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Änderung der OGH-Rechtsprechung

Haftung für Unterhalt gesund geborener Kinder bei „wrongful conception“

Eine wegweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH) erweitert die Haftungsrisiken im Themenfeld Kontrazeption für behandelnde Ärzt:innen. Im Folgenden praxisrelevante Auswirkungen und Fallstricke dieser aktuellen Entwicklung für die Aufklärung und Einwilligung zu kontrazeptiven Behandlungen.

Keypoints

  • Die rechtlichen Grundlagen zu Kontrazeption und Pränataldiagnostik wurden neu definiert und sind auch für in der Vergangenheit liegende Behandlungen anzuwenden.

  • Bei fehlender oder fehlerhafter Aufklärung oder nicht lege artis erfolgter Kontrazeption droht Urolog:innen eine Haftung für Unterhaltsansprüche gesund geborener Kinder.

  • Eine rechtzeitige, umfassende Aufklärung und Einwilligung sowie deren Dokumentation vor kontrazeptiven Behandlungen wie bei Vasektomien sind essenziell.

Konzepte „wrongful birth“ & „wrongful conception“ – rechtlicher Hintergrund

Nach österreichischem Schadenersatzrecht ist eine Person ersatzpflichtig, wenn ihre rechtswidrige (inklusive vertragsverletzender) und fahrlässige oder vorsätzliche Handlung jemandem einen Schaden zufügt. Wendet man diesen Grundsatz auf Fälle an, bei denen eine pränatale Diagnose oder Informationen über vorliegende Behinderungen des Fötus fehlerhaft sind, können Ärzt:innen für dadurch verursachte Schäden haftbar gemacht werden. Diese Haftung gilt auch für die Unterhaltspflichten von Eltern gegenüber ihren behindert geborenen Kindern, wenn ein Schwangerschaftsabbruch bei richtiger Diagnose und Aufklärung vorgenommen worden wäre („wrongful birth“). Anderes galt nach Rechtsprechung bislang für Unterhaltspflichten gegenüber gesund geborener Kindern – diese wurden grundsätzlich nicht als Schaden qualifiziert.

Eine ausnahmsweise Ersatzpflicht wurde bislang nur dann bejaht, wenn die Unterhaltsbelastung ungewöhnliche und geradezu existenzielle Erschwerungen für die Eltern bedeutet hätte.1,2 Daher hafteten Ärzt:in-nen grundsätzlich nicht für Unterhaltspflichten von Eltern gegenüber Kindern, die nach gescheiterter Kontrazeption gezeugt und geboren wurden („wrongful conception“).

Änderung der Rechtsprechung & neue Haftungsrisiken auch für Urologen

Mit einer Anfang Jänner 2024 veröffentlichten Entscheidung gab der OGH die bisherige Rechtsprechung zu „wrongful conception“ auf. Nun wendet der OGH die Grundsätze der Haftung für Unterhaltsansprüche behinderter Kinder gleichermaßen auf Fälle gesund geborener Kinder an.3 Künftig droht Ärzt:innen daher eine Haftung auch für Unterhaltsansprüche gesund geborener Kinder, wenn Ärzt:innen bei Kontrazeptionsbehandlungen rechtswidrig (inklusive vertragswidrig) und schuldhaft die Geburt von Kindern nicht verhindern. Als haftungsbegründend kommen insbesondere fehlende, fehlerhafte oder unvollständige Aufklärungen über die Erfolgswahrscheinlichkeiten von Kontrazeptionsmöglichkeiten, aber auch Behandlungsfehler infrage.

Dieser Rechtsprechungsänderung ging eine langjährige Diskussion in der juristischen Fachliteratur voraus. Letztlich begründete der OGH die Änderung damit, dass die Frage nach Schadenersatz im Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes neben rein rechtlichen auch ethische und moralische Fragen aufwirft. Solange der Gesetzgeber dafür keine Sonderregeln erlässt, sei die Frage nach allgemeinem Schadenersatz zu beurteilen. Dies erfordert auch in Fällen von „wrongful conception“ den Ersatz für Unterhalt gesund geborener Kinder.3

Da der OGH nicht neues Recht schafft, sondern bestehendes Recht auslegt, bedeutet eine Rechtsprechungsänderung für die Praxis, dass auch in der Vergangenheit liegende Fälle davon betroffen sind, wenn sie noch nicht verjährt oder rechtskräftig entschieden sind.4

Grundsätzlich verjähren Schadenersatzansprüche innerhalb von drei Jahren ab Kenntnis von Schaden und Schädiger. Um zu bestimmen, ob ein Anspruch verjährt ist, kommt es daher auf den Beginn des Fristenlaufs an. Dafür kommen insbesondere zwei Zeitpunkte infrage: erstens die Geburt, zweitens die Veröffentlichung der jüngsten Rechtsprechungsänderung am 18.01.2024.

Für die Geburt als Beginn des Fristenlaufs spricht der Begriff des Schadens gemäß §1293 des ABGB (Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch). Danach gilt: „jeder Nachteil, welcher jemandem an Vermögen, Rechten“ zugefügt worden ist. Von diesem Nachteil als Beginn der Unterhaltspflicht haben Eltern unmittelbar ab Geburt des Kindes Kenntnis. Dagegen ließe sich aber aus Elternsicht einwenden, dass aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des OGH, wonach ein gesundes Kind kein Schaden sei,1,5 bis dato kein Schaden erkennbar gewesen sein kann. So könnte man aus Elternsicht weiter argumentieren, dass die dreijährige Verjährungsfrist erst ab Veröffentlichung der jüngsten Entscheidung am 18.01.2024 zu laufen begonnen habe. Diese Frage bedarf vermutlich einer höchstgerichtlichen Klärung.

Urolog:innen könnte eine Haftung drohen, wenn sie Kontrazeptionsbehandlungen wie Vasektomien anbieten und dies zu einer „wrongful conception“ führt oder führte. Um diese Haftung zu vermeiden, sind nicht nur eine sorgfältige und in lege artis erfolgte Behandlung, sondern auch der Inhalt des Behandlungsvertrags und die dokumentierte Aufklärung der Patient:innen – auch für vergangene Behandlungen – von Bedeutung.

Kontrazeption in der Urologie

Verhütung bezweckt das absichtliche Verhindern einer Schwangerschaft durch Hilfsmittel, Medikamente oder chirurgische Eingriffe. Frauen können zwischen Barrieremethoden, hormonellen und nichthormonellen Methoden oder einer permanenten Eileiterunterbindung wählen. Für Männer sind aktuell nur Kondome oder Vasektomie verfügbar. Dies steht dem Wunsch von etwa 50% der Männer entgegen, mehr Verantwortung in der Familienplanung zu übernehmen, sofern verlässliche (medikamentöse) Verhütungsmethoden zur Verfügung stünden.6,7

Neben den etablierten Methoden laufen derzeit Studien zur männlichen Kontrazeption durch Unterdrückung der Spermatogenese, durch gezielte Abtötung von Spermien oder Einschränkung derer Motilität vor Ejakulation.8 Medikamentöse Kontrazeptiva für Männer nutzen die Wirkung von modifiziertem Testosteron, wirken zielgerichtet auf Rezeptoren des Hodens oder hemmen den Retinsäurerezeptor, der essenziell für die Spermatogenese ist.9 Weiters laufen mehrere präklinische und klinische Studien zur Obstruktion des Samenstranges. Durch eine Gelinjektion soll die Passage von Spermien entlang des Vas deferens gehemmt werden. Dies könnte eine reversible Form der Verhütung mit wenig Nebenwirkungen darstellen.10

Obwohl die Eileiterligatur und Vasektomie etwa gleich effizient sind, ist die Vasektomie einfacher, sicherer, schneller und kostengünstiger durchzuführen.11 Weltweit haben sich jedoch 26,6% der verhütenden Frauen einer Tubarligation unterzogen, wohingegen nur 2,8% der Männer eine permanente Sterilisation mittels Vasektomie durchgeführt haben.12 Gründe für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede können im Zugang zur Aufklärung über die kontrazeptiven Möglichkeiten liegen.13 Dies unterstreicht die wichtige Aufgabe der Aufklärung durch Urolog:innen. Kontrazeption ist derzeit nicht Teil der EAU-Leitlinie über sexuelle und reproduktive Gesundheit, dürfte aber in Zukunft aufgenommen werden.14 Es gibt allerdings ältere Empfehlungen sowohl von EAU (European Association of Urology) als auch AUA (American Urological Association) über die Durchführung von Vasektomien (Tab. 1).11,15

Tab. 1: Präoperative (Mindest-)Aufklärung zur Vasektomie: inhaltliche Punkte, die eine präoperative Aufklärung für eine Vasektomie immer enthalten soll11, 15

Problematisch ist, dass etwa 2% der vasektomierten Männer nach 10 Jahren eine Revisionsoperation zur Wiedererlangung der Zeugungsfähigkeit wünschen. Häufiger ist dies bei Patient:innen, die zum Zeitpunkt des Eingriffs jung und/oder kinderlos waren – daher werden diese Faktoren auch als relative Kontraindikation für eine Vasektomie angesehen. Patient:innen sollten darüber informiert werden, dass Revisionsoperationen möglich sind, aber eine verringerte Spermienqualität vorliegen kann oder die Reproduktion nur mittels assistierter, kostspieliger Methoden erfolgreich sein kann.15,16 Bei Patient:innen, die hingegen eine dauerhafte Sterilität wünschen, wird empfohlen, nach Vasektomie zumindest jährlich ein Spermiogramm durchzuführen. Eine absolute Sicherheit kann jedoch nie gegeben werden.10

Aufklärung und wirksame Einwilligung in einen Eingriff

Patient:innen können nur dann wirksam in einen ärztlichen Eingriff einwilligen, wenn sie über die „Bedeutung des vorgesehenen ärztlichen Eingriffes und seine möglichen Folgen hinreichend aufgeklärt“ wurden.17 Dies umfasst insbesondere die Aufklärung über Diagnose, Therapie und Behandlungsowie Risiken.18 Vasektomien dürfen in Österreich grundsätzlich nur von einem Arzt und nur dann durchgeführt werden, wenn das 25. Lebensjahr abgeschlossen ist und eine Einwilligung vorliegt (§90 Abs. 2 Strafgesetzbuch). Da eine rechtswirksame Einwilligung bei medizinisch nicht indizierten Sterilisationen erhöhte Anforderungen erfüllen muss,müssen Ärzt:innen ihre Patient:innen präoperativ über einige wichtige Punkte beraten und aufklären (Tab.1).19

Angesichts einer zunehmend strengeren Rechtsprechung zur Frage, wie weit im Voraus eine Aufklärung als rechtzeitig gilt, um die für eine wirksame Einwilligung erforderliche angemessene Überlegungsfrist zu ermöglichen, sollte eine vollständige Aufklärung mit ausreichend Vorlauf zum Eingriff erfolgen.20,21 Die Beweislast dafür, dass eine rechtzeitige, hinreichende Aufklärung erfolgt ist, tragen die Ärzt:in-nen im Falle einer Klage.22

Behandlungsvertrag und Schadenersatzpflicht

Geplante ärztliche Behandlungen inklusive der Kontrazeption unterliegen einem Behandlungsvertrag. Der Vertragsinhalt und die damit einhergehenden Pflichten sind von der konkreten Vereinbarung abhängig. Typischerweise vereinbaren Behandelnder und Patient im Behandlungsvertrag, dass der Behandler eine fachgerechte, dem objektiven Standard des besonderen Fachs entsprechende Behandlung, nicht aber einen bestimmten (Behandlungs-)Erfolg erbringen soll.23 Es ist daher bei entsprechender Gestaltung des Behandlungsvertrags über eine Vasektomie oder sonstige Kontrazeption grundsätzlich nicht erforderlich, dass Ärzt:innen durch ihre Behandlung jegliches Zeugungsrisiko unterbinden. Um das Risiko der Haftung für Unterhaltspflichten gegenüber gesund geborenen Kindern zu verringern, kann im Behandlungsvertrag ein Haftungsausschluss für leicht fahrlässige Behandlungsfehler vereinbart werden (§6 Abs. 1 Z 9 Konsumentenschutzgesetz). Die Wirksamkeit solcher Haftungsausschlüsse unterliegt der gerichtlichen Kontrolle. Zu beachten gilt weiters, dass der Behandlungsvertrag über eine Kontrazeption auch den Schutz vor ungewollter Schwangerschaft der Partnerin der behandelten Person umfasst.1,3

Neben der bereits dargestellten Pflicht, über das verbleibende Zeugungsrisiko aufzuklären, schuldet der Behandler einelegeartiserfolgte Behandlung.24 Hier kommt den Empfehlungen zur Vasektomie von EAU als auch AUA besondere Bedeutung zu.11,15 In einem Verfahren über mögliche Fehlbehandlungen wird der objektive Standard des Fachs aber letztlich unter Beiziehung eines Sachverständigen festgestellt. Haben Ärzt:innen über das verbleibende Zeugungsrisiko aufgeklärt und auch keine vollkommene Sterilität im Behandlungsvertrag vereinbart, haften sie auch nach der neuen Rechtsprechung des OGH nur, wenn eine nicht lege artiserfolgte Behandlung die ungewünschte Zeugung ermöglicht hat. In diesem Fall kann es zu Haftungsansprüchen für Unterhaltspflichten der Eltern kommen – unabhängig davon, ob das Kind behindert oder gesundgeboren wurde.

Langfristige Implikationen

Der Entscheidung des OGH ist nicht zu entnehmen, ob oder mit welchem Ergebnis innerhalb des beratenden Richtersenats die langfristigen Auswirkungen für behandelnde Ärzt:innen, Patient:innen und die gesamte österreichische Bevölkerung diskutiert wurden. Einerseits führt ein ungewolltes Kind zu Mehraufwendungen und kann auch Gehaltseinbußen der Eltern begründen; andererseits ist zu erwarten, dass zukünftig das Risiko, für Unterhaltspflichten aufkommen zu müssen, durch höhere Haftpflichtversicherungen und/oder höhere Behandlungskosten der Ärzt:innen eingepreist wird. Diese Kosten würden auf Patient:innen und Krankenversicherungen und letztendlich auf den Steuerzahler umgewälzt werden. Falls dies rechtspolitisch nicht gewünscht ist, wird eine Änderung der Haftungsregeln bis auf Weiteres nur durch eine Änderung der Gesetzeslage möglich sein.

Die in diesem Artikel ausgeführte Rechtsansicht gibt die persönliche Meinung der Autor:innen zu rein informativen Zwecken wieder. Es handelt sich dabei um keinen Rechtsrat und der vorliegende Artikel kann anwaltliche Beratung nicht ersetzen.

1 OGH 14.9.2006, 6 Ob 101/06f, Pkt. 7.2. 2 RIS-Justiz RS0121189 3 OGH 21.11.2023, 3 Ob 9/23d, JusGuide 2024/06/21508 (OGH) zu „wrongful birth“ und „wrongful conception“ (verstärkter Senat) 4 RIS-Justiz RS0109026 5 OGH 30.11.2006, 2 Ob 172/06t 6 Friedman MNL et al.: Interest among US men for new male contraceptive options. https://www.malecontraceptive.org/uploads/1/3/1/9/131958006/mci_consumerresearchstudy.pdf ; zuletzt aufgerufen am 6.2.2024 7 Dominiak Z et al.: Promising results in development of male contraception. Bioorg Med Chem Lett 2021; 41: 128005 8 Amory JK: Development of novel male contraceptives. Clin Transl Sci 2020; 13(2): 228-37 9 Leiber-Caspers C: Why is there still no „pill for men“? Current developments in hormonal and nonhormonal medical contraception for men. Eur Urol Focus 2023; 9(1): 25-7 10 Louwagie EJ et al.: Male contraception: narrative review of ongoing research. Basic Clin Androl 2023; 33(1): 30 11 Sharlip ID et al.: Vasectomy: AUA Guideline. J Urol 2012; 188(6): 2482-91 12 Anderson DJ: Population and the environment - time for another contraception Revolution. N Engl J Med 2019; 381(5): 397-9 13 Ostrowski KA et al.: Evaluation of vasectomy trends in the United States. Urology 2018; 118: 76-9 14 Salonia A et al.: EAU Guidelines on sexual and reproductive health. EAU Guidelines. präsentiert am EAU Kongress 2023 15 Dohle GR et al.: European Association of Urology Guidelines on vasectomy. Eur Urol 2012; 61(1): 159-63 16 Holman CD et al.: Population-based outcomes after 28246 in-hospital vasectomies and 1902 vasovasostomies in Western Australia. BJU Int 2000; 86(9): 1043-9 17 RIS-Justiz RS0026499 18 Neumayr in Neumayr/Resch/Wallner, GmundKomm2 Einleitung ABGB (Stand 1.1.2022, rdb.at) Rz 37 ff 19 Schütz in Höpfel/Ratz, WK2 StGB §90 (Stand 1.5.2016, rdb.at) Einwilligung des Verletzten 20 OGH 13.11.2023, 3 Ob 179/23d; Rechtzeitigkeit einer Operationsaufklärung 21 RIS Justiz RS0026413: Die ärztliche Aufklärung soll den Einwilligenden instandsetzen, die Tragweite seiner Erklärung zu überschauen 22 OGH 18.12.2017, 9Ob72/17d (Hodenentfernung) 23 RIS-Justiz RS0021335 24 RIS-Justiz RS0132932 25 Alderman PM: The lurking sperm. A review of failures in 8879 vasectomies performed by one physician. JAMA 1988; 259(21): 3142-4 26 Davies AH et al.: The long-term outcome following „special clearance“ after vasectomy. Br J Urol 1990; 66(2): 211-2 27 Philp T et al.: Complications of vasectomy: review of 16000 patients. Br J Urol 1984; 56(6): 745-8

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