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Sjögren-Syndrom: nach der chronischen Polyarthritis die zweithäufigste Autoimmunerkrankung
Jatros
Autor:
Prim. Priv.-Doz. Dr. Peter Peichl, MSc
Vorstand der Internen Abteilungen und stellv. Ärztlicher Direktor im Evangelischen Krankenhaus Wien<br> E-Mail: ordination@peichl-peter.at;<br> p.peichl@ekhwien.at
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10.05.2018
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<p class="article-intro">Im klinischen Alltag oft verkannt, ist das Sjögren-Syndrom ein komplexes Krankheitsbild und bedarf einer gewissenhaften Diagnostik und Therapieplanung. Vor allem der langsame chronische Verlauf und die begleitenden Erkrankungen stellen eine große therapeutische Herausforderung dar. Diese Patienten gehören in die kompetenten Hände von erfahrenen Rheumatologen und klinischen Immunologen.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Das Sjögren-Syndrom ist eine Erkrankung, die auf einer Fehlfunktion des erworbenen körpereigenen Immunsystems beruht. Die Abwehrmechanismen richten sich fälschlicherweise gegen körpereigene Strukturen. Es kommt zu Störungen der „Selbsterkennung“ und zu Störungen der Kontroll- und Regulationsmechanismen des Immunsystems zur Begrenzung von Autoimmunreaktionen. Autoantikörper richten sich gegen körpereigene Strukturen und Substanzen (Autoantigene) und tragen zu dem krank machenden Prozess einer Autoimmunkrankheit bei. Im Falle des Sjögren-Syndroms richtet sich die körpereigene Abwehr gegen alle exokrinen Drüsen, also unter anderem und vor allem gegen die Speicheldrüsen und die Tränendrüsen des Auges, wodurch die charakteristischen Symptome von trockenen Augen und Mundtrockenheit hervorgerufen werden. Diese Symptome werden unter dem Begriff des primären Sjögren-Syndroms zusammengefasst.<br /> Tritt die Erkrankung in Verbindung mit anderen entzündlichen Erkrankungen des Bindegewebes auf, wie den Kollagenosen oder der chronischen Polyarthritis, so spricht man von einem sekundären Sjögren- Syndrom. Die häufigsten Kollagenosen, die in Verbindung mit einem Sjögren- Syndrom auftreten, sind der systemische Lupus erythematodes, die progressive systemische Sklerose, die Periarteriitis nodosa und die Polymyositis.<br /> Das Sjögren-Syndrom wird im medizinischen Sprachgebrauch auch als Autoimmunexokrinopathie oder Dakryosialoadenopathia atrophicans bezeichnet. Die relativ wenigen familiär auftretenden Fälle lassen auf einen nur geringen Einfluss genetischer Faktoren auf das Auftreten der Erkrankung schließen.</p> <h2>Häufigkeit</h2> <p>Es liegen keine exakten Zahlen über das Auftreten des Sjögren-Syndroms vor, allerdings ist es die zweithäufigste Autoimmunkrankheit nach der chronischen Polyarthritis. Am häufigsten sind Frauen von der Krankheit betroffen, meist in der postklimakterischen Periode. Das Verhältnis von erkrankten Männern zu erkrankten Frauen beläuft sich auf 1:9. Die Prävalenz bei über 50-Jährigen beträgt in Europa zwischen 1 % und 3 % .</p> <h2>Leitsymptome und klinische Zeichen</h2> <p>Die Symptome lassen sich in zwei Gruppen einteilen; es wird zwischen glandulären und extraglandulären Symptomen unterschieden.<br /> Zu den glandulären Symptomen wird der folgende Symptomenkomplex gezählt:</p> <ul> <li>Das klassische symptomatische Bild des Sjögren-Syndroms stellt das sogenannte Sicca-Syndrom dar, das sich in trockenen Augen (Xerophthalmie) und trockenem Mund (Xerostomie) äußert.</li> <li>Darüber hinaus wird der Erkrankte aber auch durch die Trockenheit anderer Schleimhäute und Hautpartien beeinträchtigt. Hauptsächlich betroffen sind die Schleimhäute der Nase, der Luftröhre und des Bronchialsystems sowie die Schleimhäute im Genitalbereich.</li> <li>Auch kann lokal oder vielerorts am Körper eine Trockenheit der Haut aufgrund verminderter Drüsenfunktion auftreten. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen können sich in Heiserkeit, Hustenreiz und Sexualfunktionsstörungen widerspiegeln.</li> <li>Dieser generelle glanduläre Funktionsverlust tritt erst ab einer mehr als 50 % igen Schädigung des Drüsengewebes auf – ein ganz wesentlicher Faktor für die Entscheidung zur Therapie!</li> </ul> <p>Zu den extraglandulären Symptomen werden die folgenden gerechnet (Tab. 1):</p> <ul> <li>Als Allgemeinsymptome können übermäßige Müdigkeit und Leistungsverlust auftreten.</li> <li>Meist treten Schmerzen und Entzündungen in den Gelenken auf, Arthralgien und Arthritiden, die aber ohne Gelenkdestruktionen ablaufen.</li> <li>Zur Gruppe der extraglandulären Symptome gehört auch das Raynaud-Syndrom. In diese Symptomgruppe fällt auch eine spezielle Form der Lungenentzündung, die interstitielle Pneumonie. Es können sich auch eine interstitielle Nephritis und Vaskulitiden entwickeln. Meist bleiben Gefäßentzündungen auf die Gefäße der Haut beschränkt.</li> <li>Neurologisch können sich Polyneuropathien ausbilden, d.h., dass einzelne Nervenfasern ihre Funktion nicht mehr normal ausüben können und es dadurch zu Gefühlsstörungen und Lähmungserscheinungen, vornehmlich der Extremitäten, kommt.</li> <li>Mononeuritis multiplex</li> <li>Wenn Muskeln betroffen sind, können dort Myositiden oder Polymyositiden auftreten.</li> </ul> <h2>Diagnostik</h2> <p>Die Ultraschalluntersuchung der Speicheldrüsen und der Halsorgane (Lymphknoten) ist die Standarduntersuchung, um pathologische Strukturveränderungen zu detektieren (Abb. 1). Die Beurteilung der Speicheldrüsenfunktion erfolgt durch eine szintigrafische Untersuchung mit 99mTc- Pertechnetat (Tc = Technetium), einem gammastrahlenden Radionuklid mit einer Halbwertszeit von 6 Stunden. Wichtig für den behandelnden Arzt sollte auch immer die Beurteilung des Zahnzustands sein (Infektionsgefahr).<br /> Zur groben Orientierung über die Menge der Tränenflüssigkeit wird der Schirmer- Test verwendet. Hierfür wird mit einem Papierstreifen im Konjunktivalsack nach einer bestimmten Zeit das Durchfeuchtungsausmaß des Papierstreifens abgelesen. Außerdem sollten stets alle Lymphknoten untersucht und beobachtet werden, da die Ausbildung eines Non- Hodgkin-Lymphoms (fünffach erhöhtes Risiko) auf diese Weise frühzeitig erkannt und therapiert werden kann.<br /> Labortechnisch finden sich:</p> <ul> <li>eine deutlich erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit;</li> <li>eine breitbasige Hypergammaglobulinämie, ein erhöhter Rheumafaktor und pathognomonisch ein Rheumafaktor der Subklasse IgA;</li> <li>Autoantikörper gegen Epithelzellen der interlobulären Ausführungsgänge von Speicheldrüsen und solche gegen Zellkerne (ANA), extrahierbare nukleäre Antigene (Anti-Ro, Anti-La).</li> <li>Das serologische Vollbild bietet zusätzlich humorale Entzündungszeichen, z.B. CRP- und Serumamylase-Erhöhung, IgA-Rheumafaktoren und eine β2-Mikroglobulinerhöhung als Ausdruck der B-Zell-Aktivierung.</li> </ul> <h2>Differenzialdiagnosen</h2> <p>Eine Vielzahl von unterschiedlichen Erkrankungen kann ebenso Trockenheitsbeschwerden hervorrufen, ohne dass ein Sjögren-Syndrom vorliegt, beispielsweise Drüsenatrophie, Infektionen oder ein Diabetes mellitus. Auch verschiedene Medikamente können als Nebenwirkung Augen- und Mundtrockenheit hervorrufen, vor allem bestimmte Psychopharmaka. Ängste und Stress verstärken manchmal die Beschwerden von Trockenheit. Im Alter lässt die Produktion der exokrinen Drüsen aber auch generell nach.<br /> Täglich werden etwa 1 bis 1,5 Liter Speichel produziert. Unter dem Einfluss von Stress und bestimmten Medikamenten kann die Produktion auf ca. 500ml pro Tag absinken. Bei Patienten mit Sjögren- Syndrom sind es oftmals nicht mehr als 100ml Speichel pro Tag (Abb. 2). In der Nacht (Zeit der höchsten Aktivität der Autoimmunreaktion) sistiert die Speichelproduktion oft gänzlich.</p> <h2>Therapie</h2> <p>Die Behandlung des Sjögren-Syndroms hat vier Ziele: die Eindämmung der Entzündung, die Behandlung der Symptome, die Eindämmung und Reduktion der Drüsendestruktion und die Verhinderung von Sekundärkomplikationen.<br /> Grundsätzlich werden zuerst die Symptome behandelt. Die Therapie der glandulären Symptome soll einem Austrocknen der Augen, des Mundes und der anderen genannten Körperpartien vorbeugen. Weiters wird empfohlen, häufig kleine Schlückchen Wasser zu trinken (2 Liter pro Tag) und zuckerfreie Bonbons zu lutschen. Die trockene Haut sollte mit speziellen Feuchtigkeitslotionen eingerieben werden.</p> <p><strong>Behandlungspfad:</strong></p> <ul> <li>Bei Sicca-Symptomatik Flüssigkeitssubstitution nach Bedarf (Augentropfen, Augengel, Mundspray), Versuch mit Pilocarpin (Salagen<sup>®</sup> 5mg bis zu viermal täglich aufdosieren) und Bromhexin. Weiterhin gibt es NaCl-Sprays für die Nase.</li> <li>Regelmäßige Zahnarztkontrollen und Mundhygiene mit fluoridhaltiger Zahnpasta</li> <li>Bei exokriner Pankreasinsuffizienz Substitution von Pankreasenzymen (zu den Mahlzeiten)</li> <li>Bei Sialadenitis kurzfristiger Einsatz niedrig dosierter Steroide</li> <li>Bei Arthralgien/Myalgien NSAR, Hydroxychloroquin, bei chronischer Polyarthritis Methotrexat, ggf. in Kombination mit niedrig dosierten Steroiden</li> <li>Bei Vaskulitis Steroide plus Therapie laut Richtlinien</li> <li>Bei interstitieller Nephritis Azathioprin</li> <li>Bei Lungen- und ZNS-Manifestation initial hoch dosierte Steroide, Azathioprin und andere Immunsuppressiva</li> <li>Bei niedrigmalignem B-Zell-Non-Hodgkin- Lymphom „watch and wait“, bei Progression oder hochmalignen Lymphomen Chemotherapie und Bestrahlung</li> </ul> <p>Das Standard-Basistherapeutikum ist vor allem Chloroquin, und hier Quensyl<sup>®</sup> 200–400mg/Tag wegen seines guten Nebenwirkungsprofiles. In weiterer Folge, vor allem bei sekundärem Sjögren-Syndrom kommen beispielhaft Methotrexat, Azathioprin (Imurek<sup>®</sup>) und Cyclosporin A (Sandimmun<sup>®</sup>) zur Anwendung.<br /> Beim Vollbild eines Sjögren-Syndroms mit hoher entzündlicher Aktivität, deutlicher β2-Mikroglobulin-Erhöhung und auch Therapieversagen der konventionellen Therapien stellt die Gabe von 500mg Rituximab (MabThera<sup>®</sup>) alle 6 Monate eine mittlerweile etablierte Therapieoption dar. Diese Patienten profitieren vor allem bei den unspezifischen Symptomen wie Müdigkeit und Leistungsverlust mit einer Verbesserung um die 50 % (Tab. 2).</p> <h2>Komplikationen und Sekundärkrankheiten</h2> <p>Infolge des Sicca-Syndroms kommt es häufig zu sekundären Entzündungen, die lokal beschränkt bleiben können oder sich auch vielerorts ausbreiten. Die Prognose des Sjögren-Syndroms richtet sich in erster Linie nach den begleitenden Autoimmunerkrankungen. Beim systemischen Lupus erythematodes sind beispielsweise 30 % der Erkrankten nach zehn Jahren verstorben. Patienten mit progressiver Sklerodermie haben eine mittlere Lebenserwartung von nur sieben Jahren nach Diagnosestellung. Die Periarteriitis nodosa ist eine Krankheit mit unberechenbarer Prognose. Es kann zu schleichenden wie auch drastisch schnell voranschreitenden Krankheitsverläufen kommen. Die Polymyositis verläuft in Schüben und kommt meist nach fünf bis zehn Jahren zum Stillstand. Dennoch sind nach fünf Jahren 20 % der an Polymyositis leidenden Erkrankten verstorben. Darüber hinaus wird die Prognose beim Auftreten eines Lymphoms stark verschlechtert.</p> <h2>Erfahrungen aus dem Evangelischen Krankenhaus Wien</h2> <p>Aus dem Zeitraum 2006–2018 stehen nunmehr Erfahrungswerte aus einer Kohorte von 374 Patienten mit Sicca-Symptomatik zur Verfügung. 193 Patienten leiden an einer Sicca-Symptomatik verschiedenster Ursachen, bei 183 Patienten konnte entsprechend den aktuellen Richtlinien ein manifestes Sjögren-Syndrom diagnostiziert werden. Von diesen 183 Patienten mit Sjögren- Syndrom stehen derzeit 64 unter Rituximab- Therapie, 48 Patienten unter einer Chloroquin-Therapie, 8 Patienten unter einer i.v. Immunglobulin-Therapie, 15 Patienten mit begleitender Vaskulitis unter Azathioprin, 3 Patienten mit chronischer Polyarthritis unter TNF-α-Blocker- Therapie. 72 Patienten werden mit niedrig dosierten oralen Kortikosteroiden behandelt. Die übrigen Patienten teilen sich auf alternative Therapiemaßnahmen wie TCM mit Akupunktur, Kräutertherapie etc. auf.<br /> Bei 42 Patienten unter Rituximab stehen nunmehr Daten über 6 Jahre Therapie zur Verfügung, teilweise mit ausgezeichnetem Erfolg, vor allem bei den allgemeinen Symptomen.<br /> Grundsätzlich dienen nach eindeutiger Diagnosestellung eines Sjögren-Syndroms als Entscheidungshilfe für eine Therapieform folgende Punkte: eine hohe humorale Entzündungsaktivität, hochtitrige Autoantikörper Ro und La (im dreistelligen Bereich), hochtitriger IgA-Rheumafaktor, eine deutliche Erhöhung der Serumamylase und des β2-Mikroglobulins sowie ein positiver Ultraschall der Speicheldrüsen und ein positiver Schirmer-Test. Bei Patienten, die diese Kriterien erfüllten, zeigte sich sowohl mit Rituximab als auch mit Chloroquin ein signifikanter Behandlungserfolg.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Ortho_1803_Weblinks_ortho_1803_s54_tab1-3.jpg" alt="" width="1394" height="1714" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Ortho_1803_Weblinks_ortho_1803_s53_abb1+2.jpg" alt="" width="2150" height="1217" /></p></p>
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