
Ärztliche Versorgung obdach- und wohnungsloser Menschen
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Der Verein „neunerhaus – Hilfe für obdachlose Menschen“ wurde 1999 in Wien gegründet und schenkt mittlerweile rund 800 Personen jährlich ein Zuhause, das diesen Namen auch verdient. Neben Sozialarbeitern, die Beratung auf Augenhöhe bieten, hat neunerhaus auch eine umfangreiche medizinische Versorgung für obdachlose, wohnungslose und nichtversicherte Patienten aufgebaut. Im neunerhaus Gesundheitszentrum versorgen Allgemeinmediziner, Sozialarbeiter, Krankenpfleger und Zahnärzte sowie ein Psychologe so jährlich knapp 6000 Patienten, Tendenz steigend. Aber auch außerhalb des Gesundheitszentrums sind mobile Ärztinnen und Ärzte unterwegs, um in diversen Tageszentren und Wohneinrichtungen für die ärztliche Betreuung von deren Bewohnern zu sorgen. Eine davon ist Dr. Irene Lachawitz.
Wenn die Menschen nicht zu uns finden, dann müssen wir zu ihnen!
Seit 19 Jahren ist Lachawitz niedergelassene Allgemeinmedizinerin mit einer Ordination im Brunnenviertel im 16. Wiener Gemeindebezirk und fast genauso lange betreut sie Patienten bei neunerhaus. Als sie 2003 die Ordination von ihrem Vorgänger übernommen hat, war ihr Patientenstock noch im Aufbau, daher hat sie sich nach einer weiteren Tätigkeit umgesehen. Damals hat ihr der mit ihr befreundete und engagierte Arzt Dr. Reinhard Dörflinger vorgeschlagen, sich doch bei neunerhaus zu bewerben. Lachawitz erzählt, dass zu diesem Zeitpunkt das Konzept dieser Einrichtung bahnbrechend war. Obdachlose Menschen durften dort mit Partner und Haustieren wohnen und auch der Alkoholkonsum wurde toleriert, was in der Wohnungslosenhilfe damals nicht selbstverständlich war.
Seinerzeit war Dr. Walter Löffler der ärztliche Leiter von neunerhaus. Er hatte bemerkt, dass viele der wohnungslosen Menschen nicht den Weg in ärztliche Ordinationen bzw. ins geregelte Gesundheitssystem finden, und er beschloss: Wenn die Menschen nicht zu uns finden, dann müssen wir zu ihnen! Relativ schnell fand man andere Wohnungsträger für obdachlose Menschen, die den medizinischen Service auch in Anspruch nehmen wollten. 2006 wurde das Projekt der mobilen Ärztinnen und Ärzte mit Lachawitz und 3 Kollegen gestartet – heute sind über 25 Mediziner in insgesamt 27 Einrichtungen der Caritas, der Volkshilfe Wien, der Heilsarmee, des Roten Kreuzes u.a. als Hausärzte zugange. Erst später kam das neunerhausGesundheitszentrum dazu, in dem obdach- und wohnungslose sowie nicht versicherte Menschen betreut werden.
Lachawitz ist heute im sozial betreuten Wohnhaus Bürgerspitalgasse des Wiener Hilfswerks – einem Wohnhaus für psychisch kranke Frauen – und im Haus Essling der ARGE Nichtsesshaftenhilfe, in dem hauptsächlich Senioren untergebracht sind, tätig.
Es ist Lachawitz wichtig, zu betonen, dass dies keine ehrenamtliche Tätigkeit ist, dass es sich hierbei um bezahlte Arbeitsplätze handelt. Ähnlich wie andere Kollegen ist sie mit 7 Stunden pro Woche angestellt. Finanziert wird dies zum Teil vom Fonds Soziales Wien, der Österreichischen Gesundheitskasse, aber auch durch Spenden. Seit 2004 ist neunerhaus ständiger Träger des Österreichischen Spendegütesiegels.
Wer sind die Patienten?
Anders als im neunerhausGesundheitszentrum sind die Personen, die Lachawitz betreut, in der Regel alle versichert. Häufig sind dies Menschen, die gearbeitet haben, aus irgendeinem Grund Job und Wohnung verloren haben und auf der Straße gelandet sind. Ein Schicksal, das einen schneller ereilen kann, als man glauben würde, schildert die Medizinerin.
Generell ist man als betreuende Hausärztin mit den unterschiedlichsten Lebenswegen konfrontiert, wie sie am Beispiel eines Patienten im Haus Essling schildert. Er ist als junger Mann in die USA ausgewandert und wurde danach relativ schnell in den Vietnamkrieg eingezogen, wo er zweifellos schreckliche Dinge erlebt hat. Nach dem Ende des Krieges hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Da das Sozialsystem in den USA quasi nicht existent ist, kam er nach seiner Pensionierung zurück nach Österreich. Zwar hatte er als Kriegsveteran in den USA eine recht ordentliche Abfertigung bekommen, er hatte dieses Geld jedoch schnell ausgegeben, sodass er bei seiner Rückkunft in die Heimat mittellos war und sich demnach auch keine Wohnung leisten konnte. Heute wohnt der, wie Lachawitz betont, „blitzgescheite“ Mann im Haus Essling. Die Medizinerin erzählt, dass bekannt sei, wie sehr Kriegserlebnisse traumatisieren unddass Veteranen oft nur sehr schwer zurück in das „richtige“ Leben finden.
Wie schnell man den Halt unter den Füßen verlieren kann, hat sie erst so richtig durch ihre Tätigkeit bei neunerhaus erfahren. Lachawitz berichtet, dass bereits eine alltägliche Trennung bzw. Scheidung in Kombination mit Alkohol oder Krankheit zur Wohnungslosigkeit führen kann. Man kann die Miete nicht zahlen, fliegt aus der Wohnung und schon ist man in Richtung Obdachlosigkeit unterwegs.
Kontrolle als Priorität
Alkohol ist generell ein großes Thema bei ihren Patienten, aber natürlich auch alle sonstigen Erkrankungen, die über 65-Jährige haben: Diabetes, Hypertonie, chronische Wunden aufgrund mangelnder Hygiene oder COPD, denn viele sind starke Raucher. Also genau die Themen, die ihr auch in ihrer Allgemeinpraxis begegnen, allerdings sind ihre wohnungslosen Patienten multimorbider und haben aufgrund oftmals jahrzehntelanger Alkoholsucht schwerere Krankheitsverläufe. Dabei gibt es nur ganz wenige, die abstinent werden wollen und auch bleiben können. Dies sei allerdings auch nicht das Ziel der ärztlichen Betreuung, erklärt Lachawitz. Vielmehr liegt die Priorität in der Kontrolle: Im Haus Essling gibt es z.B. eine Kantine, in der die Bewohner auch Alkohol beziehen können. Es wird darauf geachtet, dass die Bewohner ihren Kalorienbedarf nicht nur über den Alkohol decken, sondern auch genügend Mahlzeiten zu sich nehmen.
Auch wenn Alkohol einen entscheidenden Faktor in der Lebensgeschichte vieler Betreuter darstellt, ist das Aggressionspotenzial von Lachawitz’ Patienten so gut wie nicht gegeben. Sie hat noch nie schlechte Erfahrungen mit wohnungslosen Patienten gemacht, etwaige Übergriffigkeiten werden allerdings auch sofort hart sanktioniert.
Der Arzt als wichtige Bezugsperson
Der wöchentliche Besuch Lachawitz’ in „ihren“ Einrichtungen ist ein wichtiger Fixpunkt für deren Bewohner. „Ich habe das Gefühl, dass ich eine wichtige Bezugsperson für die Leute bin, und wenn man es überspitzt formuliert, wahrscheinlich die einzige längerfristige Bindung, die sie in ihrem Leben hatten“, so die Medizinerin.
Mit ein Grund für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen oder Alkoholsucht ist immer ein Mangel an Bezugspersonen. Angefangen in der Kindheit, in der sich oft die Eltern nicht kümmern konnten, zieht sich dieses Fehlen von zwischenmenschlichen Beziehungen meist hinein bis ins Erwachsenenalter.
Lachawitz kennt viele ihrer Patienten schon sehr lange, auch wenn sie sich von so manchen frühzeitig verabschieden musste. Im Haus Essling wohnen zum einen mehrheitlich Senioren, zum anderen muss man sich auch vor Augen halten, dass viele der dort untergebrachten Personen früher als der Durchschnitt sterben – denn Armut macht krank.
In einer anderen Wohnstätte, in der ausschließlich Frauen jeglichen Alters untergebracht sind, ist die Mortalität geringer und es gibt auch immer wieder Erfolgsgeschichten. So berichtet Lachawitz von einer Frau, die schwerst alkoholkrank war und die immer im Bett gelegen ist. Sie hatte allerdings eine Tochter, die bei ihr gelebt hat und die eine große Motivation für diese Frau war, trocken zu werden, was sie auch geschafft hat. Das ist bis heute so und Lachawitz schreibt diesen Erfolg auch der freundlichen Umgebung dieses Frauenhauses zu. Die Frauen unterstützen sich gegenseitig, schauen aufeinander, gehen füreinander einkaufen, kochen und stricken gemeinsam und bilden eine Gemeinschaft, die stabilisiert.
Wien in der Vorreiterrolle
Wie auch der ärztliche Leiter der Suchthilfe Wien, Dr. Hans Haltmayer, immer wieder betont, nimmt Wien in der Versorgung armutsbetroffener Menschen eine besondere Vorreiterrolle ein. In den letzten Jahrzehnten hat sich viel getan, das Betreuungsangebot ist sehr ausgeprägt und man versucht, den Betroffenen niederschwellig zu helfen. Vor allem im Vergleich zu anderen Großstädten wie z.B. Berlin, wo das Angebot nur einen Bruchteil des Wiener Repertoires umfasst, sticht Wien hervor. Allerdings nimmt auch in Österreich die Wohnungslosigkeit seit Jahren zu: In den vergangenen elf Jahren ist sie um 34% gestiegen. Aktuell sind laut Statistik Austria 22038 Menschen in Österreich betroffen, davon 12593 in Wien.
Motiviert im Team
Resümierend meint Lachawitz, dass ihr diese Tätigkeit für viel Verborgenes die Augen geöffnet hat und sie gelehrt hat, über ihren Tellerrand zu blicken. Motivierend sei neben den guten Arbeitsbedingungen auch das Ärzteteam, das mit der Versorgung der neunerhausPatienten betraut ist. Mediziner jeglichen Alters gehören diesem Team an, das von Dr. Stephan Gremmel geleitet wird. Die älteste Kollegin ist 64, die Jungen sind Ende 20, so Lachawitz, die das Voneinanderlernen in diesem Zusammenhang besonders betont. Alle 14 Tage findet ein Meeting der „Mobilen Ärzte“ von neuerhaus statt, in dem man Erfahrungen austauscht, voneinander lernt und Probleme bespricht. Einmal im Jahr kommt dann das ganze neunerhausTeam zusammen, um die letzten Monate Revue passieren zu lassen, um über Erfolge zu sprechen und zu sehen, was man gemeinsam erreicht hat. Diese Treffen sind für die Medizinerin besonders interessant, da man dabei die Gelegenheit hat, Einblicke in all die unterschiedlichen Teilbereiche, die neunerhaus abdeckt, zu bekommen. „Es ist sehr spannend, zu sehen, was so eine Organisation zusammenbringt“, so Lachawitz abschließend, die es als große Bereicherung sieht, ihren Teil dazu beizutragen.
Spenden können Sie unter: www.neunerhaus.at
Bericht:
Dr. Katrin Spiesberger, MSc.