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Lokalaugenschein in der Ukraine

„Die Resilienz der Bevölkerung ist bewundernswert“

Der „zweite“ Ukraine-Krieg, wie ihn die Ukrainer nennen, dauert mittlerweile mehr als 2 Jahre an. Neben der ständigen physischen und ökonomischen Bedrohung durch die russischen Angriffe leidet auch die psychische Gesundheit der Bevölkerung, wie der Wiener Allgemeinmediziner Dr. Reinhard Dörflinger, externer Berater der österreichischen Organisation Hilfswerk International, im Interview mit ALLGEMEINE+berichtet.

Der Wiener Allgemeinmediziner Dr. Reinhard Dörflinger ist seit 43 Jahren in der Gruppenpraxis Wilhelmstraße in Wien tätig. 18 Jahre lang arbeitete er bei ESRA, dem Ambulatorium für Holocaustüberlebende in Wien. Für die Wiener Ärztekammer ist Dörflinger seit 6 Jahren Referent für Substitution und Drogenmedizin und arbeitet auch als Palliativmediziner im mobilen Team des Wiener Hilfswerks. Der langjährige Präsident (2006–2015) von „Ärzte ohne Grenzen Österreich“ sammelte Erfahrung in seinen zahlreichen humanitären Einsätzen, u.a. in Nicaragua, Honduras, Uruguay, Pakistan, Ruanda, Niger und Bosnien.

Ende 2023 begleitete Dörflinger als externer Berater das ukrainische Team von Hilfswerk International. Besucht wurden Hilfsprojekte sowohl entlang der Frontlinie im Südosten und Osten der Ukraine als auch im Westen des Landes.

Herr Dr. Dörflinger, wie einfach oder schwierig ist es, derzeit in die Ukraine zu reisen und welche Regionen konnten Sie besuchen?

R. Dörflinger: Wir hatten zehn Tage zur Verfügung. Die Einreise gestaltet sich nicht ganz einfach, weil alle Flughäfen in der Ukraine gesperrt sind. Das bedeutet, es bleibt nur der Zug bzw. der Weg über Moldawien, den wir gewählt haben. Bis zur ukrainischen Grenze haben wir ein Taxi genommen, dann zu Fuß die Grenze überquert und sind von dort gemeinsam mit den ukrainischen Mitarbeitern vom Hilfswerk International weiter nach Odessa gefahren. Die Route ging dann weiter nach Mykolaiv, Dnipro, Kharkiv, Kyviv, Iwano-Frankiwsk bis nach Cernowitz. Das heißt eine Runde im Süden bis in den Osten, in die Hauptstadt und dann in den Westen.

Waren Sie vor Ihrem Aufenthalt 2023 schon einmal in der Ukraine?

R. Dörflinger: Nach früheren privaten Aufenthalten in Galizien war ich 2018 im Rahmen eines Projektbesuchs von „Ärzte ohne Grenzen“ in Kyviv. Damals gab es bereits den Kriegsschauplatz im Donbass. Die Organisation setzte sich für die ambulante Versorgung für die Bevölkerung an der Demarkationslinie im Süden ein und leitete zudem ein Tuberkulose-Programm. Dieses Mal war ich auf Einladung des Hilfswerks International als „Honorary Senior Consultant“ in der Ukraine, um die Projektstandorte zu besuchen.

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Dr. Reinhard Dörflinger

Welche Maßnahmen sind derzeit besonders dringlich, um die Bevölkerung zu unterstützen?

R. Dörflinger: Da geht es um elementare Dinge für den Alltag, die für uns eigentlich selbstverständlich sind. Durch die kriegerische Zerstörung der Infrastruktur bzw. die Sprengung des Kakhowka-Staudamms im Süden der Ukraine im Sommer 2023 sind dort die Wasserversorgungssysteme zusammengebrochen. Die Reparaturmaßnahmen dauern hier immer noch an. Die Projekte des Hilfswerks International bieten eine Mischung aus humanitärer Hilfe, psychosozialer Unterstützung und Wiederaufbau, sowohl in ländlichen Gebieten als auch in kleineren Städten. Finanziert werden die Projekte u.a. von „Nachbar in Not“, von der Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit und direkten Spenden an das Hilfswerk. Mittlerweile gibt es – auch dank des Hilfswerks International – in den wichtigsten Einrichtungen und allen Krankenhäusern Generatoren, die eine durchgehende Stromversorgung garantieren sollen. Das sind Apparate von der Größe eines halben Lkw, die bis zu 200000 Euro kosten.

<< Die Projekte von Hilfswerk International in der Ukraine bieten eine Mischung aus humanitärer Hilfe, psychosozialer Unterstützung und Wiederaufbau.>>
Dr. Reinhard Dörflinger
Wie kann man sich die derzeitige Situation der Bevölkerung angesichts des Krieges konkret vorstellen?

R. Dörflinger: In Nikopol waren wir ca. 5 Kilometer von der aktuellen Front entfernt. Das ist einerseits nahe, aber auch weit weg. Es gibt diese Gleichzeitigkeit von Bedrohung und Zerstörung und einem normalen Leben. Die Regionen im Westen des Landes sind kaum vom Krieg betroffen. Andererseits gibt es in den anderen Regionen örtliche Verwüstungen, die sehr massiv sind. Die Ukrainer sind es aber gewöhnt, Zerstörungen rasch zu beseitigen bzw. zu reparieren. Das ist zum Beispiel in Kharkiv sichtbar, das im Osten der Ukraine liegt und als zweitgrößte Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern ungefähr so groß wie Wien ist. Dort haben sich die Kämpfe im Zentrum abgespielt, davon sieht man jetzt im Grunde kaum noch etwas. Während meines Aufenthalts gab es keine Stromausfälle, das Netz funktionierte. Es gab überall Internet und mobile Datenübertragung. Wir haben einige Betriebe wie eine Bäckerei besichtigt, die wieder normal arbeiten. In den Geschäften bekommt man alles, es gibt auch neue Restaurants. Um 22 Uhr ist allerdings Schluss, da beginnt vielerorts im Osten die Ausgangssperre bis 7 Uhr früh. Alle 100 bis 200 Kilometer sind Straßensperren eingerichtet. Seit meiner Rückkehr gab es wieder gezielte Angriffe in den besuchten Regionen.

Wie wird die Bevölkerung vor den regelmäßigen russischen Luftangriffen gewarnt?

R. Dörflinger: Es gibt „air alerts“ auf den Smartphones. Da entstehen dann merkwürdige Situationen, wenn sich mehrere Menschen gerade unterhalten und dann plötzlich Sirenengeräusche von allen Handys kommen. Solche Situationen hatten wir öfters, drei- bis fünfmal pro Tag. Der ukrainische Teamleiter hat dann auf seinen eigenen Apps gecheckt, wie ernst die Warnungen sind, und dann entschieden, ob ein Bunker aufgesucht werden soll. Diese Schutzräume gibt es überall – auch in den Hotels, in denen wir untergebracht waren. De facto mussten wir uns in keinen flüchten, da die Raketen entweder über uns weitergeflogen sind oder der Alarm wieder abgesagt wurde. In der Woche, in der ich in der Ukraine war, gab es allerdings diese große Attacke auf Kyviv mit 80 Drohnen. Die haben wir 500 Kilometer weiter östlich nicht wirklich wahrgenommen.

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Abb 1: Dr. Reinhard Dörflinger (links) im Gespräch mit Mag. Stefan Fritz, dem Geschäftsführer von Hilfswerk International

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Abb 2: Besuch im Krankenhaus von Vinnytsia

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Abb 3: Vorbereitung von Lebensmittelpaketen in Nikopol mit dem ukrainischen und österreichischen Team von Hilfswerk International

In der Ukraine wurden laut Hilfswerk International mehr als 5 Millionen Menschen vertrieben. Wie geht die Bevölkerung mit der Situation um?

R. Dörflinger: Im Süden und Osten, rund 100 Kilometer von der Frontlinie entfernt, gibt es rund 150000 bis 200000 sogenannte intern vertriebene Menschen, also jene, die aus den besetzten Gebieten wie Mariupol geflüchtet und in ländlichen Gebieten untergekommen sind. Diese Menschen leben in gemieteten Häusern und zum Teil auch in kollektiven bzw. provisorischen Unterkünften, die oft unzureichend ausgerüstet sind. Sie bekommen vom Staat eine Notstandsunterstützung, die zwischen 150 und 250 Euro beträgt, von der sie leben müssen. Trotz der Unterstützung fehlt es nach wie vor häufig an funktionierenden Heizsystemen, Wasserversorgung, Strom und Gas.

Wie helfen die Projekte des Hilfswerks International auf materieller und psychosozialer Ebene?

R. Dörflinger: Die Resilienz der Bevölkerung ist wirklich bewundernswert. Die Leute sind generell erschöpft und müde, aber sie geben nicht auf. Dennoch stehen die Menschen in der Ukraine nicht nur physisch, sondern auch mental unter enormem Druck.

Das Hilfswerk International betreibt 3 Nachbarschaftshilfe-Zentren, sogenannte Help Points, im Westen bei Iwano-Frankiwsk wie auch entlang der Frontlinie bei Valky/Kharkiv und Pokrov/Nikopol. Diese Zentren bauen zum Teil auf Freiwilligen-Strukturen auf, die seit Beginn des Krieges existieren. Sie sind niederschwellige Anlaufstellen für Menschen, die durch den Krieg in Not geraten sind bzw. aus ihren Heimatorten flüchten mussten. Sie finden hier Unterstützung und Beratung bzw. Kinderbetreuung, zudem werden auch Hilfsgüter wie Lebensmittel und Hygieneartikel verteilt.

Die Help Points dienen auch als Begegnungsräume und als Treffpunkt für Kinder und Jugendliche, um gemeinsam zu lernen und sich auszutauschen. Dazu muss man wissen: Im Osten des Landes existiert nur Fernunterricht. Das heißt, die Kinder sind prinzipiell seit 2 Jahren den ganzen Tag zu Hause – mit entsprechenden sozialen Folgen. Für Kinder sind die Help Points die einzigen Anbieter in den beiden Regionen. Sie schaffen eine Atmosphäre von Sicherheit und Mitmenschlichkeit, um psychische Gesundheitsprobleme in einem belasteten Umfeld anzugehen. Für die psychische Gesundheit ist das ein guter und effektiver Ansatz.

Wie steht es um die medizinische Versorgung der Bevölkerung? R. Dörflinger: Wir haben ein Kinderspital in Vinnytsia besucht, wo ein Notstromaggregat installiert wurde. Dort hat mir die ärztliche Leiterin erzählt, dass es anfangs sehr schwierig war, Medikamente wie Insulin oder Antibiotika zu bekommen. Mittlerweile funktioniert die Versorgung gut, es gibt alles lokal und auch genügend medizinisches Personal. Finanzielle Unterstützung wird aber weiterhin benötigt, um den Alltag bestreiten zu können.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Über das Hilfswerk International

Das Hilfswerk International ist eine österreichische und weltweit tätige Hilfsorganisation. Sie wurde im Jahr 1978 mit dem Ziel gegründet, Nothilfeprojekte und nachhaltige Entwicklungsprojekte durchzuführen. Mit rund 125 Mitarbeiter:innen in 18 Ländern werden in enger Zusammenarbeit mit örtlichen Teams sowie lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen Projekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Soziales und Landwirtschaft initiiert. Finanziert werden die Projekte durch nationale und internationale Projektfonds für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sowie über private Spenden, Corporate-Social-Responsibility-Partnerschaften und Sponsoring.

Weitere Informationen: https://www.hilfswerk.at/international/

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