
Wie die wertorientierte Gesundheitsversorgung die Herausforderungen unseres Gesundheitssystems bewältigen könnte
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Shahrokh F. Shariat
Universitätsklinik für Urologie,
Medizinische Universität Wien
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Das Gesundheitssystem in Österreich ist, genau wie in vielen anderen Ländern der Welt, mit einem grundlegenden Problem konfrontiert: Es ist nicht so organisiert und strukturiert, dass es den Mehrwert für die Patient*innen ins Zentrum stellt. Das hat viele Gründe, unter anderem ist die Gesundheitsindustrie nicht auf die Patient*innen und ihre Bedürfnisse ausgerichtet.
In Österreich haben glücklicherweise alle Menschen dank des allgemeinen Versicherungssystems ungehinderten Zugang zu medizinischer Versorgung. Dieses System ist jedoch nicht primär auf Nutzen ausgerichtet. Staatliche Krankenhäuser werden beispielsweise dafür belohnt, dass sie die Kosten niedrig halten, indem sie verschiedene Maßnahmen ergreifen, die eine optimale Versorgung der einzelnen Patient*innen erschweren. Darunter fallen zum Beispiel Beschränkungen des Zugangs zum Krankenhaus (aktuell unter dem Vorwand von Corona oder von Pflegemangel), das Ausüben von Druck auf Ärzt*innen, internationalen Patient*innen trotz Kostendeckung die Behandlung zu verweigern, oder unattraktive Gehaltsstrukturen für das Gesundheitspersonal, die zu wiederholten Streichungen von Dienstleistungen (Schließung von Stationen, Absagen von Operationen) und anderen Services führen.
Abwälzung von Kosten
Privatkliniken werden im Gegensatz dazu für die Steigerung des Patient*innenaufkommens und für die Verlagerung komplizierter Fälle in staatliche Krankenhäuser belohnt. Die Krankenkassen versuchen systematisch, die Preise von Unternehmen und Anbieter*innen herunterzuhandeln und verlieren dabei das Ziel aus den Augen, die Gesundheit der Patient*innen zu verbessern. Darüber hinaus ist fraglich, ob private Krankenversicherungen ihre Patient*innen bei der Verbesserung ihres Gesundheitszustands wirklich unterstützen. Der Markt belohnt nicht den Nutzen, sondern die Volumen- und Kostenverschiebung, das heißt, die Abwälzung der Kosten von einer Einrichtung auf eine andere und die zunehmende Überwälzung der Kosten auf die kranken Menschen.
Fragmentierung der Gesundheitsversorgung
Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Organisation der Gesundheitsversorgung nicht auf die Bedürfnisse der Patient*innen abgestimmt ist, ist die Zersplitterung der Gesundheitsversorgung, die nach Fachgebieten und Eingriffen organisiert ist.
So konsultieren die Patient*innen auf der Suche nach der Lösung für ihre medizinische Frage unterschiedliche Fachärzt*innen in verschiedenen Abteilungen und unterziehen sich diversen Eingriffen, die von getrennten Verwaltungsstrukturen finanziert werden. Wirklichen Mehrwert würde es schaffen, wenn es gelänge, die Expertise der Fachrichtungen und die erforderlichen Maßnahmen über den gesamten Versorgungszyklus der Patient*innen zu integrieren. Das gilt für alle Krankheiten des Menschen, seien es Diabetes, Krebs, Demenz oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Versorgung ist derzeit auf die traditionellen Abteilungen und Fachgebiete ausgerichtet, die sich mit den jeweiligen Erkrankungen befassen.
Kritisch zu bewerten ist, dass wir den erbrachten Wert nicht umfassend messen – wir messen nicht einmal die Gesundheitsergebnisse. Es ist sehr schwer, den Wert in einem Gefüge zu steigern, in dem er nicht erfasst wird und in dem die Preisgestaltung die Fragmentierung und die mangelnde Koordination im System noch verstärkt.
Heute bezahlen wir im Wesentlichen für einzelne Dienstleistungen. So entlohnt zum Beispiel das Versicherungssystem den Arzt/die Ärzt*in getrennt vom Krankenhaus, den Radiologen/die Radiolog*in getrennt von dem Chirurgen/der Chirurg*in, den Chirurgen*die Chirurg*in getrennt von dem Anästhesisten/der Anästhesist*in, das Krankenhaus getrennt vom Rehabilitationszentrum oder den Arzt/die Ärzt*in in der Praxis getrennt von dem Arzt/der Ärzt*in im Krankenhaus. Dieses Vergütungssystem ermutigt die verschiedenen Dienstleister*innen dazu, unabhängig voneinander die gleiche Leistung mehrfach zu erbringen, anstatt den Gesamtwert zu optimieren, der im Hinblick auf die Patientenergebnisse pro ausgegebenem Euro tatsächlich erbracht wird.
Mit anderen Worten: Das Grundproblem unseres derzeitigen Gesundheitssystems ist, dass die Struktur des Systems vom Wert abgekoppelt ist.
Verbesserungen sind möglich: elektronische Krankenakte
Wir können jedoch viel tun, um den Nutzen zu verbessern. Ein einheitliches elektronisches Patient*innendatensystem ist z.B. eine notwendige Technologie, die tief in die Gesundheitsversorgung eingebettet werden muss. Sie ermöglicht eine integrierte Versorgung, bei der alle Expert*innen, Fachrichtungen und Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens über dieselben Informationen verfügen. Das ist vor allem wichtig, wenn es um den Austausch von Informationen, um die vollständigen Daten der Patient*innen oder ihren Gesundheitszustand geht. Derzeit ist es so, dass jede Praxis und jede Fachrichtung ihre eigenen Unterlagen hat und häufig nicht informiert ist, welche Leistungen bereits von anderen Gesundheitsdienstleister*innen erbracht wurden. Wir wissen auch, dass elektronische Krankenakten eine Plattform für die Maßnahmenbewertung sind, d.h., dass sie für die sorgfältige Messung der Ergebnisse über den gesamten Behandlungszyklus hinweg genutzt werden können. Elektronische Krankenakten könnten auch die exakte Ermittlung der Gesamtkosten ermöglichen. Derzeit interessieren wir uns nicht wirklich für die Kosten eines einzelnen Eingriffs, sondern für die Kosten des gesamten Versorgungszyklus. Wir müssen aber die Gesamtkosten optimieren und nicht versuchen, die Belastungen für einzelne Eingriffe zu minimieren.
In der Tat wissen wir, dass wir im Gesundheitswesen mehr für bestimmte Dinge wie Screening und Früherkennung ausgeben sollten, was im späteren Verlauf des Behandlungszyklus zu Ersparnissen führt, weil es zum Beispiel Zusatztherapien, Krankheitsrückfälle oder Komplikationen minimiert. Ohne elektronische Krankenakten, die wirklich alle Fachbereiche und Dienstleistungen innerhalb und außerhalb des Krankenhauses abdecken, können wir jedoch nicht einmal ansatzweise über diese Fragen nachdenken.
Innovation ist gefragt
Ein weiterer Teil des Weges zur Überwindung der Grenzen des heutigen Gesundheitswesens ist die Förderung von Innovation. In der Tat verändert und verbessert sich die medizinische Wissenschaft sehr schnell. Ein ideales neues Gesundheitsversorgungssystem muss auf ständige Innovation ausgerichtet sein. Ein solches System muss schnell die neuesten Technologien, Geräte, Protokolle, Medikamente und Dienstleistungen einführen, die es Ärzt*innen ermöglichen, effizienter zu arbeiten, die Patient*innen dabei unterstützen, schneller gesund zu werden, und die helfen, Komplikationen zu verringern.
Zurzeit setzen wir Innovationen nicht ausreichend effizient ein. Das liegt vor allem daran, dass es für die Leistungserbringer*innen im Gesundheitswesen keine Anreize gibt, diese zu integrieren. Zusätzlich arbeiten die Akteur*innen unseres Gesundheitsversorgungsmodells isoliert voneinander und betrachten ihren kleinen Teil des Patient*innenversorgungszyklus für sich. In der Tat wird Innovation von der Verwaltung und den Kostenträgern/Versicherungen oft als Feind wahrgenommen. Bei jeder Innovation müssten wir bewerten, wie sie den gesamten Krankheitszyklus verändern kann und wie wir den gesamten Prozess kontinuierlich optimieren können. Viele der Bedenken hinsichtlich des Einsatzes und der Kosten von neuen Technologien im Gesundheitswesen sind nicht der Technologie selbst geschuldet, sondern spiegeln die Art unseres Gesundheitssystems und die Weise, wie wir bezahlen, wider.
Ergebnis- statt Prozessmessung
Wir müssen und können die Ergebnisse der Gesundheitsversorgung wirksam messen. Diese Bestrebungen nehmen jetzt erfreulicherweise Fahrt auf. Leider besteht der Ansatz derzeit jedoch darin, die Prozesse der Versorgung, nicht aber die Ergebnisse zu ermitteln.
Versorgungsprozesse sind zum Beispiel Fragen, ob der Arzt/die Ärzt*in das richtige Medikament zur richtigen Zeit verschrieben hat oder ob der richtige Test zur richtigen Zeit durchgeführt wurde. Im Grunde genommen erfolgt die Messung von Prozessen, also der Art und Weise, wie Ärzt*innen/Teams Medizin praktizieren, auf der Grundlage der evidenzbasierten Medizin der Vergangenheit. Diese Prozesse ergeben sich häufig aus Leitlinien, die zusammenfassen, was wir aus klinischen Studien und Expertenkonsensen gelernt haben. Sie dienen dazu, sicherzustellen, dass der Arzt/die Ärzt*in das Richtige tut.
Das grundsätzliche Problem bei der Messung von Prozessen ist, dass sie nicht einmal einen kleinen Teil der Komplexität der tatsächlichen Versorgung von Patient*innen erfassen – und das selbst bei relativ einfachen Krankheiten. In der Tat gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die bei der Behandlung einzelner Patient*innen eine Rolle spielen. Leitlinien können diese niemals alle abdecken. Das Problem mit Leitlinien ist, dass sie den Status quo einfrieren: Sie sind innovationsfeindlich. Leitlinien hinken immer Monate bis Jahre hinter den besten Methoden her. Wenn man also Ärzt*innen zwingt, Leitlinien zu befolgen, anstatt ihnen zu ermöglichen, herauszufinden, wie sie ihr Handeln verbessern können, bremst man Innovation. Wir müssen daher vom Prozessansatz, den wir derzeit verwenden, zum Ansatz der Ergebnismessung übergehen. Klarerweise ist es notwendig, die Prozesse weiterhin zu messen, diese Tätigkeit kann man aber den Anbieter*innen und den Organisationen selbst überlassen.
In keiner anderen Branche vergleicht man Prozesse zwischen Unternehmen, vielmehr erfolgen Ergebnismessungen. Im Fall der Urologie geht es dabei um gesundheitliche Ergebnisse. Wir müssen zum Beispiel messen, wie gut es dem Patienten/der Patient*in ging, ob er/sie überlebt hat, wie nah er/sie an der Genesung war, wie schnell diese verlief, wie komplex der Prozess war, wie schwerwiegend die Komplikationen waren, wo und wie oft es Rückfälle gab und wie schnell oder wie schwerwiegend diese waren. Unglücklicherweise hat diese Vorgangsweise in Österreich noch nicht einmal ansatzweise Fuß gefasst, obwohl die Messung der Ergebnisse der größte Hebel zur Verbesserung des Gesundheitswesens für jeden Leistungserbringer und jedes Krankenhaus bei jeder Erkrankung ist.
Es gibt eine wachsende und überzeugende Menge an Literatur, die beweist, dass wir durch die Messung von Ergebnissen dramatische Wertsteigerungen erzielen können, indem wir nicht nur die Gesundheit der Patient*innen verbessern, sondern gleichzeitig auch die Kosten für ihre Versorgung senken. Ich hoffe, dass wir allmählich unsere Bequemlichkeit und unseren mangelnden Willen überwinden können, um zu begreifen, dass die Messung von Gesundheitsergebnissen der erste Schritt zu einer wirklichen Verbesserung des Gesundheitswesens sowohl für die Patient*innen als auch für die Gesellschaft ist.
Zusammengefasst bin ich der Überzeugung, dass die wertorientierte Gesundheitsversorgung heute eines der wichtigsten Themen in der Transformation des Gesundheitswesens ist. Wertorientierte Ansätze zur Organisation der Gesundheitsversorgung sind entscheidend für die Verbesserung der Gesundheitsergebnisse von Patient*innen weltweit und für die Kontrolle der Gesundheitskosten, die zunehmend unbeherrschbarer werden. Insbesondere wir als Ärzt*innen dürfen nicht vergessen, dass der Wert für die Patient*innen das übergeordnete Prinzip bei der Organisation und der Verwaltung eines Gesundheitsversorgungssystems sein muss.
Durch eine wertorientierte Gesundheitsversorgung ermöglichen wir die kontinuierliche Suche nach dem optimalen Kompromiss zwischen objektivem und subjektivem Nutzen für die einzelnen Patient*innen. Damit können die hohe Qualität und die Kosteneffizienz der medizinischen Versorgung für alle Patient*innen nachhaltig gesichert werden.
Konsequenterweise sollten wir in der Urologie auch bei anderen Aspekten der wertorientierten Gesundheitsversorgung Vorreiter*innen sein: Zum Beispiel bei der Entwicklung und der Umsetzung von Strategien für eine symbiotische Partnerschaft zwischen niedergelassenen Ärzt*innen und Spitalsärzt*innen. Nur so können wir nachhaltig mehr für unsere Patient*innen erreichen.
Literatur:
beim Verfasser
Termin
8th Michael J. Marberger Annual Meeting
Frontiers in Urology
16. Dezember 2022, ab 13:00 Uhr
Ort:
Van-Swieten-Saal, Van-Swieten-Gasse 1a, 1090 Wien
Wissenschaftliche Leitung:
Univ.-Prof. Dr. Shahrokh F. Shariat
Univ.-Klinik für Urologie
Comprehensive Cancer Center
Medizinische Universität Wien
Das 8th Michael J. Marberger Annual Meeting ist ein intensives, interaktives halbtägiges Fortbildungsprogramm, das renommierte internationale Experten zusammenbringt, um über Grenzen in der Urologie zu diskutieren. Es erwarten Sie einige der innovativsten Gastredner, darunter Bertrand Tombal, Marek Babjuk, Eva Comperat, Maria DeSantis, Dimitry Enikeev, Paolo Gontero, Sakineh Hajebrahimi, Brian Keith McNeil, Peter Nyirady, Ganesh Palapattu, Manuela Schmidinger und Kemal Sarica.
Die Tagung fokussiert auf wichtige klinische Themen bei der Behandlung von urologischen Krebserkrankungen sowie von Urolithiasis, Inkontinenz und BPH. State-of-the-Art-Vorträge geben Klinikern und wissenschaftlich Forschenden ein Update über die wichtigsten Themen des Jahres 2022, mit dem Ziel, ein hohes Versorgungsniveau weiterhin beizubehalten und Outcomes zu optimieren.
Weitere Informationen, Programm und Anmeldung: www.mjm-meeting.at