„Extreme Situationen reizen mich“
Bericht:
Mag. Andrea Fallent
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Nachtdienste im Gefängnis, Betreuung von Obdachlosen und daneben noch eine florierende Allgemeinpraxis am Stadtrand von Wien: Dr. Kerstin Schallaböck liebt nicht nur die Abwechslung, sondern auch berufliche Herausforderungen, in denen Mut und Tatkraft gefragt sind.
Die Justizanstalt Wien-Josefstadt ist nicht nur ein beeindruckender Gebäudekomplex, sondern auch ein Ort mit abwechslungsreicher Vergangenheit. Im Jahr 1831 wurde unter Kaiser Franz I. die Baubewilligung für das voluminöse Projekt erteilt, die Pläne dafür stammten vom Architekten Johann Fischer. Nach militärischen Gesichtspunkten angelegt und den Palastbauten der italienischen Frührenaissance nachempfunden, sollte der Anblick laut Überlieferung gleichzeitig fürchterlich und auch stolz sein, „um Schrecken denjenigen zu verkünden, die sich durch ihre Streiche der menschlichen Gesellschaft unwürdig gemacht haben“. Im Laufe der folgenden Jahre kam es regelmäßig zu Um- und Zubauten, die großen Höfe der Anstalt waren dafür bestens geeignet. Mit dem Schafott im ebenerdig untergebrachten Hinrichtungsraum wurden zwischen 1938 und 1945 mehr als 1200 Menschen hingerichtet. Zwischen 1980 und 1995 wich der alte Komplex in drei Etappen einem Neubau. Heute beherbergt die Justizanstalt mit einer Gesamtnutzfläche von 68500 m2 rund 1100 Insassen und ist das Betätigungsfeld von Dr. Kerstin Schallaböck. Einmal pro Woche tauscht die passionierte Wiener Allgemeinmedizinerin ihre Rolle als Wahlärztin im Nobelbezirk Hietzing gegen jene der Gefängnisärztin.
Ein Traumberuf – viele Einsatzgebiete
Es ist Mittwochvormittag, hier am Stadtrand von Wien hat der Frühling Einzug gehalten. Die Ordination von Dr. Kerstin Schallaböck befindet sich im Erdgeschoß eines modernen Mehrfamilienhauses. Die Allgemeinärztin kommt gerade aus dem wöchentlichen Nachtdienst in der Justizanstalt und erweckt trotzdem nicht den Eindruck, als ob sie wieder einmal bis in die Morgenstunden durchgearbeitet hätte. „Ich hatte 20 Neuzugänge und etliche Krankheitsfälle zu betreuen und bin bis drei Uhr in der Früh nur gelaufen“, schildert sie. Doch genau diese Hands-on-Mentalität liebt die 46-jährige Allgemeinmedizinerin an ihrem Beruf: praktisch anpacken, wo sie gebraucht wird. Eine Tätigkeit ausüben, mit der man unmittelbar etwas verändern kann. Jeder Tag bzw. jede Nacht ist anders und bringt nicht selten neue Herausforderungen mit sich. Dabei wusste Schallaböck nach der Matura zuerst gar nicht so genau, in welche Richtung ihre berufliche Laufbahn gehen sollte: „Meine Eltern waren Lehrer und haben mir die Wahl gelassen. Als ich das Medizinstudium begonnen hatte, war für mich noch nicht klar, dass das genau das Richtige für mich ist. Ich habe aber schnell erkannt, dass ich tatsächlich meinen Traumberuf gefunden habe.“ Nach dem Studium ergatterte sie sofort einen Turnusplatz im Wiener Krankenhaus Göttlicher Heiland. Eine Erfahrung, die sie darin bestärkte, Allgemeinmedizinerin zu werden: „Wir durften alles machen, dieses große Betätigungsfeld hat mir gut gefallen.“
Bis heute erledigt Schallaböck viele Dinge aus dem Bauch heraus, „ohne viel nach rechts und links zu schauen“. Sie bezeichnet diese Intuition als Urvertrauen, dass alles ohnehin so kommt, wie es kommen soll. „Als Notärztin habe ich erleben müssen, dass man für einen Menschen, der gerade aus dem dritten Stock gesprungen ist, nichts mehr tun kann – eine furchtbare Erfahrung. Auf der anderen Seite haben mich immer die wirklich extremen Situationen als Medizinerin gereizt.“ Daher wollte sie auch nach dem Studium bei der Organisation Ärzte ohne Grenzen arbeiten. Nach einem umfangreichen Aufnahmeprozess bekam sie schließlich die ersehnte Zusage, das Einstiegsszenario war der frischgebackenen Medizinerin allerdings dann doch zu extrem: „Ich sollte zu einem Masernausbruch im Niger. Ich hatte plötzlich Angst, in einer Situation zu versagen, in der es um viele Menschenleben geht.“ Ganz aufgegeben hat die mittlerweile vierfache Mutter den Auslandeinsatz aber noch nicht, er steht immer noch auf ihrer Bucketlist. Diese kurzfristige Absage kam übrigens kurz danach der Caritas zugute, wo die Ärztin schließlich anheuerte. Sie leistet bis heute Dienste im Louisebus, in dem Obdachlose kostenlos medizinisch versorgt werden. Eine fordernde Aufgabe, an die sich die Ärztin erst adaptieren musste: „Ich bin danach jedes Mal eine gefühlte Stunde unter der Dusche gestanden, um dieses Elend abzuwaschen. Ich war erschüttert, wie viele Menschen es gibt, um die sich niemand kümmert.“
18-Stunden-Dienste hinter Gefängnismauern
Um 15 Uhr beginnt der Dienst in der Justizanstalt Wien-Josefstadt
Die Arbeit für Menschen in Notsituationen möchte die leidenschaftliche Medizinerin selbst nach gut 20 Jahren nicht missen, auch wenn sie mittlerweile nicht mehr so viel Zeit dafür investiert. Vier Tage die Woche führt Schallaböck ihre Privatpraxis in Wien-Hietzing, alle zwei Wochen unterstützt sie die Tätigkeit im Louisebus und seit 2009 übernimmt sie einmal pro Woche den Nachtdienst im Gefängnis. Der Einsatz in der Justizanstalt Wien-Josefstadt dauert von 15 Uhr nachmittags bis 9 Uhr vormittags.
Die Tätigkeit war anfangs für sie als Frau alles andere als einfach, erinnert sich Schallaböck, die meisten Justizwachebeamten sind einen rauen Umgangston gewöhnt: „Die Atmosphäre in der Justizanstalt ist oft trister als im Louisebus. Auch hier hat mich das Extreme angezogen.“ Vergitterte Fenster, ein großer Schlüsselbund als ständiger Begleiter und Wachebeamte als obligater Personenschutz lassen einen nicht unberührt: „Man fühlt sich selbst im wahrsten Sinn des Wortes eingesperrt, auch wenn man nur dort arbeitet und das Gefängnis am Vormittag wieder verlassen kann. Dazu kommt, dass die Patienten genauso wie im Louisebus meist sehr fordernd sind. Leider gibt es derzeit aber kein Angebot zur regelmäßigen Supervision.“ Beim Schichtwechsel werden zwar noch schnell die neuen Fälle besprochen, viel Zeit für Psychohygiene bleibt dabei allerdings nicht. Dennoch empfindet Schallaböck die Arbeit nach wie vor als bereichernd: „Mein Herz hängt trotzdem dran.“
Dr. Schallaböck in ihrer Privatordination in Wien-Hietzing
Schlafmangel, Suchtpatienten und Selbstjustiz
Mittlerweile ist auch das „neue“ Gefängnisgebäude in die Jahre gekommen, es wird derzeit bei laufendem Betrieb saniert. Die medizinische Betreuung der Inhaftierten funktioniert trotzdem gut, und das auf engstem Raum, betont Schallaböck. Ein Insasse muss binnen 24 Stunden von einem Arzt betreut werden, wenn er es verlangt. Und es vergeht kein Nachtdienst, in dem nicht auch mehrere neue Häftlinge hinzukommen. Jeder muss sofort einem Arzt „vorgeführt“ und untersucht werden: „Es ist wichtig, einzuschätzen, ob es sich um einen der häufigen Suchtpatienten handelt oder eine andere Krankheit vorliegt.“ Nicht selten sieht sie im Gefängnis Patienten wieder, die sie auch schon im Louisebus betreut hat.
Schallaböck vermeidet es, sich im Vorfeld über die Täter zu informieren. Im Fall von Gewaltverbrechern lässt es sich manchmal aber nicht verhindern, dass der Ruf dem Inhaftierten vorauseilt. Auch Selbstjustiz kommt vor. „Vieles läuft wirklich so ab, wie man es in Fernsehkrimis zu sehen bekommt“, bestätigt Schallaböck. Zudem kommen vor allem bei psychisch Kranken bzw. Suchtkranken häufig akute Haftreaktionen vor: „Diese Reaktionen können auftreten, sobald ein Häftling realisiert, dass er eingesperrt ist – und sie sind sehr vielfältig. Vor allem die erste Nacht ist gefährlich. Manche verletzen sich selbst oder andere, viele werden depressiv.“ Dieses Risiko macht eine Rundumüberwachung in einem Beobachtungshaftraum notwendig. Bei einer akut auftretenden Psychose weiß Schallaböck, was zu tun ist, ohne den Psychiater in Rufbereitschaft aufwecken zu müssen. Jedes Gefängnis ist wie ein abgeschlossener Mikrokosmos – und der Arzt, so bringt es Schallaböck auf den Punkt, steckt eben mittendrin.
Aufgaben im Nachtdienst
Neben den 20 Neuzugängen musste Schallaböck in der vergangenen Nacht u.a. eine akute Gastritis, einen Migräneanfall, eine Schnittverletzung an der Hand, Herzbeschwerden und die regelmäßig auftretenden psychiatrischen Notfälle versorgen. Unterstützung bekommen die diensthabenden Ärzte bei Bedarf durch Pflegepersonal. Zusätzlich werden die Harnproben aller Insassen mit einem Streifentest auf Drogenkonsum untersucht, was viel Zeit in Anspruch nimmt. Die Realität ist: Ein beträchtlicher Teil der Insassen hat ein relevantes substanzgebundenes Problem. Das betrifft in erster Linie Alkohol, Opioide, Benzodiazepine und Crack, häufig als Mehrfachabhängigkeit. Eine der beliebtesten Substanzen auf der Straße und im Gefängnis ist Pregabalin. Drogensubstitution ist daher ein forderndes Thema, wobei immer wieder Patienten ihre Medikation nicht wie vorgeschrieben nehmen, sondern mit ihr am hausinternen Marktplatz dealen. Das führt auch dazu, dass viele der drogensüchtigen Häftlinge höhere Dosierungen angeben, als sie tatsächlich benötigen.
Gratwanderung zwischen Empathie und Abgrenzung
Die psychologischen und ethischen Belastungen in der Gefängnismedizin sind nicht zu unterschätzen. „Wir arbeiten oft mit Menschen, die schwerwiegende Straftaten begangen haben, gleichzeitig sind wir mit schweren psychischen Erkrankungen und dem Leid konfrontiert, das damit verbunden ist“, analysiert die Ärztin. Die ständige Herausforderung besteht darin, das Wohl des Patienten im Auge zu behalten, während man gleichzeitig mit den Realitäten des Gefängnislebens umgehen muss. Andererseits kann man als Mediziner im Gefängnis einiges bewegen und persönliche Schicksale positiv beeinflussen. Schallaböck bemüht sich z.B. um Patienten, die mit Mithäftlingen Probleme haben. Als Seelentrösterin sieht sie sich allerdings nicht: „Ich bin keine Sozialarbeiterin. Eine gewisse professionelle Distanz ist wichtig, um nicht in den Bann der unterschiedlichen Befindlichkeiten gezogen zu werden.“ Sorgen um ihre Sicherheit macht sich die engagierte Ärztin nicht: „Ich werde natürlich immer wieder im Bekanntenkreis gefragt, ob ich keine Angst habe. In den 15 Jahren meiner Tätigkeit habe ich eine einzige brenzlige Situation erlebt: Häftlinge haben einen Notfall vorgetäuscht, um einen Spitalsaufenthalt zu erwirken und dann flüchten zu können.“ Behandlungen in einem Haftraum, also direkt in der „Zelle“, sind aber die seltene Ausnahme: „Das mache ich nur, wenn der Insasse nicht aufstehen kann.“ In den Behandlungsräumen selbst sind immer Wachebeamte zugegen, Notknopf gibt es keinen.
Gefängnisärzte gesucht!
Engagierte Ärzte sind auch in der Justizanstalt immer willkommen, „Nachwuchs“ wird dringend gesucht. Schallaböck ermutigt Kollegen daher immer wieder, sich zu bewerben: „Ich finde, es ist einen Versuch wert. Man sieht ohnehin sehr schnell, ob die Arbeit für einen passt oder nicht. Ich mag genau das.“
Die Ärztin blickt auf die Uhr, ihre Ordinationsassistentin kündigt den ersten Privatpatienten an diesem Tag an. Das Repertoire der Behandlungen reicht von Allergieabklärung über Vorsorgeuntersuchungen bis hin zu ästhetischen Eingriffen wie Botox und Microneedling. Dass sie „nebenbei“ auch eine Naturkosmetiklinie für Problemhaut kreiert hat, gibt Schallaböck auf ihrer Website preis. Auch da steckt die vorrangige Motivation dahinter, eine gute Idee, ohne lange zu zögern, in die Praxis umzusetzen. Hands-on-Mentalität eben!
Das könnte Sie auch interessieren:
ALLGEMEINE+ auf universimed.com
Ab sofort finden Sie alle Inhalte von ALLGEMEINE+ auf unserem Portal universimed.com! Sie müssen nichts weiter tun - die Log-in-Daten bleiben dieselben.
Medikamentöse Migräneprophylaxe
In der letzten Ausgabe von ALLGEMEINE+ konnten Sie sich bereits über die Akuttherapie bei Migräneattacken informieren.In diesem zweiten Teil der Serie zum Kopfschmerz erwartet Sie nun ...
Bessere Diagnostik mit Biomarkern?
Goldstandard für die Diagnose, Prognose und Therapie einer Lupusnephritis ist die Nierenbiopsie, aber sie ist invasiv und die Auswertung aufwendig. Forscher aus China stellen ...