
Pflegebedürftige Menschen mit herausforderndem Verhalten

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Der Fortschritt in der Medizin ermöglich heute vielen Menschen, ein hohes Alter zu erreichen. Sie sind aber nicht nur älter, sondern dadurch bedingt auch multimorbider, öfter bzw. schwerer dement und psychisch krank. Damit einhergehend zeigt sich ein in alltäglichen Situationen herausforderndes Verhalten, das von Mitmenschen als störend empfunden wird und mit dem nur schwer umzugehen ist. Der Pflege- und Betreuungsaufwand wird dadurch für das häusliche Umfeld, für Familie, Angehörige oder die 24-Stunden-Pflege oft nicht mehr tragbar, wie Dr. Brigitte Fuchs-Nieder, Fachärztin für Psychiatrie, Neurologie und psychotherapeutische Medizin mit drei Jahrzehnten Erfahrung im Bereich Alterspsychiatrie, weiß. Ihren geplanten Vortrag am StAfAM-Kongress 2021 zu diesem Thema konnte sie aus den bekannten Gründen nicht halten – sie hat sich jedoch bereit erklärt, ihre Präsentation für ALLGEMEINE+ aufzubereiten.
Herausforderndes Verhalten – der „schwierige“ Patient
Besonders bei Menschen mit Demenz sind Verhaltensauffälligkeiten zu beobachten. Ob Schlafstörungen, Tag-Nacht-Umkehr, Herumwandern, Schreien, Summen, das ständige Wiederholen von Phrasen, Apathie, Rückzug, Depressionen, Ängste, Vergesslichkeit oder Desorientierung –all das erschwert die Kontaktaufnahme mit dem Patienten massiv. Dennoch verbirgt sich hinter diesem Verhalten meist keine persönliche Absicht, sondern der „schwierige“ Patient kompensiert häufig mit seinen Auffälligkeiten persönliche Einschränkungen und Defizite.
Alzheimerdemenz
Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimerdemenz, die mit den typischen ABC-Störungen einhergeht (Tab.1). Langsam fortschreitend und oft kaschiert, zeigt sich im Frühstadium vermehrtes Vergessen, danach folgen eine zunehmende Verwirrtheit und schlussendlich eine ausgeprägte Hilflosigkeit der Patienten. Die MMSE (Mini Mental State Examination) wird zur Einstufung der Demenz und als Screening-Instrument eingesetzt und hilft, den Verlauf und den richtigen Zeitpunkt für den Einsatz von Antidementiva festzumachen.
Anamnese und Ersteinschätzung ohne Patientenzugang
Menschen mit Demenz erschweren dem Arzt oft den Zugang im Gespräch, wodurch die Fremdanamnese durch das Pflegepersonal, aber auch durch Angehörige unerlässlich wird. Menschen mit Demenz legen gerne einen Schleier über ihre Defizite und geben sie nicht offen zu. Fuchs-Nieder verwendet daher Schlüsselfragen beim Durchführen der MMSE,die v.a. die zeitliche und örtliche Orientierung, aber auch die Orientierung zur eigenen Person abfragen und dadurch rasch einen Ersteindruck über den Umfang der aktuellen Defizite erlauben und weitere, den Betroffenen quälende Fragen oft ersetzen:
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Welchen Monat und welche Jahreszeit haben wir?
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Wo sind wir hier? Ist es ein Pflegeheim oder ein Krankenhaus?
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In welcher Stadt sind wir?
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Was waren Sie von Beruf? Haben Sie Kinder?
Kommunikationsprobleme
Sowohl auf der Seite der Betreuenden als auch auf der Seite der Demenzkranken stößt man häufig auf Unverständnis des Gegenübers. Diese Kommunikationsprobleme fördern gemeinsam mit Lebensalltagseinschränkungen die starke Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit von Menschen mit Demenz. Je mehr die Demenz fortschreitet, desto hilfsbedürftiger und schlussendlich abhängiger werden die Menschen mit Demenz bei den Aktivitäten des täglichen Lebens, wie Waschen, Anziehen, Toilettengang, Essen etc., von der Hilfe anderer.Das Pflegepersonal dringt unweigerlich immer weiter in die Intimsphäre der dementen Bewohner ein. Einerseits erleben Betreuende dabei oft unendliche Dankbarkeit, können aber andererseits auch mit Unverständnis, Negativität, Feindseligkeit und Abwehr konfrontiert werden. Gerade dann ist es besonders herausfordernd, die Sensibilität gegenüber Menschen mit Demenz aufrechtzuerhalten, die Abwehr nicht persönlich zu nehmen und selbst ruhig zu bleiben.
Verhaltensstörungen – eine besondere Belastung
Schreien, Aggressionen, Halluzinationen, unkontrollierbares Herumwandern, aber auch eine Umkehr des Tag-Nacht-Lebens bei dementen Patienten führen bei Betreuenden zu Gefühlen der Machtlosigkeit bzw. zu Dauerstress. Häufig sind es neuartige Situationen, die sich negativ auf Verhaltensstörungen auswirken. Nicht selten gibt es aber auch zentrale Triggerfaktoren aus der Biografie des Menschen mit Demenz, die ein solches Verhalten erklären. Regelmäßigkeiten, Routinen und Rituale im Lebensalltag helfen besonders zur Stabilisierung der Situation. Bei akuten Verwirrtheitszuständen (=Delir), die durch eine psychomotorische Unruhe, einen veränderten Schlaf-wach-Rhythmus oder Halluzinationen geprägt sind, sollten immer auch körperliche Ursachen ausgeschlossen werden (Schmerzen, Harnwegsinfekt, hohes Fieber, Austrocknung, Hypakusis, Medikamente …). Genauso können sich seelische Konflikte, die durch Isolationsgefühl, Sinnesdefizite, wie Visus- und Hörverlust, oder nicht mehr kommunizierbare Scham- und Schuldgefühle entstehen, dahinter verbergen. Gerade dann sind Empathie, Zeit und Ruhe bzw. die Ablenkung des Patienten oft der Schlüssel, um die Situation für beide Seiten zu beruhigen.
Fingerspitzengefühl bei Medikamenten
Generell gilt bei der geriatrischen Pharmakotherapie immer der Grundsatz „Start low, go slow“. Ziel ist es, verhaltensauffällige Symptome zu verbessern, hingegen sollte von einer unreflektierten Dauermedikationlängerfristig Abstand genommen werden. Fuchs-Nieder rät dazu, bei jeder Visite die Notwendigkeit und den gerechtfertigten Einsatz der Medikamente zu überprüfen, weiß aber, dass dies ein „hehres“ Ziel ist. Beobachtung und Rückmeldung durch das Pflegepersonal sind dabei essenziell.
Basistherapie
Die Basis der Demenztherapie bilden die Antidementiva, um die geistige Leistungsfähigkeit und die Lebensqualität zu steigern bzw. das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen.Acetylcholinesterasehemmer, z.B. Donepezil, Rivastigmin und Galantamin, werden bei beginnender Demenz eingesetzt, Memantin (NMDA-Rezeptorantagonist) wird hauptsächlichbei schweren Demenzen gegeben, oder in frühen Stadien, wenn es zu Unverträglichkeiten bei anderen Präparaten gekommen ist.
Was tun bei Verhaltensauffälligkeiten?
Antipsychotika können den zwischenmenschlichen Kontakt nicht ersetzen, aber machen ihn manchmal erst möglich, so Fuchs-Nieder. Sie spricht sich aber gegen den Reflex aus, sofort Antipsychotika oder Benzodiazepine zu verabreichen, und rät, einen Stufenplan zu verfolgen(Tab.2). Im Akutfall oder bei Aggressivität/Abwehr kann hingegen zu atypischen Antidepressiva (AAP) wie Risperidon (0,5mg ½–0–½) oder Quetiapin (25mg 1–0–1, aber auch ½–0–½ können ausreichend sein) gegriffen werden. Jedoch ist bei der Medikamentengruppe der AAP immer mit dem Auftreten von extrapyramidalmotorischen Störungen (EPMS) zu rechnen, die sich durch Tremor, Rigor, Schluckstörungen und auch eine zunehmende Apathie äußern. Das Risiko für Stürze bzw. negative Einflüsse auf die Kognition muss dabei gut abgewogen werden. Nachdem sich die Verhaltensauffälligkeiten stabilisiert haben, kann und sollte nach 4 Wochen immer ein Absetzversuch erwogen werden. Benzodiazepine sind nur für akute Einsätze oder bei ausgeprägter Angst geeignet, da von ihnen die Gefahr ausgeht,dass sie die demenzielle Erkrankung noch mehr verschlechtern.Bei Ängsten eignet sich Trazodon (Trittico retard 75mg ⅓–⅓–⅓) hervorragend. Im akuten Angstanfall kann Lorazepam (Temesta) gegeben werden, aber auch Alprazolam (Xanor) eignet sich zur Beruhigung, da es einen geringeren Sedierungseffekt hat.
Was hilft bei Demenz und Depression und Schmerzen?
An erster Stelle steht in der Behandlung einer demenziellen Depression die Wirkstoffklasse der SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), wobei sich Sertralin v.a. durch seine gute kardiale Verträglichkeit, Citalopram oder Escitalopram (niedrig dosiert) besonders eignen. SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) können bei Schmerzen und Depression verschrieben werden.
Häufig verstecken sich hinter Unruhe und einem Delir Schmerzen, die der Patient nicht zum Ausdruck bringen kann – gerade bei einer fortgeschrittenen Demenz. Metamizol eignet sich fast immer für geriatrische Patienten und auch Paracetamol hat kaum Nebenwirkungen. Bei NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika) ist wie immer auf GINebenwirkungen bzw. die Interaktion mit blutverdünnenden Medikamentenzu achten. Pregabalin eignet sich v.a. bei Nervenschmerzen oder gleichzeitigen Ängsten, kann aber zur Verschlechterung der Kognition und zu Verwirrtheit führen. Bei generalisierten Ängsten sollte aber ein Versuch mit Pregabalin gewagt werden.
Schlafstörungen
Als Schlafhilfsmittel können zu Beginn Phytotherapeutika (Baldrian, Passionsblume, Hopfen, Melisse etc.), die auch mit Melatonin kombiniert werden können, ausgeschöpft werden. Bewährt hat sich auch niedrig dosiertes Trazodon (Trittico), da es gleichzeitig entängstigend, antidepressiv und schlafregulierend wirkt. Mirtazapin zeigt genauso eine antidepressive, schlaffördernde wie auch beruhigende Wirkung, allerdings muss man auf Hyponatriämie als Nebenwirkung achten. Erst danach sind Neuroleptika wie vorzugsweise Quetiapin und Benzodiazepine empfohlen. Als klassisches Schlafmittel hingegen eignet sich Zolpidem, aber auch Esogno und das Benzodiazepin Lorazepam (Temesta).
Fazit
In der ärztlichen Betreuung von verhaltensauffälligen Menschen mit Demenz und somit auch für das pflegende Umfeld ist es das oberste Ziel, die größtmögliche Selbstbestimmtheit und Würde zu ermöglichen. Neben der Basistherapie mit Antidementiva stehen weitere medikamentöse Behandlungsansätze zur Verfügung, die gegen psychiatrische Symptome bei Menschen mit Demenz sehr effektiv sind. Ihr Einsatz sollte aber von Situation zu Situation immer gut abgewogen und jeder Mensch individuell für sich betrachtet werden.Inschwierigen Situationen im Arbeitsalltag kann auf diesem Wege deeskaliert werden und so können persönliche Ressourcen geschaffen werden – sowohl beim Pflegepersonal als auch bei Menschen mit Demenzund beim behandelnden Arzt.
Bericht:
Vera Weininger, BA
Quelle:
Vortrag „Pflegebedürftige Patienten mit herausforderndem Verhalten – eine Chance zum Verstehen“ von Dr. Brigitte Fuchs-Nieder, Graz
Literatur:
bei der Vortragenden