgen sollte, dass ihnen oft unterschiedliche Kollektive, Dosierungen, Injektionsorte, Outcomeparameter etc. zugrunde liegen. Mangelnde bis fehlende Evidenz liegt nach wie vor in den Bereichen Langzeit-Outcome mit „Quality of Life“ (QoL), Langzeitkomplikationen, optimale Dosierung und optimale Injektionstechnik vor.
Literatur:
bei der Verfasserin