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Ein Lösungsansatz aus der Klinik

Wie das LKH Villach der Polypharmazie entgegenwirkt

Wenn die zahlenmäßig starke Generation der Babyboomer zu „Gerontoboomern“ wird, sind medizinische, gesundheitspolitische und gesellschaftliche Folgen zu erwarten. Besonders herausfordernd dürfte die Multimorbidität bei älteren psychiatrischen Patient*innen werden − und mit ihr die Polypharmazie. Wie man erfolgreiche Strategien dagegen implementieren kann, zeigt das LKH Villach seit mittlerweile 10 Jahren vor.

Keypoints

  • In den nächsten Jahrzehnten wird es zu einer deutlichen Zunahme der Zahl psychisch kranker älterer Menschen kommen.

  • Ältere psychiatrische Patient*innen haben ein besonders hohes Risiko für Multimorbidität und Polypharmazie.

  • Im LKH Villach kommt wöchentlich ein interdisziplinäres Gremium zusammen, um Polypharmaziefälle zu analysieren und Behandlungsempfehlungen auszusprechen.

  • Das „Polypharmazie-Board“ erbringt seit 10 Jahren einen medizinischen und nachhaltigen medizinökonomischen Nutzen.

Aufgrund der demografischen Entwicklung wird es in den nächsten Jahrzehnten zu einer deutlichen Zunahme der Zahl psychisch kranker älterer Menschen kommen. Dies umfasst sowohl Patient*innen, die schon länger an psychiatrischen Krankheiten leiden, als auch solche, die im Alter neu erkranken. Eine besondere Herausforderung wird dabei die wachsende Gruppe der Demenzkranken darstellen. Laut dem Österreichischen Demenzbericht wird im Jahr 2050 mit 262200 Demenzkranken zu rechnen sein. Im Gegensatz dazu sinkt in der Bevölkerung die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter.1 Dies wird zu enormen Herausforderungen für das Gesundheitssystem führen.

Demenz & Co: Multimorbidität im Alter

Eine vermehrte Zahl von Patient*innen mit höhergradiger Demenz bedeutet zugleich die Zunahme des Auftretens von Verhaltensstörungen wie Apathie, Agitation, Herumirren oder Nahrungsverweigerung. Außerdem kommt es bei Demenzkranken häufig zur verstärkten Bildung von psychiatrischen Symptomen wie Depressivität, Angst, Suizidalität, Wahnbildung oder Halluzination. Laut einer 2008 veröffentlichten Untersuchung sind genau das die häufigsten Gründe für die Einweisung in eine gerontopsychiatrische Klinik.2 Zukünftig können diese Herausforderungen vermutlich nur durch die Verstärkung der psychiatrischen, psychologischen, psychotherapeutischen und pflegerischen Versorgung der demenzkranken Bevölkerung an ihrem Wohn- und Lebensort überwunden werden, zumal Hospitalisierungen gerade für Demenzkranke oft schwierig zu bewältigen sind und nur eine kurzfristige Lösung der Probleme darstellen.

Die erhöhte Morbidität psychisch Kranker für kardiovaskuläre Ereignisse ist ebenso wie deren erhöhte Morbidität für Stoffwechselerkrankungen bereits seit Langem bekannt und bestens dokumentiert. Dazu kommen lebensstilassoziierte Faktoren (z.B. Ernährung, Rauchen) sowie die unerwünschten Wirkungen von Langzeitmedikationen, die das Morbiditäts-, aber auch das Mortalitätsrisiko psychisch Kranker ebenfalls erhöhen können. Da die ältere Bevölkerung generell häufig unter Mehrfacherkrankungen leidet, resultiert daraus ein besonders hohes Risiko für Multimorbidität bei älteren psychiatrischen Patient*innen.

Als Folge der evidenzbasierten und leitliniengesteuerten Medizin ist vor allem für multimorbide und ältere Patienten das Risiko für Polypharmazie besonders hoch. Laut WHO-Definition wird darunter die Einnahme von fünf oder mehr Arzneistoffen verstanden. In der Praxis ist die Summe der eingesetzten pharmakologischen Wirkstoffe vor allem bei über 65-jährigen Patienten häufig deutlich höher.3 Dabei ist gut belegt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Krankenhauseinweisungen aufgrund unerwünschter Arzneimittelwirkungen erfolgt, die teilweise dramatische gesundheitliche Folgen nach sich ziehen können und prinzipiell in den meisten Fällen vermeidbar wären.4

Polypharmazie-Board im LKH Villach

Im Landeskrankenhaus Villach wurde auf Initiative einiger Ärzt*innen unterschiedlicher Fachrichtungen in Zusammenarbeit mit der klinischen Pharmazie ein Modell zur Eindämmung von Polypharmazie entwickelt, das sich mittlerweile seit fast 10 Jahren in der Praxis bewährt und neben dem medizinischen auch einen nachhaltigen medizinökonomischen Nutzen erbringen kann. Bemerkenswert an diesem Lösungsansatz ist dessen Entwicklung unmittelbar aus den praktisch-klinischen Bedürfnissen der beteiligten Abteilungen einschließlich der Einschränkungen, die sich aus den begrenzten Ressourcen und im Rahmen der Möglichkeiten eines laufenden Klinikbetriebs ergeben.

Kriterien für eine Zuweisung an das „Polypharmazie-Board“ sind Multimorbidität, Einnahme von mehr als 8 Arzneistoffen täglich bzw. Spezialfälle mit schwierigen Medikamentenkombinationen. Es hat sich gezeigt, dass 15 und mehr Wirkstoffe bei älteren Patient*innen keine Seltenheit sind, wobei es mit zunehmendem Alter zu einem Anstieg der Medikamentenanzahl kommt.5 Einmal pro Woche trifft sich ein interdisziplinäres Gremium, bestehend aus jeweils einem*r Vertreter*in der klinischen Pharmazie, Neurologie, Psychiatrie und inneren Medizin, zum interdisziplinären Diskurs über die im Voraus angemeldeten Patient*innenfälle. Die Unterlagen dafür werden von den klinischen Pharmazeut*innen anhand der Krankenakten für die Diskussion vorbereitet. Das Endergebnis ist eine schriftliche Empfehlung an die behandelnde ärztliche Fachperson, der die Entscheidung über deren Umsetzung obliegt.

Anhand einer retrospektiven Auswertung der ersten Daten ergab sich überraschenderweise, dass sich die Arzneimittelinteraktionen, auf welche in der Polypharmaziediskussion meist primär fokussiert wird, erst an fünfter Stelle der analysierten Probleme fanden. Der häufigste Interventionsbedarf betraf unzutreffende, ungeeignete oder fehlende Indikationen von Arzneimitteln (Abb.1). Davon waren am häufigsten Protonenpumpenhemmer betroffen, gefolgt von Antikoagulanzien. Auch Psychopharmaka (v.a. Antidepressiva), wurden wiederholt ohne nachvollziehbare Indikation teilweise über lange Zeiträume weiterverordnet. Andere Empfehlungen des Boards betrafen fehlerhafte Dosierungen oder Einnahmezeiten. Auch Doppelverordnungen von Wirkstoffen unter verschiedenen Produktnamen bei Generika kamen als Fehlerquelle vereinzelt vor.5

Abb. 1: Interventionsgründe am Polypharmazie-Board des LKH Villach. AM: Arzneimittel, NI: Niereninsuffizienz, TDM: therapeutic drug monitoring, UAW: unerwünschte Arzneimittelwirkung (modifiziert nach Grafenauer P et al., 2016)5

Die Besonderheit des Modells eines Polypharmazie-Boards, das mittlerweile in die Regelversorgung übernommen und auf andere Kärntner Krankenhäuser ausgeweitet wurde, besteht im interdisziplinären Diskurs und in einer fächerübergreifenden gemeinsamen Risiken-Nutzen-Analyse. Das Polypharmazie-Board soll zukünftig auch auf den extramuralen Bereich ausgeweitet werden. Einzelne Beratungen wurden bereits durchgeführt. Ein breiterer Einsatz stößt derzeit noch auf organisatorische Schwierigkeiten.

Zusammenfassend

Generell gilt für die ältere Bevölkerung im besonderen Maße der Grundsatz „ambulant vor stationär“ − ist die Umgebung eines Krankenhauses doch für ältere Menschen mit zahlreichen ungünstigen Einflüssen verbunden. Oft ist die räumliche Orientierung schwierig, die Kommunikation verwirrend, Abläufe bleiben für die Patient*innen unklar. Wartezeiten, wechselndes Personal, ungewohnte Essens- und Schlafenszeiten oder schlechte Lichtverhältnisse tun ein Übriges, um ältere Menschen, und hier vor allem psychisch Erkrankte und/oder kognitiv Eingeschränkte, zu irritieren. Das begünstigt problematische Situationen, die zu Ängsten, Orientierungsstörungen und Rückzug, aber auch zu aggressiven Reaktionen führen können.

Erfreulicherweise gibt es mittlerweile Vorschläge für architektonische Lösungen sowie zahlreiche Ansätze und Konzepte für demenzsensible bzw. demenzfreundliche Krankenhäuser.6,7 Die demenzsensible Gestaltung der Umgebung und die Abstimmung der Kommunikationsprozesse und Abläufe auf die Bedürfnisse älterer Menschen fördern eine institutionelle Kultur der Rücksichtnahme und der Orientierung an den Bedürfnissen der Patient*innen, was letzten Endes allen Patient*innen und auch den Mitarbeiter*innen zugute kommt.

10. Alterspsychiatrische Tagung der ÖGAPP, 24.Juni 2022, Wien

1 Höfler S et al. (Hg.): Österreichischer Demenzbericht 2014. Wien: Bundesministerium für Gesundheit und Sozialministerium 2015, https://goeg.at/sites/goeg.at/ files/ 2017-06/oesterreichischer_demenzbericht_2014.pdf 2 Wetterling et al.: Nervenarzt 2008; 79(3): 340-7 3 Quato DM et al.: JAMA 2008; 300(24): 2867-78 4 Pirmohamed M et al.: BMJ 2004; 329: 15-9 5 Grafenauer P et al.: Psychopraxis Neuropraxis 2016; 19: 4-8 6 Rohe T et al.: Nervenarzt 2017; 88: 70-7 7 Horneber M et al. (Hg.): Das demenzsensible Krankenhaus. Stuttgart: Kohlhammer, 2019

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