
Präzisionsernährung als Zukunftsmodell
Autoren:
Dr. Georg Semmler1
Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Datz2
1 Klinische Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie
Universitätsklinik für Innere Medizin III Medizinische Universität Wien
2 Abteilung für Innere Medizin
A.Ö. Krankenhaus Oberndorf
Lehrkrankenhaus der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg
Korrespondenz:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Datz
E-Mail: c.datz@kh-oberndorf.at
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Die sogenannte „Präzisionsernährung“ ist ein aufstrebendes Teilgebiet der Ernährungsmedizin, welches versucht, die Komplexität der Ernährung durch umfassendes Verständnis der Interaktionen mit der Genetik, dem Mikrobiom, aber auch individuellen Charakteristiken aufzuschlüsseln. Hier zeigt sich immer häufiger, dass etablierte Ernährungskonzepte im Sinne von „one size fits all“ zu hinterfragen sind, da sie relevante interindividuelle Unterschiede außer Acht lassen. Wir stellen rezente Studien vor, die versuchen, diese Unterschiede zu beschreiben, zu erklären und basierend darauf Visionen für personalisierte Ansätze in der Ernährungsmedizin zu liefern.
Keypoints
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Die „Präzisionsernährung“ versucht den Zusammenhang zwischen Ernährung und Genetik, Ernährungsgewohnheiten, dem zirkadianen Rhythmus, sozioökonomischen und psychosozialen Aspekten, der körperlichen Aktivität, aber auch dem Mikrobiom zu verstehen.
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Zwischen einzelnen Individuen gibt deutliche Unterschiede im Glukosespiegel nach Einnahme der selben Mahlzeit.
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Bei einigen Individuen konnte man einen starken Zusammenhang zwischen dem Kohlenhydratgehalt bzw. dem Fettgehalt der Mahlzeit und dem postprandialen Glukosespiegel nachweisen, bei anderen zeigte sich dieser Zusammenhang nicht.
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Individuelle Unterschiede und hier besonders das Mikrobiom sind dafür verantwortlich, wie sich der Glukosespiegel nach dem Verzehr einer bestimmten Art von Brot verhält.
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Die Zusammensetzung einer Mahlzeit ist maßgeblich für den Glukoseresponse verantwortlich, kaum jedoch für die Höhe der Triglyceride oder des Insulins.
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Auch der Zeitpunkt der Mahlzeit, körperliche Aktivität sowie Schlaf sind für den Glukosespiegel relevant.
Uns wurde klar, dass wir nicht die Lebensmittel einstufen sollten, sondern die Personen, die sie essen.“ Dieses Zitat von Eran Elinav vom Weizmann-Institut (Israel) fasst die Herausforderung, vor der die Ernährungsmedizin derzeit steht, prägnant zusammen: Obwohl bekannt zu sein scheint, was als „gesunde Ernährung“ einzustufen ist, existieren individuelle Unterschiede in deren Verstoffwechslung, die sich in heterogenen Studienergebnissen widerspiegeln. Dies verkompliziert Ernährungsinterventionsstudien zusätzlich, die derzeit schon damit kämpfen, dass sie mehrere Jahre in Anspruch nehmen, die Patientenadhärenz oft unzureichend ist, adäquate Messinstrumente zur Evaluierung der Ernährung fehlenund das finanzielle Interesse der Industrie überschaubar bleibt.
Die möglicherweise größte Hürde scheint aber auch hier zu sein, dass Ernährung untrennbar mit einem Individuum verbunden ist und Verflechtungen mit dem Lebensstil oder beispielsweise der sozioökonomischen Herkunft kaum aufzulösen sind. Ebendieser Herausforderung stellt sich die „Präzisionsernährung“, welche nicht versucht, Ernährung isoliert zu betrachten, sondern ihren Konnex mit Genetik, Ernährungsgewohnheiten, dem zirkadianen Rhythmus, sozioökonomischen und psychosozialen Aspekten, der körperlichen Aktivität, aber auch dem Mikrobiom zu verstehen.1 Dadurch sollen Unterschiede zwischen Individuen erklärbar gemacht werden,und so soll eine personalisierte Herangehensweise ermöglicht werden. Wir möchten in weiterer Folge exemplarisch vier wegweisende Studien auf dem Gebiet der Präzisionsernährung vorstellen.
Hohe Variabilität in der Verstoffwechslung identer Mahlzeiten
David Zeevi und Kollegen legten 2015 einen Grundstein für die Präzisionsernährung, indem sie erstmalig und eindrucksvoll anhand des postprandialen Glukosespiegels interindividuelle Unterschiede aufzeigten.2 Dabei wurde bei 800 Erwachsenen über sieben Tage ein kontinuierliches Glukosemonitoring betrieben, um die individuelle Verstoffwechslung von >46000 Mahlzeiten und rund 5000 Standardmahlzeiten zu messen. Während der Glukosespiegel (gemessen als Fläche unter der Kurve des kontinuierlichen Glukosemonitorings) bei derselben Person zu derselben Mahlzeit sehr ähnlich war, fanden sich deutliche Unterschiede nach identen Mahlzeiten zwischen einzelnen Individuen. Während der bloße Kohlenhydratgehalt oder der Kaloriengehalt der Mahlzeit diese individuelle Glukoseantwort nur ungenau vorhersagen konnte, erreichte ein Algorithmus basierend auf 137 Parametern (bezogen auf die Mahlzeit selbst, aber auch [körperliche] Aktivität, Laborparameter, Lebensstilaspekte und Mikrobiom-Charakteristika) eine hohe Vorhersagekraft. Zusätzlich zeigte sich folgender interessanter Aspekt: Während bei einigen Individuen ein starker Zusammenhang zwischen dem Kohlenhydratgehalt der Mahlzeit und dem postprandialen Glukosespiegel bestand (sog. „kohlenhydratsensitive“ Personen), gab es andere, bei denen kein Zusammenhang bestand („kohlenhydratinsensitiv“), bei denen die Höhe des Glukosespiegels (Anstieg/Abfall) somit nicht mit dem Kohlenhydratgehalt der Mahlzeit korrelierte. Ähnliches war bezüglich des Fettgehalts der jeweiligen Mahlzeit festzustellen, welcher entweder einen negativen Einfluss hatte (höherer Fettgehalt → flachere Glukosekurve) oder keine Rolle spielte.
Möglicherweise am erstaunlichsten war jedoch die „Validierung“ des beschriebenen Algorithmus: 26 weitere Individuen wurden erneut über eine Woche charakterisiert und ihre postprandialen Glukosespiegel wurden gemessen. Abgeleitet von diesen Ergebnissen erhielten die Probanden nun einen individuell zusammengestellten Ernährungsplan, entweder basierend auf dem Algorithmus oder auf Empfehlungen eines Ernährungswissenschaftlers. Es fand sich eine signifikant „bessere“ Glukoseantwort, gemessen anhand von flacheren postprandialen Glukosespiegeln mit deutlich weniger Glukosespitzen, wenn diese Mahlzeiten anhand des Algorithmus zusammengestellt wurden. Dies verdeutlicht die Individualität, mit der jeder Einzelne auf Mahlzeiten reagiert. Gleichzeitig unterstreicht es aber auch das Potenzial, das von personalisierten Ernährungsprogrammen zur Behandlung beispielsweise des Diabetes mellitusTyp 2, aber auch der Fettleber (Stichwort: Insulinresistenz) ausgeht.3
Individuelle Unterschiede bei Vollkornbrot oder Weißbrot
Eine Folgestudie von Tal Korem et al. untersuchte 2017 die Verstoffwechslung von Vollkornbrot oder Weißbrot an 20 gesunden Erwachsenen.4 Diese erhielten randomisiert nacheinander über jeweils eine Woche entweder Vollkornbrot oder Weißbrot, wobei zwei Wochen Pause dazwischen lagen. Der Metabolismus sowie der Glukosespiegel wurden erneut (kontinuierlich) gemessen. Obwohl die kurze Dauer der Intervention kritisch betrachtet werden muss, fanden sich keine Unterschiede in Hinblick auf metabolische Parameter wie die Nüchternglukose oder die orale Glukosetoleranz (OGTT)nach Konsumation der einen oder anderen Brotart über jeweils eine Woche:
Während ungefähr die Hälfte der Teilnehmer mit höheren Blutzuckerwerten auf Weißbrot reagierte, hatte die andere Hälfte höhere Werte nach Vollkornbrot. Dass diese Variabilität deutlich größer war als die Variabilität zwischen den Individuen nach reinen 75g Glukose (=OGTT)bestätigte die Individualität der Glukoseantwort auf die jeweilige Art von Brot. Interessanterweise zeigte sich auch, dass der individuelle Glukosespiegel diesmal lediglich anhand des Mikrobioms verlässlich und genau vorhergesagt werden konnte. Insgesamt suggeriert diese Studie somit, dass individuelle Unterschiede, besonders im Hinblick auf das Mikrobiom, dafür verantwortlich sind, wie sich der Glukosespiegel nach Verzehr einer bestimmten Art von Brot verhält, jedoch nicht pauschal eine Art von Brot für jedermann empfohlen werden kann.
Lebensstilfaktoren modifizieren den Einfluss der Ernährung
Dass vor allem sogenannte „Lebensstilfaktoren“ den Effekt von Ernährung modifizieren, zeigte eine andere, 2020 in „Nature Medicine“ publizierte Studie von Sarah Berry und Kollegen.5 In dieser Studie, die eine Analyse der REDICT1-Studie darstellt, wurden 1002 Individuen extensiv metabolisch, genetisch, anthropometrisch und in Hinblick auf ihr Mikrobiom charakterisiert und ihre individuelle Verstoffwechslung verschiedenster Mahlzeiten bzw. Nahrungsreize untersucht (2/3 der Kohorte waren Zwillinge). Nach Einnahme von standardisierten Mahlzeiten konnte die hohe Variabilität der Verstoffwechslung neben der Glukose auch bezüglich des Triglyzeridspiegels und des Insulins (C-Peptid) bestätigt werden. Während hier genetische Faktoren rund 50% der Varianz im Glukosespiegel erklärten, war deren erklärender Anteil für die Insulinspiegel deutlich geringer und für die Triglyzeridspiegel irrelevant. Interessanterweise war die Zusammensetzung der Mahlzeit (in Hinblick auf die Makronährstoffe) maßgeblich für die Glukoseresponse verantwortlich, kaum jedoch für die Höhe der Triglyzeride oder des Insulins. Weiters waren besonders Lebensstilfaktoren wie der Zeitpunkt der Mahlzeit, körperliche Aktivität sowie Schlaf relevant (=erklärend) für den Glukosespiegel – in einem ähnlichen Ausmaß wie die Zusammensetzung der Mahlzeit selbst (Makronährstoffe). Dass der Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme per se relevant zu sein scheint, bestätigte sich durch rund 2x höhere Glukosespiegel nach einer identen Mahlzeit, wenn diese zu Mittag eingenommen wurde im Vergleich zum Frühstück.
Besonders erwähnenswert ist hier grundsätzlich die Herangehensweise der PREDICT-Studien, welche die Patienten zuerst in einem kontrollierten stationären Setting untersuchen, dann jedoch über zwei Wochen die Verstoffwechslung von Standardmahlzeiten mittels kontinuierlichen Glukosemonitorings, aber auch Trockenbluttests (Triglyzerid, C-Peptid) zu Hause aufzeichnen, nebst der Dokumentation der Ernährung und des Lebensstils über eine eigene App (siehe: https://joinzoe.com/whitepapers/the-predict-program ). Welches Potenzial in solch einer Herangehensweise steckt, verdeutlicht die Qualität der Publikationen, jedoch auch die eingeworbene Fördermenge des Sponsors dieser Studien (ZOE Global, >80 Millionen USD innerhalb der letzten Jahre).
Mikrobiom – Einflüsse auf die Ernährung
Eine zweite Analyse der PREDICT1-Studie konzentrierte sich auf die Interaktionen der Nahrungsaufnahme mit dem Mikrobiom.6 Neben interessanten Aufschlüssen zum Mikrobiom per se (ausgeprägte Resilienz über die Zeit, jedoch auch relevante Unterschiede beiZwillingspaaren, eindeutige Assoziationen mit metabolischer Dysfunktion) konnten u.a. der Zusammenhang des Mikrobioms mit speziellen Nahrungsmitteln (vor allem Kaffee, Nüsse und Fleisch) gezeigt werden, welche eine gewisse Signatur hinterlassen. Ähnliche Zusammenhänge konnten für allgemeine Indikatoren gesunder Ernährung (erhoben anhand ausgewählter Indizes) bestätigt werden, wobei ein besonders starker Zusammenhang mit Indikatoren für vegetarische gesunde bzw. ungesunde Lebensmittel existierte. Abschließend postulierten die Autoren klare Unterschiede zwischen sogenannten „gesunden“ bzw. „ungesunden“ Mikrobiom-Signaturen (=Zusammensetzungen), welche die Relevanz dieses „Organismus“ in unserem Körper unterstreichen.
Fazit
Die vorgestellten Studien legen eindrucksvoll nahe, dass bisher gültige Ernährungsempfehlungen im Sinne von „one size fits all“ nicht das Potenzial ausschöpfen, das Ernährung tatsächlich hat, da individuelle Unterschiede eindeutig und signifikant beeinflussen, wie sich diese Empfehlungen auf den Einzelnen auswirken. Es gilt also als hehres Ziel der nächsten Jahre, diese Unterschiede besser verstehen zu lernen und sie im Sinne einer personalisierten Medizin bestmöglich zu berücksichtigen.Womöglich kann dadurch erreicht werden, dass Ernährung tatsächlich als Medizin für den Menschen genutzt werden kann.
Literatur:
1 National Institutes of Health: 2020–2030 strategic plan for NIH nutrition research – a report of the NIH nutrition research task force. https://dpcpsi.nih.gov/sites/default/files/2020NutritionStrategicPlan_508.pdf ; zuletzt aufgerufen am 5.8.2022 2 Zeevi D et al.: Personalized nutrition by prediction of glycemic responses. Cell 2015; 163(5): 1079-94 3 Semmler G et al.: Diet and exercise in NAFLD/NASH: beyond the obvious. Liver Int 2021; 41(10): 2249-68 4 Korem T et al.: Bread affects clinical parameters and induces gut microbiome-associated personal glycemic responses. Cell Metab 2017; 25(6): 1243-53.e5 5 Berry SE et al.: Human postprandial responses to food and potential for precision nutrition. Nat Med 2020; 26(6): 964-73 6 Asnicar F et al.: Microbiome connections with host metabolism and habitual diet from 1,098 deeply phenotyped individuals. Nat Med 2021; 27(2): 321-32