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Harnbelastungsinkontinenz und pelviner Organprolaps: Mission impossible?
Urologik
Autor:
Priv.-Doz. Dr. Peter Rehder
Leitender Oberarzt<br> Leiter der Rekonstruktiven Urologie<br> Universitätsklinik für Urologie<br> Medizinische Universität Innsbruck<br> E-Mail: peter.rehder@i-med.ac.at
30
Min. Lesezeit
13.12.2018
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<p class="article-intro">Die Harnbelastungsinkontinenz beschreibt den unfreiwilligen Harnabgang zeitgleich mit Belastung. Der symptomatische Beckenboden-/Organprolaps kombiniert mit Harnverlust stellt eine komplexe Situation dar. Die Beckenbodensonografie hat sich in der Urogynäkologie etabliert. Die Indikation zur operativen Therapie ist nur nach genauer Abklärung möglich. Die Verwendung von Netzen unterliegt inzwischen strengen Kriterien.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Eine kombinierte Harninkontinenz mit pelvinem Organprolaps muss urogynäkologisch/ gynäkourologisch abgeklärt werden.</li> <li>Bildgebend ist die translabiale Beckenboden-/Perinealsonografie ausschlaggebend.</li> <li>Urologisch ist eine Videourodynamik hilfreich, vor allem der Ausschluss einer deutlichen Detrusorüberaktivität.</li> <li>Die Netzkorrektur eines ausgeprägten Beckenbodenprolapses scheint bei korrekter Indikation sinnvoll.</li> </ul> </div> <h2>Mission impossible?</h2> <p>Harninkontinenz und Beckenorganprolaps können getrennt symptomatisch sein oder im direkten Zusammenhang miteinander stehen. Im Vordergrund stehen für die Patientin die Harninkontinenz, die im Alltag fast alle Tätigkeiten einschränkt, und die Senkungssymptomatik, mitunter auch Schmerzen. Für den Therapeuten wird die Behandlung zur Mission impossible bei ungenügender Diagnostik, voreiliger und unkritischer operativer Korrektur oder Fokussierung auf ein Symptom mit Außer-Acht-Lassen des Gesamtbildes.</p> <h2>Mission possible</h2> <p>Eine einfache, gut durchstrukturierte Diagnostik führt zu einer genauen Diagnose. Die Beckenboden-/Perinealsonografie hat sich unter den Urogynäkologen etabliert. Es ist die einzige Bildgebung, die bereits implantierte Bänder und Netze deutlich darstellt, und kombiniert mit einer dynamischen Komponente während des Pressens kann die Wirkung überprüft werden. Für den Gynäkourologen war bisher die Videourodynamik maßgebend. Eine Abklärungsstraße könnte folgendermaßen aussehen:</p> <ul> <li>Miktionstagebuch, standardisierte Fragebögen</li> <li>Anamnese</li> <li>Harnflussmessung und Restharnbestimmung</li> <li>Untersuchung in Steinschnittlage</li> <li>Beckenboden-/Perinealsonografie</li> <li>Urethrozystoskopie</li> <li>Urodynamik, bei Bedarf Videourodynamik (MCUG)</li> <li>Klinische Diagnose</li> <li>Therapievorschlag inkl. Operationsindikation</li> <li>Erstes Aufklärungsgespräch</li> </ul> <p>Beckenbodenzentren sind inzwischen darauf spezialisiert, im Team mit Mitgliedern aus unterschiedlichen Betätigungsbereichen Beckenprobleme im weitesten Sinne zu behandeln. Von Alleingängen wird abgeraten. Neu entwickelten Medizinprodukten blind nachzulaufen kann zu großen Schwierigkeiten führen. Die FDA (US Food and Drug Administration) hat 2014 Netze für die Behandlung von Beckenprolaps von Mittel- auf Hochrisiko-Medizinprodukte eingestuft. Es folgten unzählige Klagen und die Einstellung der Produktion sämtlicher Netze. Das NICE (National Institute for Health and Clinical Excellence) aus England gab acht Empfehlungsschreiben, zuletzt Ende 2017, über synthetische Netze und Bänder in der Behandlung von pelvinem Organprolaps und Harninkontinenz heraus, die durchwegs bindend sind. Die NHS (National Health Service) Trusts, zuständig für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, schreiben den behandelnden Ärzten in den jeweiligen Krankenhäusern direkt vor, ob Netze und Bänder verwendet werden dürfen. So dürfen Netze und Bänder in England nur im Rahmen von Studien verwendet werden, und in Schottland werden derzeit gar keine Bänder oder Netze implantiert. <br />Ralf Tunn und sein Team im Deutschen Beckenbodenzentrum in Berlin haben die vaginale Prolapshysterektomie mit zeitgleicher Scheidengrundfixation (erstes/hinterstes Kompartiment) und Zystozelenkorrektur ohne Verwendung von Fremdmaterial untersucht. Diese Operation scheint vielversprechend bei relevanter Indikation. Die klassische Zystozelenkorrektur durch Faszienrekonstruktion alleine reicht bei der ausgeprägten lateralen und/oder zentralen Zystozele langfristig nicht aus. Hier ergibt sich die Möglichkeit einer primären Netzinterposition durch verbesserte Netzeinlagetechniken und Netzqualitäten. Die Tendenz bei Uteruserhalt ist zuerst die Korrektur des symptomatischen Prolapses und erst danach – falls notwendig – die Korrektur der Harnbelastungsinkontinenz. Große Probleme stellen Rezidivprolaps und Rezidivharninkontinenz dar. Hier spielt die Perinealsonografie eine entscheidende Rolle. Netze und Bänder können identifiziert, deren Fehlfunktion oder Falschlage dargestellt, das weitere Prozedere kann geplant werden.</p> <h2>Mission catastrophic</h2> <p>Zur Katastrophe kommt es meistens bei unüberlegten Operationen, die zwar in guter Absicht durchgeführt wurden, aber bei denen die Abklärung mangelhaft war. Ein distaler Prolaps (DeLancey Level III) im Sinne einer Urethrozele oder Trigonozele kann durchaus mit einer Mischharninkontinenz einhergehen. Hier kann ein gut gelegtes mitturethrales, spannungsfreies retropubisches Band funktionieren. Wenn allerdings überwiegend eine Blasenüberaktivität mit mehreren unwillkürlichen Detrusorkontraktionen in der Urodynamik vorliegt, kann die Implantation eines Kunststoffbands eine Lawine von Problemen lostreten. Hier sollte die Detrusorüberaktivität unbedingt zuerst therapiert werden. Bei sogenannten Ausreißern an auffälligen Symptomen – ausgeprägte Pollakisurie, Nykturie, Vorlagengebrauch weit über das „normale“ Maß hinaus, interstitielle Zystitis mit Beckenschmerzsyndrom – sollten mehrere Meinungen von unterschiedlichen Kollegen eingeholt werden und alle möglichen konservativen Maßnahmen zuerst ausgeschöpft werden. Auch wenn wir es wollen, alle Probleme können wir nicht lösen.</p> <h2>Mission successful</h2> <p>Der Beckenorganprolaps in Kombination mit der Harnbelastungsinkontinenz stellt den Therapeuten im Team einer Gynäkourologie/ Urogynäkologie vor eine diagnostische Herausforderung. Mithilfe der Perinealsonografie und Videourodynamik können auch komplexe Fälle akkurat beschrieben werden. Es gilt auch hier das Prinzip, zuerst alle konservativen/nicht operativen Maßnahmen auszuschöpfen. Es werden vor allem Eingriffe mit Fremdmaterial- Netz und Band aus geflochtenem Netz (großporig, monofil, so wenig wie möglich und so viel wie nötig) durchgeführt, besonders kontrolliert mithilfe bindender Richtlinien der FDA, NICE und von Fachgesellschaften, die von den Krankenhausanstalten eingefordert werden. Es braucht fachkundiges und eingeschultes Personal, das besonders auf Patientensymptome eingeht und sich nicht nach anatomischen Variationen richtet. Die Patientenaufklärung wird immer wichtiger, deswegen soll die Patientin auch aktiv in die therapeutischen Entscheidungen involviert werden. Die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich alle mit Teilen des Beckens beschäftigen, sollte rege gepflegt werden. Eine gut aufgeklärte Patientin hat auch realistische Erfolgserwartungen. Viele von unseren gut durchgeführten Operationen haben längerfristig oft recht bescheidene Erfolgsraten. Wir können oft helfen, zaubern können wir nicht, und um weiteren Rat können wir immer bitten. Entscheidend ist die Einrichtung eines Beckenbodenzentrums oder einer Beckenbodensprechstunde, die anfänglich aufwendig ist, sich aber in jeder Hinsicht lohnt.</p> <h2>Herausforderungen</h2> <p>Die urologisch-operative Ausbildung junger Kollegen ist in Österreich wie in fast allen Ländern eine sehr große Herausforderung. Auf dem Gebiet der Gynäkourologie ist die Herausforderung noch viel größer. OP-Kataloge, die Assistenzärzte für ihr Facharztdiplom nötig haben, werden unkritisch unterschrieben, es gibt keine fixen Rotationsmodelle, um operative Fähigkeiten zu erlernen, noch weniger gibt es die Möglichkeit, operative Fellowships in Österreich zu absolvieren. An Universitätskliniken werden Prostataerkrankungen und Onkologie verständlicherweise in den Organisationsstrukturen bevorzugt. Funktionelle Urologie, Urologie der Frau, Gynäkourologie, rekonstruktive Urologie und Kinderurologie werden somit gewissermaßen vernachlässigt. Gute Operateure und noch viel mehr gute Lehrer der operativen Urologie gehören mehr wahrgenommen, geschätzt und unterstützt. Es gibt immer noch nahezu keine Qualitätskontrolle in der operativen Urologie. Da kann man sich von der Cleveland Clinic oder der Martini- Klinik noch einiges abschauen. <br />Ich bin dankbar, dass diese Themen angesprochen werden, und freue mich auf die vielen jungen Kollegen, die mit vollem Elan und voller Tatkraft in die Zukunft blicken. Als Erstes ist das Erlernen der Perinealsonografie hilfreich, um den Beckenboden – auch als Urologe – besser zu verstehen.</p> <h2>Erfreuliches</h2> <p>Mit 18 Jahren rast eine junge Frau mit ihrem Motorrad direkt gegen einen Baum. Sie stirbt fast dabei. Unter anderem erleidet sie eine komplexe „Open book“-Beckenfraktur, einen Scheideneinriss bis zur Zervix, einen Harnröhrenabriss von der Blase und sämtliche Beckenbodeneinrisse. Zwei Jahre danach ist sie immer noch komplett inkontinent. Urologisch wurden zweimal Faszienzügelplastiken und einmal die Implantation eines künstlichen hydraulischen Sphinkters versucht. Die Patientin wollte keine Harnableitung und kein Urostoma. Vor 12 Jahren implantierten wir ihr einen künstlichen hydraulischen Sphinkter mit um das Trigonum gewickelter Blasenmanschette (Abb. 1). Deswegen musste sie anfänglich intermittierend katheterisieren. Inzwischen hat sie eine Ausbildung gemacht, geheiratet, ein Kind normal geboren, und der AMS 800 funktioniert bis vor einer Woche. Am ersten Tag des ÖGU-Kongresses 2018 wurde wegen wieder auftretender Harninkontinenz aufgrund eines kleinen Lochs in der Manschette das System erfolgreich gewechselt. Man sollte ein System entwickeln, das ein Leben lang hält …</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s14_abb1.jpg" alt="" width="1114" height="1052" /></p></p>
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