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Auf den Punkt gebracht: die „PATIOSpots“-App

Bürger*innen beteiligen sich gemeinsam an der Entwicklung einer digitalen App, um den Alltag Prostatakrebs-erkrankter Personen zu erleichtern. Auf welch wunderbare Weise diese durchaus unübliche Kombination mit der Lebensqualität Betroffener harmoniert und welches Potenzial in dieser so simplen und gleichzeitig dennoch ungewöhnlichen Idee steckt, zeigt das Projekt „PATIO“ des Ludwig Boltzmann Instituts Applied Diagnostics rundum den Institutsdirektor Univ.-Prof. Dr. Markus Mitterhauser und seinem Team.

Keypoints

  • PATIO hat sich als Ziel gesetzt, die Lebensqualität von direkt und indirekt Betroffenen nach der Diagnose Prostatakrebs zu verbessern.

  • Ein erster Meilenstein ist die PATIO-Gesundheitsratgeber-App „PATIOSpots“, die in einem Co-Design- und Co-Creation-Prozess mit Betroffenen entwickelt wurde.

  • Die App richtet sich in erster Linie an direkt und indirekt von Prostatakrebs Betroffene.

  • Mit „PATIOSpots“ können Nutzer*innen wichtige Informations- und Anlaufstellen in der Nähe des jeweiligen aktuellen Standorts finden.

  • Dabei kann es sich um Toiletten handeln oder um Orte, die zum Austausch anregen und der Orientierung dienen, wie Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Orte, an denen Behandlungen erfolgen, etwa ein Reha-Zentrum oder eine Physiotherapie.

Wie können etwa Toiletten die allgemeine Lebensqualität verbessern? Gemeinsam mit direkt und indirekt Betroffenen nach der Diagnose Prostatakrebs entwickelte das PATIO-Team eine Kommunikationslösung, die als Orientierungshilfe auf dem Weg mit dem Prostatakrebs dient.

PATIO hat sich als Ziel gesetzt, die Lebensqualität von direkt und indirekt Betroffenen nach der Diagnose Prostatakrebs zu verbessern. Ein erster Meilenstein ist die PATIO-Gesundheitsratgeber-App „PATIOSpots“, die in einem Co-Design- und Co-Creation-Prozess gemeinsam mit Betroffenen entwickelt wurde. Eine der ersten Maßnahmen, die Betroffene nach der Diagnose Prostatakrebs ergreifen, ist die Suche nach verlässlichen, qualitativ hochwertigen, strukturierten und leicht zugänglichen Informationsquellen. „PATIOSpots“ soll deshalb ein Wegweiser und eine digitale Orientierungshilfe für Patienten sowie Bezugspersonen sein, und zwar an einem Zeitpunkt, zu dem diese Unterstützung am dringendsten benötigt wird.

Warum Bürger*innen-beteiligung bei einem Thema wie Prostatakrebs so wichtig ist

In Österreich leben über 65000 Personen mit Prostatakrebs, begleitet von einer noch größeren, unbekannten Zahl von Bezugspersonen.1 Diese direkt und indirekt von Prostatakrebs betroffenen Personen verfügen über wertvolles Erfahrungswissen über den Alltag mit der Erkrankung. Allerdings sind die Fälle, in denen sich diese Betroffenen mit Ärzt*innen, anderen medizinischen Expert*innen, Forscher*innen und Betreuer*innen komplett auf Augenhöhe begegnen, bisher zu häufig die Ausnahme. Deshalb ist es so wichtig, Patienten aktiv dazu zu ermutigen, ihre individuellen Lösungen und Bewältigungsmechanismen für den Umgang mit den komplexen Herausforderungen nach einer solchen Diagnose zu entwickeln.

Die Philosophie hinter „Citizen Science“ und „PPIE“ (Public and Patient Involvement and Engagement, zu Deutsch: Patient*innen- und Öffentlichkeitsbeteiligung und -engagement) liegt in der innovativen Methode, gesellschaftliche Herausforderungen auf unkonventionelle Weise zu bewältigen, indem Bürger*innen in unmittelbarer Nähe zu den Wissenschaftler*innen in die Forschung einbezogen werden und ihnen auf diese Weise die Möglichkeit gegeben wird, direkt zu verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beizutragen.2 Diese bisher ungewöhnliche Möglichkeit, derart hautnahe Einblicke in die Forschung zu erhalten, Neues zu lernen, aber auch Schicksalsgefährten zu helfen, mit ihnen in Kontakt zu treten und sich auszutauschen, sind die wichtigsten Motivationsfaktoren für „Citizen Scientists“, sich zu beteiligen.3 Menschen, die von einer lebensbeeinflussenden und -verändernden Erkrankung betroffen sind, werden mit der Zeit selbst zu Expert*innen und verfügen über einen Wissensschatz, der leider häufig ungenutzt bleibt, obwohl er eigentlich einen wertvollen Beitrag für die Wissenschaft und die Allgemeinheit darstellen könnte und würde.

Die kooperative Initiative PATIO (Patient Involvement in Oncology) arbeitet mit Prostatakrebs-Betroffenen, um gemeinsam eine Orientierungshilfe und Kommunikationsplattform zu schaffen, die die Lebensqualität der Patienten verbessern soll. Indem die Bürger*innen ermutigt werden, offen über ihre individuellen Herausforderungen zu sprechen, wird auch das Bewusstsein für das nach wie vor tabuisierte Leben mit Krebs, den Herausforderungen sowie den unterschiedlichen Therapien und deren Nebenwirkungen geschärft.

Wie funktioniert Bürger*innen-Beteiligung eigentlich?

PATIO führt Wissen aus multidisziplinären Wissenschaften und praktischer Erfahrung von Betroffenen und Fachleuten im Gesundheitswesen zusammen. Interessierte Personen werden direkt in die Forschung einbezogen und in jeden Schritt involviert, wodurch das Projekt von dem gelebten Erfahrungswissen der Mitgestalter*innen geprägt wird.4

Abb. 1: Der Prozess der Entwicklung des Einbindungswerkzeugs

Das PATIO-Team besteht aktuell aus 14 Mitgestalter*innen (unsere sogenannten Co-Forscher*innen; darunter 13 Prostatakrebspatienten und eine Bezugsperson) und wird von mehreren Fachleuten aus dem Gesundheitswesen unterstützt, darunter Spezialist*innen aus den Bereichen der Urologie, Nuklearmedizin, klinischen Pharmazie, Krankenpflege und Physiotherapie. Abbildung 1 veranschaulicht die ersten Schritte, die grundlegend für den Aufbau von PATIO erforderlich waren. Dabei unterstützen die Co-Forscher*innen die Initiative mit ihrer unbezahlbaren Lebenserfahrung, um die Bedürfnisse der Zielgruppe besser zu verstehen. Regelmäßige Workshops zur Mitgestaltung (Co-Design) und Mitentwicklung (Co-Development), sogenannte „runde Tische“, aber auch „Design-Thinking“ und Feedback-Schleifen gehören dabei zu den gängigen Involvierungsmethoden. Um dynamische Anpassungen der nächsten Schritte zu ermöglichen, werden Zwischen- und Endergebnisse regelmäßig innerhalb der Gruppe kommuniziert. Seit Beginn der Initiative wurde den Mitgestalter*innen zudem ein Honorar als Entschädigung für ihre Bemühungen gezahlt, da sie dafür ihre Freizeit investieren und einen umfassenden Beitrag leisten.

Abb. 2: Das Netzwerk als Wechselwirkung der beteiligten Gruppen. Keine der definierten Gruppen ist aus PATIO wegzudenken, am wichtigsten ist allerdings der Beitrag der Co-Forscher*innen

Die Suche nach Co-Forscher*innen wurde zum einen durch den Obmann der Selbsthilfegruppe Prostatakrebs Ekkehard Büchler geführt, der im Rahmen seiner Tätigkeit bereits ein Netzwerk an Betroffenen kannte und daraus Vorschläge für Mitgestalter*innen machte. Zum anderen wurden auch viele Betroffene über einen Beitrag in der ORF-Fernsehsendung „Konkret“ auf PATIO aufmerksam, woraus schließlich weitere drei Co-Forscher*innen identifiziert werden konnten. Über einen weiteren medialen Aufruf via Newsletter und verschiedenen Online-Plattformen konnten die letzten vier Co-Forscher in das Team aufgenommen werden. In Abbildung 2 ist die Wechselwirkung der beteiligten Netzwerke dargestellt.

Um herauszuarbeiten, wie ein Kommunikationswerkzeug zur Unterstützung aussehen kann, und wie Betroffene es nutzen würden, wurde in einem zweiten Schritt gemeinsam ein Fragebogen entwickelt. Dieser wurde Anfang 2021 an die direkt und indirekt Betroffenen in Österreich gerichtet. Zusätzlich wurde noch abgefragt, welche brennenden Herausforderungen mit solch einer digitalen Hilfestellung adressiert werden könnten. Basierend auf den Antworten der 87 Fragebögen konnte eine sehr klare Schlussfolgerung zur Art und Weise des Werkzeugs gezogen werden. Die Mehrzahl der Befragten, die im Durchschnitt über 80 Jahre alt waren, äußerten Interesse an einer App sowie einer Webseite als Kommunikations- und Informationsplattform. Für das erste Modul der App wurden dahingehend folgende Kategorien gemeinsam mit den Co-Forscher*innen erarbeitet, (Abb. 3):

  1. WC-Anlagen

  2. Austausch und Orientierung

  3. Behandlung

  4. Andere

Der Gesundheitslotse „PATIOSpots“ als Ergebnis durch Bürger*innen-beteiligung

Auf Basis von verschiedenen Workshops und runden Tischen mit den Mitgestalter*innen und aufgrund einer österreichweiten Umfrage konnten der Bedarf und das Format für ein digitales, praxisorientiertes Kommunikationswerkzeug von und für Prostatakrebsbetroffene identifiziert werden. Die Mitgestalter*innen wurden in die Ausarbeitung der Funktionen und relevanten Merkmale einbezogen. Nach der Priorisierung der Schwerpunkte und der gemeinsamen Gestaltung des Konzepts entwickelte das Team mit den Citizen-Science-Programmier-Experten von „SPOTTERON“ das erste Modul der App „PATIOSpots“.

Mit „PATIOSpots“ (Abb. 3) können Nutzer*innen wichtige Informations- und Anlaufstellen in der Nähe des jeweiligen aktuellen Standorts finden und hinzufügen. Dabei kann es sich um Toiletten handeln, aber auch um andere Orte, die zum Austausch anregen und der Orientierung dienen, wie z.B. Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen sowie Standorte, an denen eine Behandlung erfolgen kann, etwa ein Reha-Zentrum oder eine Physiotherapie. Mit der interaktiven Kartenfunktion kann auf diese Weise gemeinsam ein guter Überblick über wichtige Anlaufstellen für Prostatakrebsbetroffene geschaffen werden und Nutzer*innen entdecken unter Umständen auch neue Orte, die zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beitragen.

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Abb. 3: Links das Hauptmenü von „PATIOSpots“, rechts die Merkmale einer erfassten WC-Anlage

„PATIOSpots“ ist sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch erhältlich und für Android- sowie iOS-Nutzer*innen zum Download verfügbar. Damit wurde der erste Schritt für eine Orientierungshilfe nach der Diagnose Prostatakrebs geschaffen. Die App richtet sich in erster Linie an direkt und indirekt von Prostatakrebs betroffene Personen. Die Benutzung steht aber grundsätzlich jeder weiteren Person frei, die aus unterschiedlichen Gründen ein unmittelbares Bedürfnis hat, eine öffentlich zugängliche Toilette oder andere eingetragene Standorte in kurzer Zeit zu finden. Der Fokus liegt derzeit auf den WC-Anlagen, da Inkontinenz eine der häufigsten Nebenwirkungen einer Prostatakrebs-Behandlung ist. Aktuell umfasst die App knapp 300 „Spots“ in ganz Europa.

Als Hauptvorteile einer App-Lösung wurden folgende Punkte herausgearbeitet:
  • aktive Beteiligung von Bürger*innen und Patienten, um einen Beitrag zu leisten

  • der Aufbau eines Netzwerks von Gleichgesinnten

  • eine interaktive Karte

  • anonyme Benutzer*innen

  • Orientierungshilfe

  • Nutzermotivationssysteme

  • aktuell und zeitnah

  • einfaches Herunterladen und Weitergeben

  • schnelle und gebrauchsfertige Anwendbarkeit

Ausblick

PATIO trägt zum „Empowerment“ der Prostatakrebs-Community in Österreich bei und kann als Vorbild für andere Betroffenengruppen dienen. Der Ansatz sollte in Zukunft auch nachhaltig für andere Anwendungen nutzbar und skalierbar sein. Patienten müssen nach der Diagnose auf diverse Weise unterstützt werden (z.B. verschiedene Behandlungsentscheidungen, zusätzliche Betreuung sowie Nachsorge, Austausch mit anderen Betroffenen). Die Initiative PATIO trägt dazu bei, die Versorgungspräferenzen der Patienten zu verstehen, was wiederum zur Entwicklung von Diagnose- und Behandlungsstrategien genutzt werden kann, die auf die Bedürfnisse jener zugeschnitten sind und ihre Lebensqualität erhöhen.

Als Teil einer Gemeinschaft fühlen sich die Patienten gehört und wertgeschätzt, was maßgeblich zum Prozess der Mitgestaltung und Mitentwicklung beiträgt. Das fördert auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der gegenseitigen Unterstützung, da sie Ähnliches erlebt haben und sich voneinander verstanden fühlen. Der niederschwellige Zugang trägt dazu bei, ein Umfeld zu schaffen, in dem Patienten und die Öffentlichkeit direkt in den Bereich des Prostatakrebs-Managements einbezogen werden.

Geplant ist die weitere Implementierung neuer Module und zusätzlicher Funktionen in der App in Bezug auf sozioökonomische Informationen über das Leben mit Prostatakrebs, individuelle Nutzer*innenprofile, koordinierte Designanpassungen in Bezug auf Nutzer*innenfreundlichkeit und Funktionalität sowie die Ausweitung auf weitere Sprachen.

Insgesamt möchte „PATIOSpots“ demnach zu einer Plattform werden, die
  • Betroffenen die Kommunikation priorisierter Interessen und Bedürfnisse ermöglicht,

  • gegenseitige Unterstützung in Bezug auf alltägliche Herausforderungen fördert,

  • über aktuelle und relevante Themen hinsichtlich des Lebens mit Prostatakrebs informiert

  • und andere weitere Betroffenenkreise zu ähnlicher Initiative bewegt.

Danksagung

In der Aufbauphase der App mussten wir uns unfreiwillig und schweren Herzens von Ekkehard Büchler verabschieden, der uns als Obmann der österreichischen Selbsthilfegruppe Prostatakrebs von Anfang an mit Rat, Tat und Unterstützung zur Seite stand. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war er ein sehr moderner und fortschrittlich denkender Mann, der jede Idee unterstützte und ohne Tabus alle Herausforderungen des Prostatakrebses mit uns diskutierte. Er verstarb in seinem 82. Lebensjahr und hinterlässt eine große Lücke an Wissen, Engagement und Erfahrung.

Wir sind allen Mitgestalter*innen dankbar, die ihre Zeit, Erfahrung und Energie in unsere Initiative einbringen und eingebracht haben. PATIO und „PATIOSpots“ würden ohne sie nicht existieren.

1 Hackl M, Ihle P: 2020; Statistik Austria, Bundesanstalt Statistik Österreich, abgerufen am 6. Juni 2022, https://www.statistik.at/fileadmin/publications/Krebserkrankungen_in_OEsterreich_2020.pdf 2 Roche J et al.: Citizen Science, Education, and Learning: Challenges and Opportunities. Front. Sociol 2020; 5: 613814 3 Asingizwe D et al.: Why (not) participate in citizen science? Motivationsfaktoren und Barrieren für die Teilnahme an einem Citizen Science-Programm zur Malariakontrolle in Ruanda. PLoS ONE 2020; 15(8): e0237396 4 Kaisler, R.E., Missbach, B. A ‚How to‘ Guide for Researchers: Patient and Public Involvement and Engagement (2019). https://doi.org/10.5281/zenodo.3515811

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