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Das diabetische Fußsyndrom

… über die Sorgen einer Hausärztin

Geschätzt 150 Fußuntersuchungen bei Diabetikern fallen in jeder Hausarztpraxis pro Jahr an. Zeitbedarf der Minimalvariante: mindestens 15 bis 20 Minuten. Das ergibt grob gerechnet eine Woche Gratisarbeit, da für diese Leistung keine finanzielle Abgeltung vorgesehen ist. Dass viele an dieser Herausforderung scheitern, ist vorhersehbar.

Das diabetische Fußsyndrom ist die gefürchtete Komplikation bei Diabetespatienten und stellt in der hausärztlichen Praxis eine Aufgabe dar, an der ich als engagierte Ärztin für Allgemeinmedizin kläglich gescheitert bin.

In diesem Artikel zeige ich die Diskrepanz zwischen der Dringlichkeit des Problems und der möglichen – bzw. unmöglichen – korrekten Versorgung unserer Patienten mit Diabetes in der Hausarztpraxis auf.

Häufigkeit und Bedeutung des diabetischen Fußsyndroms

Leider tritt es häufiger auf, als wir glauben möchten: Laut einer Publikation aus dem Jahr 2017 dürften sogar 19–34% der Menschen mit Diabetes ein Ulkus entwickeln.1 Das diabetische Fußsyndrom ist die Hauptursache für nichttraumatische Amputationen, rund 40–60% aller nicht traumatischen Amputationen der unteren Extremität werden bei Menschen mit Diabetes durchgeführt.2

<< Eine korrekte Untersuchung des diabetischen Fußes ist derzeit in österreichischen Hausarztordinationen nicht möglich.>>
MR Dr. Susanne Pusarnig

In der Hausarztpraxis sehen wir, wie schwer Menschen nach Amputationen beeinträchtigt sind, wie massiv eingeschränkt ihre Lebensqualität und auch ihre Lebenserwartung ist – und nicht zuletzt, wie das familiäre Umfeld darunter leidet und nicht selten zerbricht.

Prävention: So sollte es sein

Aus der aktuellen Leitlinie der Österreichischen Diabetes Gesellschaft 2023:3 Primäres Ziel bei der Behandlung von Menschen mit Diabetes ist die Prävention von mikro- und makrovaskulären Spätkomplikationen durch eine optimale Stoffwechselkontrolle und Optimierung der kardiovaskulären Risikofaktoren. Zur Prävention des diabetischen Fußsyndroms gibt es 5 Schlüsselelemente:

  1. Identifikation eines Risikofußes

  2. Regelmäßige Inspektion und Untersuchung des Risikofußes

  3. Schulung des Patienten und seiner Angehörigen

  4. Tragen von geeignetem Schuhwerk

  5. Behandlung von präulzerösen Läsionen wie z.B. Hornhautschwielen

Die Identifikation eines Risikofußes erfolgt nach Tabelle 1. Die Charakteristik „Fehlende protektive Wahrnehmung“ entspricht dem Anzeichen für Neuropathie im Stimmgabel- oder Monofilament-Test.

Tab. 1: Risikostratifizierung für ein Ulkus am Fuß bei Menschen mit Diabetes (modifiziert nach iwgdfguidelines.org)6

Von der Diabetesambulanz in die Hausarztpraxis

Nach jahrelanger Arbeit in Diabetesambulanzen habe ich im Jahr 2003 eine Hausarztpraxis mit allen Kassen in Wien übernommen. Ich bin diese neue Aufgabe mit großem Schwung und mit besten Vorsätzen angegangen – ich wollte eine gute Hausärztin sein und mir war klar, dass ich den Diabetesschwerpunkt mitnehmen würde, einfach weil mich in dieser Gegend viele Patienten aus der Ambulanz kannten. Natürlich wollte ich die Routine-Fußuntersuchungen meiner Patienten mit Diabetes mellitus auf keinen Fall vernachlässigen. Das ging nicht lange gut, die Liste der überfälligen Untersuchungen sprengte bald jeden Rahmen.

Die Fußuntersuchung

Eigentlich ist es ja ganz einfach. Die Minimalvariante laut aktueller Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft „Diabetisches Fußsyndrom“4 sieht folgende Punkte vor:

  • Gezielte Anamnese (brennende oder stechende Schmerzen, Parästhesien, Taubheitsempfinden, Fehlen jeglicher Empfindung),

  • beidseitige Fußuntersuchung: Hautstatus (Integrität, Turgor, Schweißbildung, Schwielen), Muskulatur, Deformitäten, Beweglichkeit, Hauttemperatur etc. und

  • Prüfen der Drucksensibilität mit dem 10-g-Monofilament und/oder Prüfen der Vibrationsempfindung mit der Rydel-Seiffer-Stimmgabel, Palpation der Fußpulse (A. tibialis posterior, A. dorsalis pedis).

Dazu kommen noch das Gespräch mit den Patienten, Kontrolle und Aufklärung über geeignetes Schuhwerk, Vorsorgeregeln (kein Barfuß-Laufen, Vorsicht bei heißem Sand am Strand, richtige Fuß- und Nagelpflege usw.). Zeitbedarf: 15 bis 20 Minuten, wenn der Patient im Untersuchungszimmer vorbereitet mit nackten Füßen auf mich wartet.

Eine Rechnung

In Österreich gibt es ca. 8300 Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin mit Kassenvertrag. Wie viele Menschen an Diabetes leiden, wissen wir nicht so genau – es gibt ja kein Diabetesregister. Derzeit lautet die am häufigsten gehörte Schätzung: „in etwa 800000“.5

Die werden – hoffentlich – (fast) alle in den hausärztlichen Ordinationen betreut.
Die Rechnung ist einfach: 800000:8300 = 96,4 Diabetiker pro Praxis.

Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich darüber spreche, können das oft nicht glauben – aber nach Kontrolle der Abrechnung höre ich oft, dass es in etwa stimmt. Das bedeutet also: Ca. 100 Routine-Fußuntersuchungen fallen pro Jahr in der Hausarztpraxis an, dazu kommen noch alle, die engmaschiger kontrolliert werden müssen – ich schätze vorsichtig zusätzlich 50 Untersuchungen pro Jahr. Das ergibt 150 Untersuchungen à 15 Minuten=2250 Minuten=37,5 Stunden.

Eine Woche pro Jahr gratis arbeiten?

Also eine Woche pro Jahr Füße untersuchen:eine Leistung, für die es keinerlei finanzielle Abgeltung gibt. Eine Woche „gratis“ arbeiten? Unter dem Zeitdruck und mit der Überforderung in Hausarztordinationen ist das zeitlich nicht zu schaffen. Aber das ist noch nicht einmal das größte Problem…

„Und wenn ich etwas finde?“

Die Neuropathieuntersuchung ergibt herabgesetztes Empfinden, die Haut ist trocken, rissig, unter dem Metatarsale-II-Köpfchen zeichnet sich eine beginnende Druckstelle ab…

Wie geht es weiter? Selbst versorgen? Immer wieder kontrollieren? Bei wie vielen Patienten schafft man das?

Wenn der Befund etwas schwerwiegender ist, aber z.B. noch kein offenes Ulkus da ist: Wer kümmert sich um diese Patienten?

Wenn ein Ulkus, eine Fußdeformität, entdeckt wird – wohin überweisen? In der Großstadt Wien gibt es einige Anlaufstellen – aber weitab der Städte?

Die Lösung in meiner Praxis

Ich war enttäuscht und ernüchtert, als ich festgestellt habe: „Das schaffe ich nicht!“

Meine Lösung: Ich habe mich der Mitarbeit einer hervorragenden Diabetesberaterin und Wundmanagerin versichert. Sie hat einmal pro Woche Fußuntersuchungen selbstständig durchgeführt und mich gerufen, wenn sie etwas Auffälliges entdeckt hat.

Die Qualität der Versorgung in meiner Praxis stieg. Nur: Das ist keine Kassenleistung – wovon sollte ich sie bezahlen?

Meine Lösung war, auf der Zuweisung bei kleinsten Hinweisen auf ein kardiales Risiko um ein EKG zu bitten – nur damit konnte ich einen Teil der Kosten auf die Krankenkasse übertragen.

Ein wirklich nicht idealer Workaround…

Mein Fazit

Eine korrekte Untersuchung des diabetischen Fußes ist derzeit in österreichischen Hausarztordinationen nicht möglich. Dies wird weiterhin zu vermeidbaren Amputationen führen.

Die Anerkennung der Fußuntersuchung als Kassenleistung und eine Honorierung, die das Beauftragen einer DGKS erlaubt, wären der erste wichtige Schritt zu einer Verbesserung.

Info-Plattform

Die Zuckertante

MR Dr. Susanne Pusarnig begleitet und betreut Diabetiker seit mehr als 25 Jahren. Ihre Erfahrungen gibt die Ärztin für Allgemeinmedizin auf ihrer Webseite als „Zuckertante“ weiter. Die Webseite bietet erste Informationen bei frisch entdecktem Diabetes mellitus Typ 2. Die kostenlosen Videos und Podcasts ersetzen keine Schulung, enthalten aber all die Informationen, die gleich bei der Diagnose an Betroffene vermittelt werden sollten.

Der Online-Klub „Von HbA1c zu HbA1c“ ( www.zuckertante.at/klub ) bietet Menschen mit Diabetes Typ 2 regelmäßige Online-Live-Sprechstunden, wöchentliche Diabetesimpulse, Videos zu vielen Diabetesfragen, Kochrezepte, Entspannungsübungen zur Stressreduktion und Selbstfürsorge etc. Weitere Informationen: www.zuckertante.at

  1. Ziegler D et al.: The epidemiology of diabetic neuropathy. Diabetic Cardiovascular Autonomic Neuropathy Multicenter Study Group. J Diabetes Complications 1992; 6(1): 49-57

  2. ADVANCE Collaborative Group et al.: Intensive blood glucose control and vascular outcomes in pa­tients with type 2 diabetes. N Engl J Med 2008; 358(24): 2560-72

  3. Österreichische Diabetes Gesellschaft (ÖDG): Diabetes mellitus – Anleitungen für die Praxis. Klin Wochenschr 2023; 135(1): 173ff. https://www.oedg.at/pdf/OEDG-Leitlinien-2023.pdf ; zuletzt aufgerufen am 21. 7. 2023

  4. Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft. https://www.ddg.info/fileadmin/user_upload/05_Behandlung/01_Leitlinien/Praxisempfehlungen/2022/dus_2022_Praxisempfehlungen_Morbach_Diabetisches-Fusssyndrom.pdf ; zuletzt aufgerufen am 21. 7. 2023

  5. https://www.facediabetes.at/zahlen-und-fakten.html ; zuletzt aufgerufen am 21. 7. 2023

  6. Guidelines on the prevention of foot ulcers in persons with diabetes; IWGDF 2023 update. https://iwgdfguidelines.org/wp-content/uploads/2023/07/IWGDF-2023-02-Prevention-Guideline.pdf ; zuletzt aufgerufen am 21. 7. 2023

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