
Zukunftskonzepte in der Niederlassung
Autor:
Priv.-Doz. DDr. Mehmet Özsoy, F.E.B.U.
UROMED Kompetenztentrum Urologie
Präsident des Berufsverbandes der Österreichischen Urologie
E-Mail: office@uromed.at
Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie sind in keinem Sektor so deutlich wie im medizinischen Bereich. Das Personal in Spitälern und im Pflegebereich wurde bei jedem Höchststand an Erkrankten bis an oder über die Grenze belastet und gefordert. Doch die Pandemie hat nur die Spitze des Eisbergs des chronischen Mangels im Gesundheitsbereich aufgezeigt. Vorschläge, diesen zu beheben, liegen auf dem Tisch – in diesem Sinn ist die Diskussion dazu eröffnet.
Das Erfordernis, bereits vor der Pandemie bestehende Missstände zu beheben, konnte oder wollte die Politik angehen. Das Fehlen adäquater Zugeständnisse hat die Situation verstärkt. Dies führt heute zu einem rapiden Schwund an fachlich gut ausgebildetem Personal – dieses sieht sich nach Arbeitsplätzen mit einer humaneren Work-Life-Balance um. Der seit Langem bekannte Mangel an dringend benötigtem Pflegepersonal nimmt immer drastischere Ausmaße an. So belaufen sich die Schätzungen auf 76000 zusätzlich benötigte Personen in der Pflege bis 2030.1
Auch die Urologie ist davon betroffen, die sich einer Reduzierung an Betten und Kapazitäten im OP-Bereich gegenübersieht. Daraus resultieren unzumutbar lange Wartezeiten von bis zu einem Jahr für Patienten vor allem bei ambulanten Untersuchungen wie der Urodynamik oder Eingriffen bei gutartigen Veränderungen im äußeren Genitalbereich sowie der Prostata. Aber auch Ureteroskopien zur Entfernung von Harnleitersteinen können oft erst nach einigen Monaten durchgeführt werden.
Finanzieller Druck wird größer
Zu den organisatorischen Hürden der medizinischen Versorgung gesellen sich finanzielle Probleme durch die Inflation, die Wirtschaftskrise, die Pandemie und den Krieg in der Ukraine. Das IHS geht in seiner Prognose für das Jahr 2023 von einem Wirtschaftswachstum von lediglich 0,3%, einer steigenden Arbeitslosigkeit und einer anhaltend hohen Teuerung aus.2 Die Entwicklung nach 2023 ist aus heutiger Sicht kaum abschätzbar.
Es ist davon auszugehen, dass das Geld an allen Stellen knapp wird, also auch in der Finanzierung des Gesundheitsbereichs. Die Politik könnte dazu neigen, bestimmte Leistungen bzw. Behandlungen in den privatmedizinischen Sektor auszulagern. Die Schere zwischen Vertrags- und Wahlärzten wird immer größer. Während die Zahl an Privat- und Wahlarztpraxen steigt, stagniert die Zahl der Vertragspraxen bei knapp über 8000 Stellen.3 Dieser Trend könnte sich in der Krise noch weiter verstärken und dies könnte das Interesse von Investoren wecken, die zunehmend in den medizinischen Bereich drängen. So wurden in Deutschland in den vergangenen Jahren Hunderte Augenordinationen (Kassenordinationen) durch internationale Finanzinvestoren übernommen,4 indem diese Kassenverträge aufkauften. Der entstehende finanzielle Druck auf angestellte Ärzte führt dazu, dass immer mehr Operationen durchgeführt werden, statt den Patient*innen eine adäquate Versorgung anzubieten.
Dieser und die bereits erwähnten Punkte bekräftigen unsere Funktion und Verantwortung als Mediziner, einerseits der Politik den richtigen, „patientenorientierten Weg“ zuzeigen und uns anderseits effizientere Konzepte zu überlegen, womit wir die Versorgung auch in schweren Zeiten aufrechterhalten können.
Unsere Maxime muss dabei immer das Wohl der Patient*innen sein, gleichzeitig dürfen und müssen wir auch im Hinblick auf eine langfristige Versorgung an die Work-Life-Balance des Fachpersonals denken. Eine Verringerung des bürokratischen Aufwandes würde eine Entlastung bringen und Ressourcen freispielen.
Mögliche Lösung: Stärkung der niedergelassenen Urologie
Ein möglicher Weg, dies zu erreichen, wäre die Gründung von chirurgischen Schwerpunktordinationen durch Urolog*innen im niedergelassenen Bereich. Dort könnten mehrere Ärzt*innen gemeinsam arbeiten (Anstellung oder Gruppenpraxis), längere Öffnungszeiten anbieten und die Patientenversorgung besser abdecken als in gewöhnlichen Einzelordinationen. Darüber hinaus könnten einige Untersuchungen und Eingriffe übernommen werden, die zurzeit nur im Spital durchgeführt werden. Aktuell fehlt es an der Honorierung dieser Leistungen im niedergelassenen Bereich. Viele Verfahren wären in einer Ordination ebenso gut durchführbar und würden den Spitalsbereich entlasten. Dazu gehören z.B.: Urodynamik, Fusionsbiopsie/Mikro-US-Biopsie der Prostata, SWL, Botoxinjektionen und Kleinchirurgie: Cici, Laserabtragung von Condylomen, Hydrozelenresektion.
In der Praxis hat sich in den letzten 30 Jahren die ambulante Chirurgie in Deutschland zu einer unverzichtbaren Säule der Patientenversorgung entwickelt. Die Auslagerung von Leistungen muss als Chance gesehen werden, den klinischen Sektor durch Überführung von diagnostischen, therapeutischen sowie operativen Prozeduren in ambulante, nicht vollstationäre Behandlungsabläufe zu entlasten.5
In Anbetracht des demografischen Wandels und der erwähnten Problemfelder zeigt sich in einer Erweiterung und Stärkung des niedergelassenen Bereiches die größte Chance, zukünftig eine angemessene Patientenversorgung sicherzustellen.
Herausforderungen für Medizin und Politik bei der Umsetzung
Dabei muss trotz aller Herausforderungen klar sein, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt. Patient*innen wünschen sich schnellere Termine sowohl in der Niederlassung als auch im Spital. Sie bevorzugen „One-Stop-Shops“, d.h., Untersuchungen und Behandlungen sollen möglichst an einem Ort stattfinden. Auch die Politik möchte die Versorgungssicherheit gewährleisten, müsste dabei aber offen für innovative Weg sein. So würde neben dem Abbau der Bürokratie die flexiblere Anstellung in Kassenordinationen (z.B. Teilzeit) das ganze System entlasten und Fachärzten neue Möglichkeiten eröffnen. Ein weiteres Thema ist der Ausbau der Lehrpraxis. Eine Lehrpraxis darf derzeit nur für ein Jahr und nur im letzten Abschnitt der Ausbildung gemacht werden.
Interesse auf Seiten von Assistent*innen
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion während der diesjährigen Austrian School of Urology im Juni hatte ich die Gelegenheit, die Vorteile und das Arbeitsumfeld des niedergelassenen Bereiches vorzustellen. Es fand eine rege Diskussionsrunde statt und die jungen Kolleg*innen zeigten ein großes Interesse an der ärztlichen Tätigkeit im niedergelassenen Bereich.
Mehr als 60% der Befragten würden sich für eine Lehrpraxis interessieren. Diese Ergebnisse korrelierten mit den Umfragen des Arbeitskreises für AssistenzärztInnen, in der ein Großteil der Befragten angab, dass es wichtig sei, die Tätigkeiten des niedergelassenen Bereiches im Rahmen der Ausbildung kennenzulernen.
Ein Verbesserungsvorschlag wäre, dass interessierte Assistent*innen länger und früher in die Lehrpraxis kommen oder in flexibleren Abschnitten ihrer Ausbildung mitwirken können. Eine Erweiterung der Lehrpraxis auf zwei Jahre bereits nach der Grundausbildung wäre eine Möglichkeit. Weitere Konzepte, bei denen Assistenzärzt*innen für 3 oder 6 Monate in die Lehrpraxen wechseln, dort z.B. Urodynamik, Fusionsbiopsie oder kleinchirurgie lernen und währenddessen noch im Spital Dienste machen, sind ebenso anzudenken.
Fazit
Eine Auslagerung der Leistungen in den niedergelassenen Bereich und der Ausbau von Schwerpunkt-Ordinationen wäre eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Spitäler würden entlastet, mehr Ressourcen für komplexe Behandlungen und Forschung wären wieder frei und Patienten würden schneller Termine bekommen.
Letztlich können wir die Zukunft nur gemeinsam gestalten. Wir müssen die Probleme jetzt erkennen und gemeinsam mit unseren Sozialpartnern und der Politik patientenorientierte Lösungen finden. Wir müssen unseren Spitalsbereich und die Niederlassung attraktiver gestalten, damit wir gegen die Auswanderung unserer Ärzt*innen gegensteuern können.
Literatur:
1 Studien des BMSGPK zum Pflegesektor in Österreich ( sozialministerium.at ) 2 Kurzfassung IHS Konjunkturprognose 2022 10 Herbst 3 Faktencheck: Wer ist schuld am Kassenärzte-Mangel? ( profil.at ) 4 Augenheilkunde: Spekulanten greifen nach Arztpraxen. tagesschau.de 5 Deindl C, Neumann A: Die Zukunft des ambulanten Operierens – die Urologie. Springer Medizin Verlag GmbH 2022; 829-38
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