
Nykturie-assoziierte Lebensqualität bei Männern mit benignem Prostatasyndrom
Autor:
Prof. Dr. Martin C. Michel
Institut für Pharmakologie
Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
E-Mail: marmiche@uni-mainz.de
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Kaum ein Symptom des unteren Harntrakts beeinträchtigt die Lebensqualität so sehr wie die Nykturie und kaum ein Symptom ist so schwer zu behandeln.1 Typische Medikamente zur Behandlung des benignen Prostatasyndroms (BPS) wie α-Blocker oder 5α-Reduktasehemmer oder zur Therapie der überaktiven Blase wie Antimuskarinika oder β3-Adrenozeptoragonisten zeigen relativ zu Placebo nur eine geringe bis gar keine Wirksamkeit in Dosen, mit denen andere Symptome des unteren Harntrakts deutlich verbessert werden.
Keypoints
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Nykturie ist ein Symptom mit multifaktorieller Genese. Beim BPS-Patienten spielen bekannte nicht urologische Ursachen nur eine deutlich untergeordnete Rolle.
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Die Behandlung mit Tamsulosin OCAS und wahrscheinlich auch anderen BPS-Medikamenten verbessert die Nykturie und die damit assoziierte QoL substanziell, möglicherweise wesentlich durch einen Placeboeffekt.
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Komorbiditäten und Lebensstilfaktoren spielen für die Verbesserung der Nykturie und der damit assoziierten Lebensqualität nur eine untergeordnete Rolle.
Eine Theorie zur Erklärung der schwierigen Behandelbarkeit der Nykturie besagt, dass diese eine multifaktorielle Genese hat.Das bedeutet: Auch wenn man eine Ursache wie BPS oder überaktive Blase erfolgreich behandelt, könnte das nur begrenzte Wirkung auf die Gesamtsymptomatik haben, da diejenigen Komponenten nicht beeinflusst werden, die von vielen anderen, teilweise nicht urologischen Erkrankungen und nicht pathologischen Faktoren verursacht werden. Bekannte nicht urologische Ursachen der Nykturie sind u.a. die Herzinsuffizienz, ein (schlecht eingestellter) Diabetes mellitus, das Schlafapnoe-Syndrom, die Einnahme von Diuretika, große Flüssigkeitszufuhr oder Alkoholkonsum. In einer kürzlich publizierten Studie sind wir der Rolle dieser Faktoren detailliert nachgegangen.2
Methodik
In einer nicht interventionellen Studie wurden 5775 Männer mit BPS für 12 Wochen beobachtet, denen von ihren Urologen 0,4mg/Tag Tamsulosin OCAS verschrieben worden war. Primäres Ziel der Studie war, die Wirkung auf Nykturie und Nykturie-assoziierte Lebensqualität („quality of life“; QoL) zu untersuchen; zusätzliches Ziel war die Erkundung von weiteren mit der QoL assoziierten Faktoren. Hierbei wurde außer dem IPSS und seiner Frage zur QoL auch ein validierter Fragebogen zur Nykturie-assoziierten QoL (NQoL) sowie zu seinen beiden Subdomänen von Beeinträchtigung und Schlaf (NQoL-bother bzw. NQoL-sleep) verwendet.3–5 Im Gegensatz zur QoL-Frage des IPSS ist beim NQoL ein niedrigerer Wert schlechter.
Zentrales analytisches Instrument waren multivariate Regressionsanalysen. Da andere Faktoren sowohl indirekt über eine Beeinflussung der Nykturie als auch direkt (also unabhängig von der Nykturie) die QoL beeinflussen können, wurden solche Analysen mit und ohne Berücksichtigung der Nykturieepisoden vorgenommen. Die Studienteilnehmer entsprachen den üblicherweise in deutschen Urologiepraxen beobachteten BPS-Patienten (Tab.1 und Abb.1). Hierbei ist besonders relevant, dass mehr als ein Drittel Nykturie-relevante Komorbiditäten berichteten, 11,4% die Einnahme von Diuretika, 18,6% eine große Trinkmenge und 24,0% einen Alkoholkonsum am Vortag.
Ergebnisse
Die 12-wöchige Behandlung mit Tamsulosin OCAS zeigte eine substanzielle Verbesserung der BPS-Symptome (Abb. 1), wie sie auch in anderen nichtinterventionellen Studien beobachtet worden war. Insbesondere verminderte sich der IPSS um 48% und die Anzahl der Nykturieepisoden um 50%, während sich die krankheitsspezifische QoL um 57% und die NQoL um 64% verbesserten.
Abb. 1: Veränderung der BPS-Symptome nach 12-wöchiger Behandlung mit 0,4 mg/Tag Tamsulosin OCAS. Die Daten sind Mittelwerte ± Standardabweichung
Tab. 1: Demografie, Vorbehandlungen, Komorbiditäten und andere Nykturie-relevante Faktoren vor Behandlungsbeginn. Die Daten sind Mittelwerte ± Standardabweichung oder % der teilnehmenden Männer (Mehrfachnennungen möglich)
Unerwünschte Wirkungen wurden bei 64 Männern insgesamt 82-mal berichtet, sie umfassten vorwiegend Schwindel (n=14); alle anderen Nebenwirkungen traten bei weniger als 10 von 5775 Teilnehmern auf. Die allgemeine Verträglichkeit wurden von 94% der Teilnehmer als gut bis sehr gut bewertet.
In der Analyse der Basalwerte durch multivariate Regressionsanalysen zeigte sich, dass eine Komorbidität von Herzinsuffizienz oder Diabetes oder eine erhöhte Flüssigkeitszufuhr zu einem statistisch signifikant niedrigeren NQoL führten (schlechterer Wert). Allerdings waren die diesen Faktoren zugeordneten Unterschiedsgrößen nur gering. So betrug der NQoL bei Männern ohne und mit Herzinsuffizienz 39,6 bzw. 36,1 Punkte. Ein gleichzeitig bestehender Diabetes verschlechterte den NQoL von 39,7 auf 35,9 Punkte. Wurden die gleichen Analysen unter Berücksichtigung der individuell berichteten Anzahl von Nykturieepisoden wiederholt, verringerten sich die Unterschiede. Für die Herzinsuffizienz waren sie nicht mehr statistisch signifikant und für Diabetes betrug der Gruppenunterschied nur noch 1,7 Punkte.
Hingegen hatte die Anzahl der berichteten Nykturieepisoden einen deutlichen Effekt: Bei 0–1 Episoden betrug die NQoL 58,7 Punkte, verschlechterte sich mit zunehmender Anzahl graduell und betrug bei 5 oder mehr Episoden nur noch 24,1 Punkte. Multivariate Regressionsanalysen wurden auch für die behandlungsassoziierte Veränderung der NQoL und ihrer Subdomänen durchgeführt. Während sich die NQoL in der Gesamtgruppe um 28,4 ± 23,3 Punkte verbesserte, fiel diese Verbesserung bei höherem Alter, Vorliegen von Herzinsuffizienz oder Diabetes oder Verwendung von Schlafmitteln geringer aus. Allerdings waren auch hier die Unterschiede gering: So betrug die Verbesserung nach Adjustierung für alle anderen Faktoren bei Männern ohne Diabetes 21,0 Punkte und bei Männern mit Diabetes 18,8 Punkte. Wurden diese Berechnungen unter Einbeziehung der Veränderung der Anzahl der Nykturieepisoden wiederholt, waren die Ergebnisse ähnlich: Ohne Diabetes betrugen sie 24,1 Punkte, mit Diabetes 22,1 Punkte.
Der quantitativ wichtigste statistische Faktor zur Erklärung der Verbesserung der NQoL war die Veränderung der Anzahl der Nykturieepisoden: Je mehr sie abnahm, desto stärker verbesserte sich die NQoL. Wenn die Anzahl nicht abnahm, verbesserte sich die NQoL um 11,4 Punkte, wenn sie um 3 oder mehr Episoden abnahm, aber um 36,3 Punkte. Details dieser Berechnungen können der Originalpublikation entnommen werden;2 Sonderdrucke sind vom Autor erhältlich.
Diskussion
Abb. 2: Veränderung der krankheitsspezifischen und Nykturie-assoziierten QoL nach 12-wöchiger Behandlung mit 0,4 mg/Tag Tamsulosin OCAS. Die Daten sind Mittelwerte ± Standardabweichung
Die Studienpopulation sowie die Wirksamkeit von Tamsulosin OCAS in der vorliegenden Studie war vergleichbar mit der der Kapselformulierung von Tamsulosin6,7 oder anderen α-Blockern in nicht interventionellen Studien.8, 9 Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die von uns erhobenen Befunde repräsentativ für die Situation urologischer Praxen in Deutschland sind.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass typische BPS-Medikamente wie α-Blocker oder 5α-Reduktasehemmer relativ zu Placebo die Anzahl der Nykturieepisoden kaum beeinflussen, typischerweise um maximal 0,3 Episoden pro Nacht.1 In unserer nichtinterventionellen Studie nahm sie aber im Gruppenmittel um 1,4 Episoden ab. Ähnlich starke Verbesserungen waren auch in anderen nichtinterventionellen Studien beobachtet worden.1 Es ist deshalb davon auszugehen, dass die hier beobachtete Verbesserung eine wesentliche Placebokomponente enthält. Das ist relevant für das mechanistische Verständnis der Daten, dem Patienten dürfte es aber egal sein, warum sich die Anzahl seiner Nykturieepisoden bei guter Verträglichkeit der Behandlung ungefähr halbiert hat.
Unsere Daten bestätigen, dass die basale Anzahl der Nykturieepisoden statistisch ein sehr wichtiger Faktor für die krankheitsspezifische QoL, wie sie im IPSS erfasst wird, und die Nykturie-spezifische QoL ist. Andererseits fanden sich in dieser typischen BPS-Population zwar Assoziationen von NQoL und Komorbiditäten, diese trugen aber statistisch nur wenig zur berichteten NQoL bei. Diese Beiträge verminderten sich weiter, wenn für die berichtete Anzahl der Nykturieepisoden adjustiert wurde. Dies zeigt, dass Komorbiditäten für die bei BPS-Patienten beobachtete Nykturie nur von untergeordneter Bedeutung sind. Die NQoL kann nicht nur durch mehr Nykturieepisoden beeinträchtigt werden, sondern auch davon unabhängig durch allgemein mit den Komorbiditäten einhergehende Faktoren, wie zum Beispiel durch bei Diabetes entstehende Polyneuropathie.
Die Behandlung mit Tamsulosin OCAS verringerte die Anzahl der Nykturieepisoden und verbesserte die NQoL und ihre Subdomänen deutlich. Diese Verbesserung war bei Männern mit Komorbiditäten geringfügig weniger stark, hatte aber weiterhin ein klinisch relevantes Ausmaß. Wie stark sich die NQoL verbesserte, hing zumindest statistisch wesentlich davon ab, wie sehr sich die Anzahl der Nykturie-Episoden verminderte. Typische BPS-Medikamente haben relativ zu Placebo nur einen geringen Einfluss auf die Nykturie.1 Diese und frühere Daten1 weisen aber darauf hin, dass in der Praxis im Gruppenmittel mit einer Verringerung der Nykturie in klinisch relevantem Ausmaß gerechnet werden kann, wahrscheinlich zumindest teilweise durch einen Placeboeffekt. Unsere Daten belegen dies nur für Tamsulosin OCAS, dies gilt aber wahrscheinlich auch für andere BPS-Medikamente. Komorbiditäten und Faktoren der Lebensführung wie Flüssigkeitszufuhr oder Alkoholkonsum scheinen bei BPS-Patienten für die NQoL nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Literatur:
1 Schneider T et al.: Nocturia - a non-specific but important symptom of urological disease. Int J Urol 2009; 16: 249-56 2 Michel MC et al.: Factors associated with nocturia-related quality of life in men with lower urinary tract symptoms and treated with tamsulosin oral controlled absorption system in a noninterventional study. Front Pharmacol 2020: 11: 816 3 Abraham L et al.: Development and validation of a quality-of-life measure for men with nocturia. Urology 2004; 63: 481-6 4 Cai T et al.: Impact of surgical treatment on nocturia in men with benign prostatic obstruction. BJU Int 2006; 98: 799-805 5 Chartier-Kastler E, Davidson K: Evaluation of quality of life and quality of sleep in clinical practice. European Urology Supplement 2007; 6: 576-84 6 Michel MC et al.: Tamsulosin treatment of 19,365 patients with lower urinary tract symptoms: does comorbidity alter tolerability? J Urol 1998: 160: 784-91 7 Michel MC et al.: Does time of administration (morning vs. evening) affect the tolerability or efficacy of tamsulosin? BJU Int 2001; 87: 31-4 8 Lukacs B et al.: Safety profile of 3 months’ therapy with alfuzosin in 13,389 patients suffering from benign prostatic hypertrophy. Eur Urol 1996; 29: 29-35 9 Höfner K: Wirksamkeit und Sicherheit von Alfuzosin SR bei der BPH. Erfahrungen einer Anwendungsbeobachtung mit 11562 Patienten. Urologe B 1998; 38: 452-7
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