
„Gesprächstechniken müssen systematisch gelehrt werden“
Das Interview führte
Dr. Felicitas Witte
Patienten wollen und sollen in Entscheidungen involviert werden. Essenziell hierfür ist eine patientenzentrierte Kommunikation. Warum das Ärzten schwerfällt und warum es so wichtig ist, eine situations-, sach- und personengerechte Gesprächsführung zu lernen, erklärt Dr. Irene Marx aus Frankfurt.
Dr. Irene Marx ist Palliativmedizinerin in Frankfurt und arbeitet in einem spezialisierten ambulanten Palliativteam. Nach ihrer Facharztausbildung zur Urologin arbeitete sie viele Jahre im stationären Betrieb und leitete dann für zwei Jahre ein medizinisches Versorgungszentrum. Marx merkte, dass sie in diesem Rahmen kaum auf die Belange der Patienten eingehen konnte. Einfühlsame Gespräche und Zuwendung waren zeitlich kaum möglich. Um die Bedürfnisse der Patienten einerseits und ihren Wunsch nach einer guten Patientenversorgung andererseits zu erfüllen, absolvierte sie die Weiterbildung zur Palliativmedizinerin.
In Ihrem Buch „Patienten erreichen“ geht es um Kommunikationstechniken zwischen Arzt und Patient. Ist es nicht etwas absurd, Gesprächsführung schriftlich vermitteln zu wollen?
I. Marx: Natürlich wären Kurse perfekt, am besten in Kleingruppen mit Rollenspielen und Videoaufnahmen, um Gesprächsführung zu lernen. Sich gegenseitig zu beobachten und zu analysieren wäre ideal. Aber das können sich nicht alle leisten und ich bezweifle sehr, dass es die Arbeitgeber fördern. Ein Buch kann immerhin einige Aspekte abdecken. Ich habe positive Rückmeldungen bekommen. Es sei sehr praktisch orientiert durch die vielen Beispiele, die nachvollziehbar seien und reale Situationen abbildeten.
Wie kamen Sie als Urologin darauf, sich mit dem Thema zu beschäftigen?
I. Marx: Warum sollten Urologinnen und Urologen kein Interesse an guter Kommunikation haben? Ich war aber in der Tat schon früh der Kolibri unter den Kollegen. Nach der Visite, bei der der Chefarzt den Patienten mit dessen Diagnose und Prognose konfrontiert hat, sagte er oft zu mir: „Frau Marx, gehen Sie doch bitte später noch einmal zu Herrn Müller und erklären Sie es ihm genauer. Sie können das doch so gut.“
Haben Sie früher auch schon gut mit Patienten kommunizieren können?
I. Marx: Nein, ich denke, das müssen die meisten erst lernen. Ich erinnere mich an einen Wochenenddienst als junge Assistenzärztin, ich war alleine. Ich musste Visite auf zwei Stationen machen, es waren noch mehrere Patienten zu entlassen und Arztbriefe zu schreiben. Ständig klingelte das Bereitschaftstelefon für die Notaufnahme und ich musste Fragen beantworten oder in die Ambulanz eilen. Ein Patient fing mich dann auf dem Flur ab und wollte mit mir über seine Krebserkrankung sprechen, ich solle ihm die Histologie genauer erklären. Eigentlich hätte der Oberarzt dies am Vorabend bereits machen sollen, was allerdings nicht geschehen war. Alles passierte gleichzeitig. Ich erklärte diesem Mann, Mitte 50, knapp und mit klaren Worten seine Diagnose und die infauste Prognose. Er hatte ein fortgeschrittenes, metastasiertes Harnblasenkarzinom. Ich wollte die Information loswerden, musste heim und wusste nicht, wie ich es nun in der Eile dem drängenden Mann hätte anders beibringen sollen.
Wie reagierte der Mann?
I. Marx: Er war wie vom Donner gerührt und ging schweigend in sein Zimmer, und ich machte weiter mit der Visite. Bevor ich nach Hause ging, passte er mich auf dem Flur ab und sagte: „Was für ein Mensch sind Sie, einem Patienten so eine Nachricht auf dem Flur zu überbringen?“ Das liegt nun 17 Jahre zurück. Dennoch erinnere ich mich bis heute an sein Gesicht und die ernüchternde Wahrheit seiner Worte.
Wie fühlten Sie sich damals?
I. Marx: Ich habe mich geschämt. Ich dachte dann: Ich hätte so viel klüger handeln können, wenn ich gelernt hätte, wie man diese Themen und Situationen besser gestalten kann, wenn ich geübt hätte, wie ich einem Menschen seine schwersten Stunden nicht noch schwerer machen muss, als sie ohnehin schon sind.
Partizipative Entscheidungsfindung ist schon seit Jahren ein Thema und wird auch im Studium vermittelt. Warum klagen dann trotzdem immer wieder Patienten, sie fühlen sich vom Arzt nicht ernst genommen oder bevormundet?
I. Marx: „Shared decision making“ ist zwar in aller Munde, aber man muss es auch wollen und in der Praxis umsetzen. Patientenzentrierte Kommunikation wird zwar gelehrt, aber das beschreibt es nicht richtig. Es braucht ein Kommunikationsmodell, das eine gezielte situations-, sach- und personengerechte flexible Gesprächsführung ermöglicht. Dafür wollten wir in unserem Buch ein systematisches Vorgehen aufzeigen.
Ist gute Kommunikation eine Voraussetzung, um Arzt zu werden?
I. Marx: Fragen Sie einen jungen Menschen, der Medizin studieren will, nach den Voraussetzungen, wird er vermutlich antworten: „ein exzellentes Abitur“. Keiner wird auf die Idee kommen zu sagen: „die Fähigkeit, gut zu kommunizieren“. Nur wenige realisieren, dass sie später der Umgang mit Menschen in „vollem Umfang“ erwartet. Ärzte sind per Gesetz verpflichtet, ihre Patienten zu informieren und aufzuklären. Ärzte werden aber nicht genügend dafür trainiert. Dabei hängt für den Erfolg der Behandlung sehr viel davon ab, ob der Patient erreicht wird und versteht, um was es bei ihm geht.
Was halten Sie für die zentralsten Maßnahmen, um als Arzt gute Kommunikation zu lernen?
I. Marx: Ein guter Arzt zu sein, bedeutet für mich, humanistisch zu denken, nicht nur funktional. Sicher gibt es Naturtalente, doch in der Regel ist die aktive Teilnahme an Seminaren zur Gesprächsführung angezeigt, in denen psychologische Grundkenntnisse vermittelt werden, Gesprächsprotokolle reflektiert werden und in Stegreifspielen trainiert wird. Bücher – wie unser Buch – können anleiten, Gesprächsführung zu reflektieren. Ohne praktische Trainings geht es aber nicht. Und die müssen im Studium fest verankert sein.
Ist man ein schlechter Arzt, wenn man nicht kommunizieren kann?
I. Marx: Jeder Patient würde das bejahen. Denn natürlich sollte ein Arzt kommunizieren können. Aber wir sind Menschen, wir können nicht alles können. Wie kommuniziert wird, kann für den einen gut und für den anderen schlecht sein. Insofern taugt die Bewertung gut oder schlecht wenig. Es geht darum, dass das Gespräch an die Person, an die Situation und an das Problem angepasst ist. Dafür ist ein Fokussierungsmodell, wie wir es in unserem Buch vermitteln, sehr hilfreich.
Was wünschen Sie sich für die Curricula für Medizinstudierende und von Ihren Kollegen?
I. Marx: Dass sie den Studenten einen Algorithmus geben, eine klare Anleitung für den Aufbau eines Gesprächs. Das fängt schon mit der Analyse und dem Aufbau der Gesprächssituation an: Sitzordnung, Lichtverhältnisse, Kräfteverhältnisse im Raum und unter den Beteiligten. Die Situation wahrnehmen und die im Mittelpunkt stehenden Akteure. Dabei sollte der Student/Arzt sich selbst auch wahrnehmen lernen. Er hat später möglicherweise den größten Anteil am Gelingen des Gesprächs. Auch Schlüsselwörter und Techniken der Gesprächsführung halte ich für essenziell. Es gibt hier verschiedene Methoden. Sehr spannend fand ich zuletzt, die Technik der Idiolektik zu erlernen: in der Sprache des Gegenübers sprechen, um ihn selbst auf eine Lösung zu bringen. Man darf als Arzt aber auch sich selbst nicht vergessen.
Inwiefern?
I. Marx: Man sollte mit sich selbst fürsorglich umgehen. Jeder ist als Erstes für sich verantwortlich. Nur wer selbst spürt und versteht, was ihm guttut oder womit er Probleme hat, kann seine Kräfte besser einteilen und sich Konzepte zurechtlegen, die ihn stärken.
Lesen Sie weiterführend dazu:
Wie sag ich’s dem Patienten?
Buchtipp
Patienten erreichen
Wie kann man professionell fachlich und empathisch bleiben? Wie gelingt es, ebenso wahrhaftig zu sein und gleichzeitig nicht die Hoffnung zu nehmen?
Dieses Buch zeigt auf, wie Ärzt*innen und Pflegekräfte Gespräche mit Patient*innen aufbauen und in schwierigen Situationen klar und sprachfähig bleiben – egal, ob in Klinik, Heim, Praxis oder beim Hausbesuch. Es bietet zudem Sicherheit im Umgang mit der Unsicherheit auf beiden Seiten.
Zahlreiche Texte und Beispiele vermitteln Grundlagen der Gesprächsführung und geben fundierte Anregungen zur kritischen Selbstreflexion und Optimierung des Gesprächsverhaltens. Fallskizzen zeigen anhand des Fokussierungsmodells verschiedene Dialogmöglichkeiten, die eine schnelle Kontaktaufnahme erleichtern, Kompetenz vermitteln und Patient*innen wirklich erreichen.
Das Buch eignet sich für Ärzt*innen und Pflegefachpersonen aller Fachrichtungen, Angehörige anderer helfender Berufe und Medizinstudierende.
Ernst Engelke, Irene Marx: Patienten erreichen. Gesprächsführung für Ärzte und Pflegekräfte
Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, 2022
160 Seiten
Buch: 29 EUR
E-Book: 28,99 EUR
ISBN: 978-3-43-745267-3