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Harnbelastungsinkontinenz und pelviner Organprolaps: Mission impossible?

<p class="article-intro">Die Harnbelastungsinkontinenz beschreibt den unfreiwilligen Harnabgang zeitgleich mit Belastung. Der symptomatische Beckenboden-/Organprolaps kombiniert mit Harnverlust stellt eine komplexe Situation dar. Die Beckenbodensonografie hat sich in der Urogynäkologie etabliert. Die Indikation zur operativen Therapie ist nur nach genauer Abklärung möglich. Die Verwendung von Netzen unterliegt inzwischen strengen Kriterien.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Eine kombinierte Harninkontinenz mit pelvinem Organprolaps muss urogyn&auml;kologisch/ gyn&auml;kourologisch abgekl&auml;rt werden.</li> <li>Bildgebend ist die translabiale Beckenboden-/Perinealsonografie ausschlaggebend.</li> <li>Urologisch ist eine Videourodynamik hilfreich, vor allem der Ausschluss einer deutlichen Detrusor&uuml;beraktivit&auml;t.</li> <li>Die Netzkorrektur eines ausgepr&auml;gten Beckenbodenprolapses scheint bei korrekter Indikation sinnvoll.</li> </ul> </div> <h2>Mission impossible?</h2> <p>Harninkontinenz und Beckenorganprolaps k&ouml;nnen getrennt symptomatisch sein oder im direkten Zusammenhang miteinander stehen. Im Vordergrund stehen f&uuml;r die Patientin die Harninkontinenz, die im Alltag fast alle T&auml;tigkeiten einschr&auml;nkt, und die Senkungssymptomatik, mitunter auch Schmerzen. F&uuml;r den Therapeuten wird die Behandlung zur Mission impossible bei ungen&uuml;gender Diagnostik, voreiliger und unkritischer operativer Korrektur oder Fokussierung auf ein Symptom mit Au&szlig;er-Acht-Lassen des Gesamtbildes.</p> <h2>Mission possible</h2> <p>Eine einfache, gut durchstrukturierte Diagnostik f&uuml;hrt zu einer genauen Diagnose. Die Beckenboden-/Perinealsonografie hat sich unter den Urogyn&auml;kologen etabliert. Es ist die einzige Bildgebung, die bereits implantierte B&auml;nder und Netze deutlich darstellt, und kombiniert mit einer dynamischen Komponente w&auml;hrend des Pressens kann die Wirkung &uuml;berpr&uuml;ft werden. F&uuml;r den Gyn&auml;kourologen war bisher die Videourodynamik ma&szlig;gebend. Eine Abkl&auml;rungsstra&szlig;e k&ouml;nnte folgenderma&szlig;en aussehen:</p> <ul> <li>Miktionstagebuch, standardisierte Frageb&ouml;gen</li> <li>Anamnese</li> <li>Harnflussmessung und Restharnbestimmung</li> <li>Untersuchung in Steinschnittlage</li> <li>Beckenboden-/Perinealsonografie</li> <li>Urethrozystoskopie</li> <li>Urodynamik, bei Bedarf Videourodynamik (MCUG)</li> <li>Klinische Diagnose</li> <li>Therapievorschlag inkl. Operationsindikation</li> <li>Erstes Aufkl&auml;rungsgespr&auml;ch</li> </ul> <p>Beckenbodenzentren sind inzwischen darauf spezialisiert, im Team mit Mitgliedern aus unterschiedlichen Bet&auml;tigungsbereichen Beckenprobleme im weitesten Sinne zu behandeln. Von Alleing&auml;ngen wird abgeraten. Neu entwickelten Medizinprodukten blind nachzulaufen kann zu gro&szlig;en Schwierigkeiten f&uuml;hren. Die FDA (US Food and Drug Administration) hat 2014 Netze f&uuml;r die Behandlung von Beckenprolaps von Mittel- auf Hochrisiko-Medizinprodukte eingestuft. Es folgten unz&auml;hlige Klagen und die Einstellung der Produktion s&auml;mtlicher Netze. Das NICE (National Institute for Health and Clinical Excellence) aus England gab acht Empfehlungsschreiben, zuletzt Ende 2017, &uuml;ber synthetische Netze und B&auml;nder in der Behandlung von pelvinem Organprolaps und Harninkontinenz heraus, die durchwegs bindend sind. Die NHS (National Health Service) Trusts, zust&auml;ndig f&uuml;r die Gesundheitsversorgung der Bev&ouml;lkerung, schreiben den behandelnden &Auml;rzten in den jeweiligen Krankenh&auml;usern direkt vor, ob Netze und B&auml;nder verwendet werden d&uuml;rfen. So d&uuml;rfen Netze und B&auml;nder in England nur im Rahmen von Studien verwendet werden, und in Schottland werden derzeit gar keine B&auml;nder oder Netze implantiert. <br />Ralf Tunn und sein Team im Deutschen Beckenbodenzentrum in Berlin haben die vaginale Prolapshysterektomie mit zeitgleicher Scheidengrundfixation (erstes/hinterstes Kompartiment) und Zystozelenkorrektur ohne Verwendung von Fremdmaterial untersucht. Diese Operation scheint vielversprechend bei relevanter Indikation. Die klassische Zystozelenkorrektur durch Faszienrekonstruktion alleine reicht bei der ausgepr&auml;gten lateralen und/oder zentralen Zystozele langfristig nicht aus. Hier ergibt sich die M&ouml;glichkeit einer prim&auml;ren Netzinterposition durch verbesserte Netzeinlagetechniken und Netzqualit&auml;ten. Die Tendenz bei Uteruserhalt ist zuerst die Korrektur des symptomatischen Prolapses und erst danach &ndash; falls notwendig &ndash; die Korrektur der Harnbelastungsinkontinenz. Gro&szlig;e Probleme stellen Rezidivprolaps und Rezidivharninkontinenz dar. Hier spielt die Perinealsonografie eine entscheidende Rolle. Netze und B&auml;nder k&ouml;nnen identifiziert, deren Fehlfunktion oder Falschlage dargestellt, das weitere Prozedere kann geplant werden.</p> <h2>Mission catastrophic</h2> <p>Zur Katastrophe kommt es meistens bei un&uuml;berlegten Operationen, die zwar in guter Absicht durchgef&uuml;hrt wurden, aber bei denen die Abkl&auml;rung mangelhaft war. Ein distaler Prolaps (DeLancey Level III) im Sinne einer Urethrozele oder Trigonozele kann durchaus mit einer Mischharninkontinenz einhergehen. Hier kann ein gut gelegtes mitturethrales, spannungsfreies retropubisches Band funktionieren. Wenn allerdings &uuml;berwiegend eine Blasen&uuml;beraktivit&auml;t mit mehreren unwillk&uuml;rlichen Detrusorkontraktionen in der Urodynamik vorliegt, kann die Implantation eines Kunststoffbands eine Lawine von Problemen lostreten. Hier sollte die Detrusor&uuml;beraktivit&auml;t unbedingt zuerst therapiert werden. Bei sogenannten Ausrei&szlig;ern an auff&auml;lligen Symptomen &ndash; ausgepr&auml;gte Pollakisurie, Nykturie, Vorlagengebrauch weit &uuml;ber das &bdquo;normale&ldquo; Ma&szlig; hinaus, interstitielle Zystitis mit Beckenschmerzsyndrom &ndash; sollten mehrere Meinungen von unterschiedlichen Kollegen eingeholt werden und alle m&ouml;glichen konservativen Ma&szlig;nahmen zuerst ausgesch&ouml;pft werden. Auch wenn wir es wollen, alle Probleme k&ouml;nnen wir nicht l&ouml;sen.</p> <h2>Mission successful</h2> <p>Der Beckenorganprolaps in Kombination mit der Harnbelastungsinkontinenz stellt den Therapeuten im Team einer Gyn&auml;kourologie/ Urogyn&auml;kologie vor eine diagnostische Herausforderung. Mithilfe der Perinealsonografie und Videourodynamik k&ouml;nnen auch komplexe F&auml;lle akkurat beschrieben werden. Es gilt auch hier das Prinzip, zuerst alle konservativen/nicht operativen Ma&szlig;nahmen auszusch&ouml;pfen. Es werden vor allem Eingriffe mit Fremdmaterial- Netz und Band aus geflochtenem Netz (gro&szlig;porig, monofil, so wenig wie m&ouml;glich und so viel wie n&ouml;tig) durchgef&uuml;hrt, besonders kontrolliert mithilfe bindender Richtlinien der FDA, NICE und von Fachgesellschaften, die von den Krankenhausanstalten eingefordert werden. Es braucht fachkundiges und eingeschultes Personal, das besonders auf Patientensymptome eingeht und sich nicht nach anatomischen Variationen richtet. Die Patientenaufkl&auml;rung wird immer wichtiger, deswegen soll die Patientin auch aktiv in die therapeutischen Entscheidungen involviert werden. Die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich alle mit Teilen des Beckens besch&auml;ftigen, sollte rege gepflegt werden. Eine gut aufgekl&auml;rte Patientin hat auch realistische Erfolgserwartungen. Viele von unseren gut durchgef&uuml;hrten Operationen haben l&auml;ngerfristig oft recht bescheidene Erfolgsraten. Wir k&ouml;nnen oft helfen, zaubern k&ouml;nnen wir nicht, und um weiteren Rat k&ouml;nnen wir immer bitten. Entscheidend ist die Einrichtung eines Beckenbodenzentrums oder einer Beckenbodensprechstunde, die anf&auml;nglich aufwendig ist, sich aber in jeder Hinsicht lohnt.</p> <h2>Herausforderungen</h2> <p>Die urologisch-operative Ausbildung junger Kollegen ist in &Ouml;sterreich wie in fast allen L&auml;ndern eine sehr gro&szlig;e Herausforderung. Auf dem Gebiet der Gyn&auml;kourologie ist die Herausforderung noch viel gr&ouml;&szlig;er. OP-Kataloge, die Assistenz&auml;rzte f&uuml;r ihr Facharztdiplom n&ouml;tig haben, werden unkritisch unterschrieben, es gibt keine fixen Rotationsmodelle, um operative F&auml;higkeiten zu erlernen, noch weniger gibt es die M&ouml;glichkeit, operative Fellowships in &Ouml;sterreich zu absolvieren. An Universit&auml;tskliniken werden Prostataerkrankungen und Onkologie verst&auml;ndlicherweise in den Organisationsstrukturen bevorzugt. Funktionelle Urologie, Urologie der Frau, Gyn&auml;kourologie, rekonstruktive Urologie und Kinderurologie werden somit gewisserma&szlig;en vernachl&auml;ssigt. Gute Operateure und noch viel mehr gute Lehrer der operativen Urologie geh&ouml;ren mehr wahrgenommen, gesch&auml;tzt und unterst&uuml;tzt. Es gibt immer noch nahezu keine Qualit&auml;tskontrolle in der operativen Urologie. Da kann man sich von der Cleveland Clinic oder der Martini- Klinik noch einiges abschauen. <br />Ich bin dankbar, dass diese Themen angesprochen werden, und freue mich auf die vielen jungen Kollegen, die mit vollem Elan und voller Tatkraft in die Zukunft blicken. Als Erstes ist das Erlernen der Perinealsonografie hilfreich, um den Beckenboden &ndash; auch als Urologe &ndash; besser zu verstehen.</p> <h2>Erfreuliches</h2> <p>Mit 18 Jahren rast eine junge Frau mit ihrem Motorrad direkt gegen einen Baum. Sie stirbt fast dabei. Unter anderem erleidet sie eine komplexe &bdquo;Open book&ldquo;-Beckenfraktur, einen Scheideneinriss bis zur Zervix, einen Harnr&ouml;hrenabriss von der Blase und s&auml;mtliche Beckenbodeneinrisse. Zwei Jahre danach ist sie immer noch komplett inkontinent. Urologisch wurden zweimal Faszienz&uuml;gelplastiken und einmal die Implantation eines k&uuml;nstlichen hydraulischen Sphinkters versucht. Die Patientin wollte keine Harnableitung und kein Urostoma. Vor 12 Jahren implantierten wir ihr einen k&uuml;nstlichen hydraulischen Sphinkter mit um das Trigonum gewickelter Blasenmanschette (Abb. 1). Deswegen musste sie anf&auml;nglich intermittierend katheterisieren. Inzwischen hat sie eine Ausbildung gemacht, geheiratet, ein Kind normal geboren, und der AMS 800 funktioniert bis vor einer Woche. Am ersten Tag des &Ouml;GU-Kongresses 2018 wurde wegen wieder auftretender Harninkontinenz aufgrund eines kleinen Lochs in der Manschette das System erfolgreich gewechselt. Man sollte ein System entwickeln, das ein Leben lang h&auml;lt &hellip;</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s14_abb1.jpg" alt="" width="1114" height="1052" /></p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>beim Verfasser</p> </div> </p>
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